28. Kapitel
Cass saß bereits geschlagene zwei Stunden an der Bar, obwohl diese eigentlich schon seit zwei Stunden geschlossen war und der Barkeeper keine Getränke mehr ausgab. Aber sie hatte auch eigentlich keinen richtigen Durst.
Sie war heute den ganzen Tag allein gewesen und hatte mehr als genug Zeit zum Nachdenken gefunden. Immer wieder wägte sie das Für und Wieder einer Beziehung mit Alexej ab. Jedes Mal kam sie zu einem anderen Entschluss. Einfach zum verrückt werden.
»Cassandra?« Josi war wieder da. Noch ein Punkt, den sie nicht mit eingerechnet hatte. Wenn sie wirklich eine Beziehung mit Alexej eingehen würde, wäre sie irgendwann mit Josh verwandt. Entfernt. Dieses kleine Mädchen war unsterblich in Erik verliebt, und würde sich von niemandem vorschreiben lassen, dass sie ihn nicht mehr treffen dürfte.
Cass drehte sich zu der kleinen schwarzhaarigen um und musterte sie unauffällig. Anscheinend hatte sie schon geschlafen, da sie über ihrem Pyjama nur einen von Alexejs dicken Pullovern gezogen hatte.
Sie war am späten Abend ins Hotel gekommen, um mit ihrem Vater zu reden, der allerdings schon den ganzen Tag unterwegs gewesen war. Also hatte sie es sich bequem gemacht.
»Wie kann ich dir helfen?«
»Hast du eine Ahnung, wo mein Vater sein könnte?«
»Nein. Tut mir leid. Hast du es schon auf seinem Handy versucht?« Josi nickte.
»Er hat es ausgeschaltet.« Sie setzte sich neben Cass, lehnte allerdings ihren Rücken gegen die Bar. Die rothaarige Wölfin tat es ihr gleich und drehte sich ebenfalls um. So konnten sie zeitgleich einen taumelnden Alex den Hoteleingang passieren sehen.
»Daddy?« Er sah überrascht auf und verzog gleich darauf sein Gesicht zu einer gequälten Grimmasse. Beide Frauen liefen rasch zu ihm und stützten ihn an beiden Seiten, damit er nicht der Nase lang auf dem harten Boden des Hoteleingangs landete.
»Was ist denn passiert?« Er sah keine von beiden an, als er erwiderte: »Kreislauf. Mir gehts gut. Wirklich.« Das war eine astreine Lüge. Aber gut. Wenn er es nicht erzählen wollte, war das nicht ihr Problem.
»Komm. Wir schaffen ihn hoch in sein Bett.«
»Ich bin anwesend und kann sehr gut allein gehen. Ich bin nur etwas erschöpft.« Er versuchte, ohne ein Taumeln zum Fahrstuhl zu kommen, aber ganz so kraftvoll und selbstsicher wie sonst sah es nicht aus. Was konnte da passiert sein? War er einem Dämon begegnet? Oder hatte er sich mit jemand anderem angelegt?
Gemeinsam und ohne ein Wort zu wechseln fuhren sie nach oben und liefen dann langsam zu Alexejs Zimmer. Josi hatte ebenfalls eine Schlüsselkarte und zückte diese schneller, als Alex reagieren konnte.
»Schlaf gut und ruh dich aus.« Cass lächelte ihn liebevoll an. An Josi gewandt sagte sie: »Kümmer dich gut um ihn. Nicht das ich morgen früh Beschwerden höre.« Josi grinste ebenfalls und zwinkerte verschwörerisch.
»Keine Sorge. Ich werd das Kind schon schaukeln.« Damit schloss sie hinter sich und Alex die Tür. Die Kleine war ihr wirklich sympathisch. Da hatte Erik einen guten Fang gemacht.
Cassandra lief das kleine Stück bis zu ihrem Zimmer und zückte ebenfalls ihre Schlüsselkarte. Sie war schon viel länger hier im Hotel, als ihr lieb war. Morgen würde sie sich um eine eigene Wohnung kümmern und dann bei William nachfragen, wie weit die Scheidung vorangekommen war.
Nachdem sie das Zimmer betreten hatte, bemerkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Was Josh etwa schon wieder so dreist und lebensmüde, ohne ihre Erlaubnis das Zimmer zu betreten?
