22. Kapitel

 

 

Der Assassine erstarrte. Mit scheinbar unbeugsamer Ruhe, die er keineswegs innehatte, drehte er sich um und sah die rothaarige Frau abschätzend an. Was wusste sie?

»Was willst du damit sagen?« Cassandra lächelte eiskalt, was ihre warme Schönheit lügen strafte.

»Ich weiß, dass du eine Frau bist. Aber ich weiß nicht, warum du dich als Mann ausgibst.« Gut. Sie wusste es also. Jetzt hatte er zwei Möglichkeiten: sie umbringen oder Joel alles gestehen, bevor sie die Gelegenheit dazubekam, ihm alles zu verraten. Aber noch wichtiger war, wie sie es herausgefunden hatte.

Bis auf seine langen Haare, die er unter seinem Mantel und der Kapuze verbarg, hatte er nichts Weibliches an sich. Seine Brüste band er mit mehreren Mullbinden ab und er trug sogar männliche Unterwäsche. Er dachte sogar schon von sich selbst als Mann! Wie hatte sie es also herausfinden können?

»Wie habe ich mich verraten?« Cassandras Lächeln wurde etwas weicher und etwas in ihm entspannte sich. Es war, als hätte sie einen unsichtbaren Schalter umgelegt.

»Ich habe da so ein Gespür. Außerdem hat kein Mann solche Wimpern.« Sie holte den Verbandskasten unter dem Beifahrersitz hervor und packte eine Kompresse und mehrere Mullbinden aus. Sie hatte wirklich vor, ihn zu verbinden. »Also erzähl mal. Wie kommt es, dass du für Joel arbeitest?« Sie schien ihm nichts Böses zu wollen, aber er kannte sie einfach zu wenig, um ihr alles zu sagen.

Er fuhr mit dem Arm aus dem Pullover und schlug den Mantel zurück, sodass sie an seine Wunde kam. Sie tat nicht sonderlich weh, was allerdings nicht bedeuten musste, dass sie nicht gefährlich war. Als Dorothea, Joels Ärztin, vor ein paar Jahrzehnten neu zu den Raben dazugestoßen war, hatte Amam eine schlimme Entzündung im Oberschenkel gehabt.

Zuerst hatte er es einfach nicht beachtet, aber mit der Zeit nahmen die Schmerzen zu, bis er sich kaum noch auf seine Arbeit konzentrieren konnte. In seinem Zimmer war er irgendwann eingeschlafen, und als er wieder erwachte, war sein Bein mit Kräuterkompressen versorgt und Dorothea schimpfte ihn wegen seiner Halsstarrigkeit aus. Sie hatte kein Wort über seine weibliche Seite verloren und er war ihr sehr dankbar dafür.

»Ich habe den Auftrag, ihn zu beschützen.« Mit meinem Leben, falls das nötig ist. Cassandra nickte nur und wischte mit einer Kompresse etwas von dem Blut weg. Die Wunde hatte sich an den Rändern schon wieder geschlossen und würde innerhalb der nächsten Stunden komplett verheilt sein.

Sein Stoffwechsel war besser als der, der anderen Mythengeschöpfe. Selbst Wölfe benötigten nach einer Verletzung mindestens zwei oder drei Tage, bis die Wunde wieder komplett verheilt war. Wenn es eine schwere Verletzung war, sogar noch länger.

»Wie lange passt du schon auf ihn auf?« Sie sah konzentriert auf seine Schulter, während sie den Verband anlegte. Ihre Finger waren kühl, aber sehr sanft und darauf bedacht, ihm keine weiteren Schmerzen zuzufügen.

»Ein paar Jahrhunderte.« Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an. Dann entspannte sie sich wieder und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich vergesse immer wieder so schnell, dass wir unsterblich sind.« Sie war also noch jung. Aber die Unsterblichkeit musste sie schon erreicht haben, sonst hätte sie bei dem Kampf ganz anders reagiert. Allerdings fehlte ihr der typische Geruch eines Wolfes. Diese Frau war ein wandelndes Rätsel.

Zuerst hatte er gedacht, eine leichte Marke zu erkennen, aber die kam von diesem Alexej, den sie begleitet hatte. Cassandra schien überhaupt keine Marke zu besitzen. Ein seltsames Wesen.

