15. KAPITEL
Crystal Ship
Judith saß im Restaurantbereich der City Mall gegenüber dem AMC Kino. Sie wusste, wie er aussah, und er wusste, wie sie aussah. Für den Fall, dass das nicht reichte, trug sie eine Rose im Knopfloch. Soweit sie wusste gab es keine andere chinesische Frau in der City Mall, die eine Rosenknospe trug, also war die Wahrscheinlichkeit, dass Roger sie übersehen würde, ziemlich gering.
Oh Gott, was tue ich hier? Ich hyperventiliere. Ich hätte mir irgendjemandem darüber sprechen sollen, dachte sie nervös.
Aber mit wem? Mit Sarah, deren Idee von Liebe die war, mit sorgfältig ausgesuchten Fremden Sex zu haben?
Sieh der Wahrheit ins Gesicht, dachte sie bitter, die einzige Person, der sie in den letzten Monaten auch nur ansatzweise nahe gestanden hatte, hieß Roger. Das war nur im einundzwanzigsten Jahrhundert möglich, dass Untreue über tausende von Meilen hinweg ohne jeglichen körperlichen Kontakt möglich war. Sie seufzte. Es wäre bestimmt lustig, wenn das jemand anderem passiert wäre. Aber all die Dinge, die er geschrieben hatte, die Gefühle, die er in ihr geweckt hatte … das war kein Witz. So etwas hatte sie bei David schon lange nicht mehr empfunden. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht noch nie.
„Judith?“
Sie sah auf und fiel dann entsetzt in sich zusammen. „Dekan Matthews?“ Sie sah sich erschrocken um, noch immer in der Hoffnung, dass sie sich irrte, aber nein, da stand er in seinem Tweedanzug. „Was machen Sie denn hier?“
Er sah sie merkwürdig an. Ihr Tonfall war wohl etwas vorwurfsvoll ausgefallen, deshalb versuchte sie jetzt, verbindlich zu lächeln. Er lächelte zögernd zurück. „Oh, wissen Sie, Marta und ich gehen einkaufen. Ich habe sie im Disney-Laden zurück gelassen. Sie liebt dieses Zeugs.“ Offenbar wartete er darauf, dass sie in die leichte Konversation einstieg, aber sie dachte nur immerzu daran, dass jeden Moment ihr Fast-Liebhaber auftauchen konnte. Perfekt. Alles, was ich noch brauche ist David, der beobachtet, wie Roger für mich vor Dekan Matthews einen Strip hinlegt.
„Wie geht es Marta denn?“ fragte Judith.
„Gut. Ich bin in letzter Zeit wieder öfter zu Hause, probe schon mal den Ruhestand, und ich glaube, das ist eine ganz nette Abwechslung für uns beide. Eine Ehe leidet unter zu viel Arbeit, wissen Sie?“
Sie nickte. Und Gott lacht sich gerade tot über mich.
„Wissen Sie, in meinem ersten Studienjahr …“
Oh nein, jetzt will er mir einen Vortrag halten!
„Damals hatte ich einen Professor … mein Gott, wie hieß der noch mal? Egal, er sagte jedenfalls etwas, das ich nie vergessen habe.“ Er grinste, hob den Zeigefinger und sah aus wie ein Hohepriester. „,Studenten‘, sagte er, ‚schaut nach rechts und dann nach links. Ich verspreche, nur einer von den dreien, die ihr seht, wird noch immer mit demselben Partner zusammen sein, wenn ihr die Uni verlasst. Das Leben hier ist einfach zu hart!‘“ Dekan Matthews schüttelte den Kopf. „Mein Gott. In Wirklichkeit war es dann sogar noch schlimmer. Ich hatte Glück mit Marta. Sie ist immer bei mir geblieben, hat alles mit mir gemeinsam durchgestanden … die unglaublichen Überstunden und, na ja, Sie wissen ja genau, wie das ist.“
Judith fuhr fort zu nicken. Sie kam sich vor wie eine dieser Puppen mit wackelnden Köpfen, die die Leute in ihrem Auto hatten. Sie wagte es nicht, auch nur ein Wort zu sagen.
„Genauso, wie David mit Ihnen Glück gehabt hat! Nicht wahr?“ Er zwinkerte ihr zu und schaute dann auf seine Uhr. „Nun, ich bin sicher, inzwischen hat Marta den Laden leer gekauft. Ich sollte sie schnell suchen, bevor sie verschwindet. Richten Sie David viele Grüße aus, ja?“
„Äh, natürlich.“
Und wie soll ich ihm erklären, was ich an einem Wochenende in der City Mall zu tun habe? Ach egal, mir fällt schon was ein.