Sie nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und drehte sich dorthin, nur um im nächsten Moment Derek gegenüberzustehen. Dieser sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie konnte förmlich die Verwirrtheit und den Hass darin lesen. Er hatte seinen Verstand verloren.
»Dieses Mal warte ich nicht wieder auf meine Rache. Einmal zu oft konntest du durch mein Zögern entkommen.« Er fletschte die Zähne. »Du hast alles kaputtgemacht. Du bist an allem Schuld.« Damit stieß er ihr einen silbernen Dolch in den Bauch. Er glitt förmlich ohne jeden Widerstand in sie.
Ungläubig starrte sie auf den filigran gearbeiteten Dolch in ihrem Magen. Blut rann an ihm herunter und durchtränkte ihren Pullover. Derek zog ihn wieder heraus und stach noch einmal zu. Dieses Mal in die Brust. Genau ins Herz.
Beim ersten Stich hatte sie laut geschrien, nun sank sie auf die Knie. Sie sah zu Derek auf, der sie wie ein Geisteskranker ansah.
»Das ist deine Strafe! Du bist selbst schuld!« Als sie auf den Rücken fiel und die Augen schloss, verabschiedete sie sich von der Welt. Vor ihrem inneren Auge erschien Josh. Bei ihrer ersten Begegnung. Dann saß sie ihm im Restaurant gegenüber, nachdem sie im Theater gewesen waren. Und darauf folgte die Erinnerung im Fitnesscenter. Ihre Hochzeit. Die Geburt ihrer kleinen Tochter. In jedem seiner Blicke lag eine tiefe Liebe.
Wie konnte sie das alles vergessen? Ihr Körper wurde langsam taub und die Pfütze unter ihr fühlte sich unheimlich warm an. Kampfgeräusche drangen in ihr Bewusstsein, aber sie konnte die Augen nicht öffnen. Sie waren so schwer wie Blei. Wieder tauchte Josh in ihren Gedanken auf. Wie er ihren Körper streichelte, küsste und mit seinen Zähnen zwickte. Josh sah sie verträumt an.
»Bleib bei mir«, bat er. Aber das war nicht seine Stimme.
»Es ist zu spät. Sie ist Tod.« Tod? Redeten diese Leute über sie? War sie Tod? Warum war ihr dann so warm, als sie in Joshs Augen sah? Josh. Sie driftete ins schwarz. Josh verschwand. Dann berührte etwas Eisiges ihre Lippen.
Es rann in ihren Mund und von dort in ihre Kehle. Es schmeckte widerlich. Sie wollte husten und würgen, doch ihr Körper war nicht mehr unter ihrer Kontrolle.
»Komm schon! Trink es!«
»Du vergeudest nur deine Kraft und mein Blut. Sie ist Tod. Es ist zu spät.« Ihr ganzer Körper wurde eiskalt und dann explodierte eine ungeheure Hitze in ihr. Sie füllte ihre Lungen mit frischer Luft. Hatte sie aufgehört zu atmen? Sie wurde hochgerissen und jemand zog sie in seine Arme.
»Josh?« War das ihre Stimme? Sie klang wie ein rostiges Reibeisen. Die Arme, die ihr Trost spendeten, versteiften sich, wurden dann locker und ließen sie schließlich los.
»Ich bin es. Alexej.« Er klang enttäuscht.
»Was war das für ein Zeug, das du mir eingeflößt hast? Ich fühl mich wie Superman.« Cass setzte sich im Bett auf und betrachtete den Verband, der ihren Oberkörper bedeckte. Die Bauchwunde war nicht sonderlich schwer gewesen, sodass sie nur eine Kompresse und etwas Pflaster dafür benötigt hatten.
»Es ist von Josi. Sie ist eine Heilerin.« Die Kleine steckte wirklich voller Überraschungen. Durch den relativ hohen Blutverlust hatte sie kurzzeitig das Bewusstsein verloren. Diese kurze Zeitspanne hatten Vater und Tochter dahingehend genutzt, sie zu verarzten und ins Bett zu legen.
»Alex. Ich muss mit dir reden.« Er schien zu wissen, worum es ging, und ließ sich neben ihrem Bett auf einen Stuhl sinken. »Ich mag dich wirklich gern, aber als ich gestorben bin, ist mir klar geworden, dass ich Josh noch immer liebe.« Alex verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust und lehnte sich an.