»Zu welcher Sorte gehörst du?« Cassandra sah ihn fragend an, und als er nicht antwortete, zog sie die Augenbrauen hoch. »Entschuldige. War das diskriminierend? Ich bin noch nicht so lange ... involviert.« Er lachte herzlich. Es war erfrischend, einen kleinen Neuling kennenzulernen, der noch nicht so abgestumpft war, wie die anderen. Er selbst war auch mal so gewesen, wobei er seine Neugier hinter gespielter Langeweile versteckt hatte.

»Nein, nein. Kein Problem. Ich bin ich. Wahrscheinlich einzigartig.« Sie sah ihn verwirrt an und ihre Stirn runzelte sich immer mehr. Wenn sie so weiter machte, würde sie bald viele Falten bekommen.

»Wie meinst du das?« Er sollte es eigentlich nicht verraten, aber etwas an ihrer Art ließ ihn einfach die Worte aussprechen. Er hätte sie nicht in tausend Jahren zurückhalten können.

»Gott selbst hat mich unsterblich gemacht.« Zu seiner grenzenlosen Überraschung war sie nicht sonderlich verwundert.

»Das hat er bei einer Freundin auch, aber sie ist trotzdem ein Wolf.« Das konnte er sich nicht erklären. Aber wer war er schon, Gottes Wille in Frage zu stellen? Also zuckte er nur mit den Schultern. Diese Bewegung war schmerzhafter, als erwartet. »Ist er einfach so erschienen und hat gesagt jetzt bist du unsterblich oder musstest du etwas dafür tun?«

Sterben, dachte er. »Bitte erzähl es mir. Ich komme um vor Neugier.« Sein Blick wanderte durch die abgedunkelte Scheibe zu Joel. »Keine Sorge. Ich verrate nichts. Versprochen.« Ohne sie anzusehen, begann er seine Geschichte zu erzählen.

»Ich stamme aus einer alten Assassinen-Familie. Ich war das einzige Mädchen unter drei Brüdern und wurde zusammen mit ihnen von meinem Vater unterrichtet. Wir waren gefürchtet. Diese Furcht ging so weit, dass man uns eine Falle stellte, in deren Verlauf meine ganze Familie ausgelöscht wurde.« Er machte eine kurze Pause und sah Cassandra dann direkt in die Augen. »Ich lag damals auch im Sterben. Diese räudigen Aasgeier haben uns einfach abschlachten lassen, ohne dass wir auch nur eine Möglichkeit zur Gegenwehr gehabt hätten. Dann tauchte Gott auf und schlug mir einen Deal vor. Wenn ich mich Joel anschließen würde, könnte er mir ewiges Leben schenken. Natürlich hab ich angenommen.« Von dem kleinen Haken, die die Abmachung hatte, erzählte er der Rothaarigen nichts.

»Und warum verkleidest du dich als Mann?« Er verdrehte die Augen.

»Glaubst du, mich hätte damals jemand als Leibwächter aufgenommen, wenn ich mich als Frau gezeigt hätte? Die hätten mich ausgelacht und davon gejagt.« Cassandra zog den Verband straff und er zuckte kurz zusammen.

»Tut mir leid. Ich wollte dir nicht weh tun.« Er winkte ab.

»Keine Sorge. Ich hab schon Schlimmeres durchgestanden.« Cassandra sah ihn betrübt an.

»Warst du immer allein? Hattest du niemanden, mit dem du sprechen konntest?« Amam lächelte schief. Die Kleine war wirklich süß und ihre Besorgnis ernst gemeint.

»Dorothea, Joels Ärztin und Hauswirtschafterin, ist in mein Geheimnis eingeweiht. Sonst hätte ich es nie so lange geschafft, als Mann durchzugehen.« Er fuhr mit dem Arm wieder in den Pullover und zupfte den Mantel zurecht.

»Wie ist eigentlich dein richtiger Name?« Das war etwas, dass er noch nicht einmal Dorothea erzählt hatte. Früher galten Namen als etwas Mächtiges, mit denen man jemanden binden oder verzaubern konnte. Heutzutage waren Namen nichts mehr, weil nur noch wenige die alte Magie der Götter besaßen.

»Shirin.« Cassandra lächelte.