Sie ließ es zu, dass Dekan Matthews sie höflich umarmte. Dann hielt er inne und starrte auf das Knopfloch ihres fast neuen schwarzen Blazers.
„Das ist aber eine hübsche Rose.“
„Danke schön.“ Judith war selbst überrascht, wie kühl ihre Stimme klang. „Ich versuche nur, das alte Stück ein wenig aufzumöbeln.“ Er ging, und sie wusste nicht, ob er ihr geglaubt hatte. Was, wenn er David alles erzählte? Und Marta, die es dann weiter tratschen würde und …
„Judith?“ Eine näselnde Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um.
Roger! Er war tatsächlich unglaublich gut aussehend, genau so wie auf dem Foto. In einer Hand hielt er eine Rose, die exotisch aussah mit den orangefarbenen Blüten und den violetten Rändern. Sein Grinsen war ungeheuer sexy.
„Roger?“ wisperte sie.
„In Fleisch und Blut.“
Sie zuckte zusammen.
Das kann nicht seine echte Stimme sein!
Aber das war sie wohl doch, denn es ging weiter, unerbittlich. „Ich habe gewartet, bis du das Gespräch mit dem Gentleman beendet hattest … ich wollte dir keine Unannehmlichkeiten bereiten, du weißt schon.“
„Gentleman“ klang bei ihm wie Gintlemin und, was viel schlimmer war, seine Stimme war so hoch, dass es schmerzte, er klang fast wie ein jammerndes Mädchen. Sie starrte sein Gesicht an, den starken, kantigen Kiefer und seine ausdrucksvollen, intelligenten Augen.
„Möchtest du, äh, etwas essen?“ fragte er.
Sprich nicht. Bitte, sag einfach kein Wort! Sie schüttelte den Kopf und starrte ihn weiterhin an. „Nein, ich spreche nicht, ich meine, ich bin nicht hungrig …“
„Oh. Okay.“ Er deutete auf einen Tisch. Sie setzte sich wie betäubt. Einen Moment lang entstand ein gesegnetes Schweigen. Dann räusperte er sich. „Es ist so schön, dich zu sehen.“ Er blickte sie gefühlvoll an. „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie du wohl bist, du weißt schon, in echt.“
„Mhm.“ Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, dieses Gespräch zu tippen!
„Ich bin etwas nervös.“
„Ich bin etwas verheiratet“, gab sie zurück, ein wenig schroffer, als sie es gewollt hatte. „Für mich ist das auch nicht gerade eine Meditationsstunde.“
Jetzt war er wieder still, und sie bekam Gewissensbisse.
„Tut mir Leid“, sagte sie schließlich. „Das ist … ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie ich glauben konnte, es würde funktionieren. Vielleicht so wie im Kino – irgendwie so wie in Der englische Patient, wo die beiden Liebenden einfach nichts dagegen tun können, dass sie sich lieben. Sie haben diese seelenvollen, gequälten Blicke.“ Und eine männlichere Stimme, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Nun, also, keine Ahnung, ich weiß nur, dass ich mir das auch anders vorgestellt habe.“ Er holte tief Luft.
Sie runzelte die Stirn. „Wirklich?“
„Na ja, es ist einfach … anders über das Internet, das ist alles. Ich kann … ich meine … ich werde nicht …“ Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und sah dabei aus wie ein Calvin-Klein-Model. Für so ein Gesicht konnte sie doch über eine solche Stimme hinwegsehen, oder nicht? Aber konnte sie über ihre Ehe hinwegsehen?
„Inwiefern anders?“ fragte sie.
„Ich weiß auch nicht. Du hast so verloren gewirkt und so unglücklich, als wir begonnen haben, uns zu schreiben, ich dachte … Himmel, ich dachte, ich könnte dir helfen. Ich weiß nicht, dich retten oder so.“
„Mich retten?“ Judith wusste nicht, warum sie so böse wurde.
„Keine Ahnung. Ich schätze ich hatte mir vorgestellt, dass ich hierher komme, wir uns küssen, und ich dich dann einfach mit mir nach Atlanta nehme. Aber wenn ich dich so ansehe, erscheint mir das kein durchführbarer Plan zu sein.“ Er seufzte. „Und jetzt, nachdem wir uns unterhalten haben …“
Eine lange, qualvolle Pause entstand. „Wir haben nur eine Minute gesprochen, Roger“, deutete Judith an. Er konnte keinesfalls ein Problem mit ihrer Stimme haben, oder? Du liebe Güte, die Ironie hier war so dick, dass man sie locker mit einem Messer hätte durchschneiden können. „Was ist das Problem?“
„Du bist … nun, kalt.“
Sie riss angesichts dieser knallharten Worte die Augen auf. Ihr Entsetzen wurde nur noch größer, als er errötete.