»Er wird dir nicht treu sein. Er bricht dir immer wieder das Herz. Willst du dir das wirklich antun?« Sie stieß die angehaltene Luft aus.
»Ich glaube, es war zum Teil auch meine Schuld.« Diese Eröffnung brachte ihn aus der Fassung. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie wütend.
»Bist du noch ganz dicht? Er betrügt dich und du gibst dir die Schuld daran?« Sie kniff vor Schmerz ihre Augen zusammen und stöhnte gequält auf. Erst jetzt dachte er wieder an ihre Wunden. »Es tut mir leid! Ich wollte dir nicht weh tun.« Ihr schmales Gesicht war etwas blasser geworden und auf ihrer Stirn sammelten sich kleine Schweißperlen.
»Schon gut.« Dann sah sie ihn mit ihren grünen funkelnden Augen an. »Wir hatten schon einige Monate vor der Geburt nicht mehr ... Und er braucht einen Erben. Verstehst du?« Alex atmete tief ein und wieder aus, bevor er ihre Hand in seine nahm.
»Nimm mich.« Ihre Augen wurden groß und sie wollte ihre Hand zurückziehen. Aber er hielt sie fest. »Ich könnte dich glücklich machen. Mich stört es nicht, wenn du keine Kinder bekommen kannst. Ich hab bereits drei Söhne und eine Tochter.« Auf diese Ausführung war sie nicht gefasst, genau so wenig wie auf das Angebot seine Frau zu werden. Ihre Blässe verschwand hinter einer tiefen Röte, die sie wie eine Tomate leuchten ließ.
»Alex, bitte versteh mich nicht falsch, aber ich hab in dir immer mehr einen Freund ... nein, eher einen Bruder gesehen, als einen potenziellen Ehemann.« Sein Blick wurde traurig. Dann stand er ruckartig auf und lief im Zimmer auf und ab.
»Du bist dumm, wenn du ihn zurücknimmst. Er wird dich immer wieder betrügen. Er kann nicht treu sein.« Als er am Fußende des Bettes stehen blieb und ihr wieder ins Gesicht sah, lächelte sie.
»Ich mach dir einen Vorschlag. Wenn er mich wieder betrügen sollte, komme ich zu dir nach Russland.« Jetzt war er sprachlos. Er schluckte einmal, dann noch einmal.
»Wirklich? Du heiratest mich?« Ihr Lächeln wurde etwas wackelig.
»Ich komme als Freundin zu dir nach Russland. Mehr kann ich dir nicht versprechen.«
Am nächsten Morgen fühlte sich Cass viel besser. Der Schlaf und vor allem dieses komische Zeug von Josi hatten sie regelrecht belebt. Und trotzdem war ihr nicht wie feiern zumute. Jetzt stand Cass am Beckenrand und sah auf das Wasser. Sie war fest entschlossen, Josh noch eine Chance zu geben. Auch wenn sie immer noch tief enttäuscht von ihm war.
Da stand auf einmal Josi neben ihr und sagte im schneidenden Ton: »Weißt du eigentlich, dass du meinem Dad das Herz brichst?« Cass atmete hörbar aus.
»Josi. Ich hab ihm nie irgendwelche Hoffnungen gemacht. Wir sind nur Freunde.« Unerwartet spürte sie eine Hand am Rücken und wurde im nächsten Moment ins Wasser geschubst.
So. Die Kleine wollte also spielen. Das konnte sie haben. Als sie wieder auftauchte, packte sie Josis Knöchel und zog sie mit ins Wasser. Nach einer kleinen Rauferei schwammen sie zum Rand und sahen sich an.
»Ich dachte immer, Wölfe hassen Wasser.« Cassandra grinste.
»Dann dachtest du falsch.« Plötzlich betrat Alex den Raum. Als er die beiden im Wasser sah, ging er zum Beckenrand und sagte: »Bist du ins Wasser gefallen? Zum Glück kann Josi so gut schwimmen.« Cass und Josi sahen sich an. Dann lachten sie.
»Wie gut bist du denn?« Josi grinste.
»Ich bin eher eine Taucherin als Schwimmerin.« Cass sah sie herausfordernd an.
»Ein kleines Wettschwimmen?« Als Josi nickte, stieß sich Cassandra vom Rand ab und sie schwammen von der einen Seite auf die andere. Alex staunte sichtlich.