»Ein hübscher Name.« Sie blickte an ihm vorbei und deutete dann auf das Fenster. »Erik und Josi sind zurück. Wir sollten wieder zu den anderen gehen.« Oh ja. Diese kleine Hexe würde er nicht unbeaufsichtigt in die Nähe von Joel lassen.

Ihre haarsträubende Machtdemonstration, die Amam nur hilflos hatte zusehen lassen können, wie Joel bedroht wurde, war gruselig gewesen. Am liebsten hätte er sich Joel geschnappt und ihn in seinem Zimmer eingesperrt. Aber das würde nicht funktionieren. Dafür war der Rabe einfach zu freiheitsliebend. Und wahrscheinlich zu intelligent, zumindest, solange keine hübsche Frau im Raum war.

 

Josi klammerte sich an Erik und gemeinsam gingen sie auf ihren Vater zu, der grimmig von einem zum anderen sah. Er schien nicht sehr begeistert zu sein, seine Tochter mit einem Mann zusammen vorgefunden zu haben. Cass war nicht zu sehen. Was machte sie bei Josis Vater? Und warum hatte sie mit ihnen zusammen gekämpft?

Plötzlich stellte sich ihnen Joel in den Weg und sie waren gezwungen, stehen zu bleiben. Hatte er noch nichts aus dem vorherigen Kampf mit ihr gelernt? Erik selbst hatte keine Lust auf den zweiten Teil. Wobei Fortsetzungen ja meistens nie an den ersten Teil herankamen.

»Josephine. Ich würde gern mit dir reden. Bitte.« Er spürte, wie ihr Griff um seinen Arm fester wurde, doch sie nickte entschlossen. Joel hatte ihnen geholfen, hatte sein eigenes Leben in Gefahr gebracht, um Josi die Flucht zu ermöglichen.

»Kann ich morgen zu dir kommen? Dann brauchst du keine Angst zu haben, dass dir etwas passieren könnte.« Er sah Erik kurz an. »Wenn es dir recht ist.« Als ob Erik etwas dagegen sagen würde. Joel war ein guter Freund und sie war seine feste Freundin. Natürlich wollte er, dass sie sich aussprachen.

»Kein Problem.« Dann musste er nur noch Josh davon in Kenntnis setzen, dass ein Rabe zu Besuch ins Herrenhaus kam. Und momentan wusste er nicht, wie sein Rudelführer und Bruder darauf reagieren würde.

Als Cass ihn das letzte Mal verlassen hatte, war er völlig am Boden zerstört und seine Stimmung war durch und durch mies gewesen. Aber damals hatte er keine Schuld an ihrem Fortgehen gehabt, ganz im Gegenteil zu dieser Trennung.

»Dann bis morgen.« Josi nickte abwesend und sah an ihrem Halbbruder vorbei zu ihrem Vater. Doch statt den Griff zu lockern, wurde er noch fester. Sie hatte Angst! In einen Kampf gegen Dämonen würde sie sich ohne nachzudenken einmischen, aber vor ihren Vater schreckte sie zurück?

»Josi? Ich glaube, meine Hand fällt gleich ab.« Erschrocken sah sie nach unten, zu der Stelle, wo sie ihn festhielt. Augenblicklich ließ sie ihn wieder los und lächelte entschuldigend.

»Sorry.« Er wollte seine Hand vor dem Absterben retten, aber er wollte sie trotzdem berühren. Deshalb nahm er ihre Hand wieder in seine und zog diese zu einem Kuss an seine Lippen. Ja, das hatte er gebraucht. Den Geschmack und das Gefühl ihrer warmen weichen Haut an seinen Lippen.

Außerdem war er erfreut darüber, dass sie immer noch seine Nähe suchte, auch wenn ihr Vater in Sichtweite war. Das ließ das säuerliche Gefühl ihres Geständnisses von eben etwas abklingen.

Als er wieder zu ihrem Vater sah, bemerkte er Cassandra, die ihm etwas zuflüsterte und dann wieder in das Auto stieg, mit dem sie vorhin gekommen waren. Anscheinend hatte sie keine Lust, mit Erik zu reden. Er verstand sie sogar. Sein Bruder hatte sie mit ihrer schlimmsten Feindin betrogen und alles erinnerte sie daran. Vielleicht konnten sie später mal darüber lachen, aber jetzt schien sie einfach nur ihre Ruhe haben zu wollen.

 


Woelfe der Macht
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