„Ich will nicht unhöflich sein“, sagte er gedehnt mit dieser quiekenden Stimme. „Ehrlich nicht. Es ist nur – du scheinst viel verletzlicher über das Internet.“
Sie blinzelte. Sie schien per Datenübertragung verletzlicher? „Und wie komme ich dir jetzt vor?“
„So, als ob du mich schlagen würdest, wenn ich dir zu nahe komme.“
Sie seufzte. „Das funktioniert wohl nicht, oder?“ fragte sie traurig.
Er schüttelte den Kopf. „Wir könnten es in Ruhe angehen. Ich bin eine Woche hier … mache etwas Urlaub. Ich habe einen Freund, bei dem ich bleiben kann. Wir könnten einfach mal telefonieren … vielleicht war es ein Fehler, vom Internet direkt in ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu gehen. Damit konnten wir nicht umgehen …“
„Nein, ich glaube, das würde auch nicht funktionieren.“ Okay, sie wusste, dass ein paar Stunden Gespräch übers Telefon mit dieser Stimme nicht funktionieren würde. So wahr mir Gott helfe, seine Stimme zerrt schon jetzt an meinen Nerven, dachte sie. „Vielleicht … vielleicht sollten wir einfach beim Internet bleiben.“
„Vielleicht.“ Er rückte seinen Stuhl näher an sie heran. „Ich habe wirklich geglaubt, dass ich dich liebe, Judith. Nach allem, was du mir erzählt hast, dachte ich, dass wir beide uns lieben.“ Er streichelte ihr Gesicht, und sie konnte es nicht verhindern, dass sie es wegdrehte. „Ich kenne dich gar nicht wirklich, oder? Nicht die echte Judith.“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Wenn es dich irgendwie tröstet, ich auch nicht.“
Er seufzte, und seine Traurigkeit hätte ihr bestimmt das Herz gebrochen, wenn es nicht geklungen hätte, als seufzte Minnie Maus. „Gut. Vielleicht sollten wir uns dann eine Weile unterhalten.“
Sie zuckte die Achseln, und ein tiefer Schmerz durchfuhr sie. Im Augenblick war er ihr engster Freund, und sie wusste nicht, ob sie ihn wirklich verlieren wollte.
„Ich werde nicht verschwinden“, versicherte er mit unmelodiöser Stimme. „Aber … das hier ist komisch. Ich brauche ein wenig Abstand.“
Sie nickte.
„Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.“
Sie nickte wieder.
Zu ihrer Überraschung beugte er sich vor und küsste sie zart mitten auf den Mund. Es prickelte ein wenig. „Es ist wirklich eine Schande“, sagte er nah an ihrem Ohr, und sie bekam eine Gänsehaut, als ob Kreide auf einer Tafel quietschte.
„Und was für eine!“ murmelte sie.
Sie beobachtete ihn, wie er ging … sah, wie andere Frauen ihm begehrlich nachblickten. Er verschwand in der Menge.
Was war das?
Sie hatte geglaubt, eine große Leidenschaft gefunden zu haben – die Variante Der englische Patient eben. Was geblieben war, war eine komplette Farce. Es war lustig, lächerlich, voller Ironie. Sie hatte sich nach Romantik gesehnt, sie sehnte sich noch immer. Sie wollte mehr von ihrem Leben.
Plötzlich wurde ihr klar: Hier ging es nicht um Roger. Hier ging es um David. Sie stand auf, nahm die Rose aus dem Knopfloch und ließ sie auf dem kalten Metalltisch liegen. Was noch wichtiger war: Es ging um sie.
Martika hockte mit über dem Bauch gefalteten Händen auf der Couch. Ihr Bauch war schon ein bisschen dick. Um ganz ehrlich zu sein hatte sie seit sie vierundzwanzig war oder so keinen Waschbrettbauch mehr gehabt. Jetzt war sie dreißig, deshalb handelte es sich hier vermutlich eher um Fett, nicht um die Anzeichen einer Schwangerschaft. Noch nicht. Sie hatte kein Recht, hier auf der Couch zu sitzen, Fernsehen zu schauen und ihren Bauch zu tätscheln wie eine werdende Mutter in einer schlechten Fernsehserie.
Aber du bist eine werdende Mutter!