Schließlich kamen sie wieder zum Rand, wo Alex schon mit zwei Handtüchern bereitstand, die er aus einem der Fächer für die Badegäste genommen hatte.
»Du bist wirklich kein normaler Wolf.« Cass lächelte dümmlich.
»Das hab ich auch nie behauptet«. Dann zuckte sie zusammen. Ihre Brust feuerte auf einmal, als hätte man Salz hinein gestreut. »Ich hab es wohl gleich übertrieben.«
»Tut deine Wunde sehr weh?« Josi schwamm etwas näher zu ihr und Cass konnte keinen Funken Ärger mehr in ihrem Gesicht sehen. Nur Sorge.
»Geht schon. Ich werd wohl eine Weile auf mein Schwimmtraining verzichten müssen.« Sie versuchte sich am Rand nach oben zu drücken, verzerrte aber schmerzhaft das Gesicht. Alex packte ihre Hände und zog sie mühelos aus dem Wasser. Auf dem Shirt breitete sich ein neuer Blutfleck aus. Sie musste sich sowieso umziehen.
»Cass! Deine Wunde ist wieder aufgebrochen.« Josi stützte sie, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Wie war die Kleine eigentlich so schnell aus dem Wasser gekommen?
»Tut mir leid. Das wollte ich nicht.« Cassandra lächelte das Mädchen nachsichtig an. Sie liebte ihren Vater und würde alles für ihn tun. Egal wie sehr sie sich stritten und wie laut es wurde.
»Ist nicht schlimm. Ich brauch nur einen neuen Verband.« Alex zwang sie, ihn wieder anzusehen.
»Soll das heißen, die Wunde blutet schon die ganze Zeit?«
»Alex! Das ist meine Sache.«
»Sie dürfte schon lange nicht mehr bluten. Irgendwas stimmt nicht.« Cass verdrehte die Augen.
»Ich hatte einen Silberdolch im Herz. Natürlich braucht das etwas Zeit, um wieder komplett zu verheilen. Außerdem hat es seit gestern Abend nicht mehr geblutet. Das war nur die Anstrengung.« Josi wurde blass. »Das war nicht deine Schuld. Ich hab dich zum Wettschwimmen herausgefordert. Man merkt wirklich, dass ihr eine Familie seid.«
Das Blut rann ihre Brust hinunter und durchtränkte ihr nasses Shirt. »Ich geh dann mal auf mein Zimmer, bevor ich hier alles voll blute.« Alex machte Anstalten mitzukommen.
»Bring lieber deine Tochter in ein Zimmer und gib ihr was Trockenes zum Anziehen.« Da sich die beiden keinen Zentimeter rührten, setzte sie sich zuerst in Bewegung und ging zum Fahrstuhl. Jetzt bewegten sie sich auch endlich und kamen ihr nach, um gemeinsam nach oben zu fahren.
Cassandra hatte sich bereits geduscht und frische Hosen angezogen, als plötzlich die Tür aufging und Alex im Raum stand.
»Soll ich dir bei dem Verband helfen?«
»Alex! Ich hab nicht gerade viel an.« Er winkte lässig ab.
»Ach bitte. Ich hab dich schon nach dem Angriff oben ohne gesehen. Kein Grund zur Panik.« Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Spanner.« Aber er grinste nur. Er nahm ungefragt das Ende des Verbands in die Hand und verknotete es.
»Josi hat mir gesagt, was sie getan hat. Es tut mir leid.« Cass zog sich ein frisches Shirt über.
»Ich versteh sie ja. Ich hätte ehrlich gesagt das Gleiche getan. Du bist ihr Vater und bedeutest ihr viel.«
»Nicht genug. Sie will bei diesem Erik bleiben.« Cass lächelte ihn an.
»Erik ist wirklich nett und lieb. Du brauchst dir da keine Sorgen machen.« Er schnaufte abfällig.
»Er ist Joshs Bruder.«
»Und? Sylvester ist auch ganz anders als Josh. Das sagt überhaupt nichts über Erik aus.« Alex seufzte ergeben. Irgendwann würde er seinen neuen Schwiegersohn schon akzeptieren. Spätestens, wenn das erste Enkel da war.
»Können wir dann los?« Cass nickte und sah sich noch einmal in ihrem Hotelzimmer um, dass sie die letzten Tage und Wochen bewohnt hatte. In dem sie erstochen wurde.