Sie hatte Taylor natürlich davon erzählt, und er war genau so entsetzt gewesen, wie sie es erwartet hatte. Sie war immer so stolz darauf gewesen, dass nichts sie erschüttern konnte, aber diesmal war es anders. Sie machte ihre Hormone dafür verantwortlich, dass ihre Gefühle Achterbahn fuhren, sie musste diese Abtreibung so schnell wie möglich hinter sich bringen und das Ganze als wirklich, wirklich unschöne Erfahrung verbuchen. Und natürlich würde sie in Zukunft vorsichtiger sein. Erstens: kein Zufallssex mehr. Zweitens: Sie musste eine Beziehung eingehen. Vielleicht würde sie ja sogar „den Einen“ finden. Doch ihre Hand ließ sie weiterhin auf dem Bauch liegen.
Ich frage mich, ob es ein Junge oder Mädchen wird. Jetzt konnte man das bestimmt noch nicht sagen. Es war schon komisch. Bisher hatte sie über Babys nur theoretisch nachgedacht. Kinder passten nun mal nicht zu ihrem Nachtleben. Für ein Kind musste man Verantwortung übernehmen. Langfristig. In der ersten Zeit bekam man überhaupt keinen Schlaf. Wenn sie dann etwa zwei Jahre alt wurden, verwandelten sie sich in kleine Monster. Sie hatte das oft genug im Fernsehen gesehen.
Aber sie konnte nicht aufhören, sich zu fragen, was es werden würde. Das hier war nicht nur irgendein Kind. Das war ihr Kind. Sie fühlte seine Anwesenheit in ihrem Körper, als ob ein Alien von ihr Besitz ergriffen hätte, doch es war kein unangenehmes Gefühl. Natürlich war all das Blödsinn, es war noch viel zu früh, um ein Baby wirklich zu spüren, aber ihre Brüste waren viel empfindlicher als vorher, und ihr war immer noch fürchterlich schlecht. So sehr sie Taylor auch liebte, das konnte er einfach nicht verstehen. Sie musste mit einer Frau darüber sprechen.
Also mit Sarah.
Sie war in letzter Zeit nicht sehr herzlich zu Sarah gewesen, aber hier handelte es sich schließlich um einen Notfall. Sie wusste, dass Sarah sie verstehen würde. Als sie den Schlüssel im Schloss hörte, zuckte ihre Hand zurück. Wie sie da mit den Händen auf dem Bauch auf der Couch saß, sah sie vermutlich aus wie Al Bundy. Also legte sie die Hand auf die Lehne und kämpfte gegen den Wunsch an, sie wieder auf den Unterleib zu platzieren.
„Hi, Sarah“, rief sie, noch bevor Sarah ins Zimmer kam. „Hast du kurz Zeit?“
„Das war ein höllischer Tag“, antwortete Sarah. „Ich bin mal wieder gefeuert worden. Und, noch schlimmer, der Typ, mit dem ich heute schlafen wollte, stellte sich als kompletter Vollidiot heraus. Ganz zu schweigen von seiner Frau.“ Sie stöhnte und ließ sich in einen Sessel fallen. „Ich möchte in einen Club gehen und mich so lange betrinken, bis ich mich nicht mehr an meinen eigenen Namen erinnern kann oder daran, wie ich nach Hause gekommen bin.“
So hatte Martika sich das nicht vorgestellt. Offenbar musste Sarah sich zuerst den Frust von der Seele reden. Sie hoffte nur, dass das nicht zu lange dauern würde, sie hatte eigentlich keine Geduld für all das.
„Dann wirst du dir wohl einen neuen Job suchen?“
Sarah sah sie an. „Ach, meinst du?“
„Du musst nicht gleich zickig werden“, zischte Martika. Sie konnte dieses Geschwätz einer Fünfundzwanzigjährigen definitiv nicht gebrauchen, schließlich saß sie hier und war schwanger. „Ich habe nur ein Problem, von dem ich dir erzählen wollte, das ist alles.“
Sarah zog die Augenbrauen in die Höhe. „Oh, na klar, Martika. Das wird ja immer schöner. Erzähle mir von deinen Problemen!“
Martika runzelte die Stirn. „Entschuldige. Aber dein Ton!“
„Wird dir dieses mütterliche Gerede denn nie langweilig?“
Martika schnappte ehrlich schockiert nach Luft. „Wie bitte?“
„Du spielst dich immerzu wie eine Mutter auf. Das tust du bei mir genauso wie bei Taylor und überhaupt jedem, der um dich rum ist – zumindest so lange sie es ertragen können, um dich herum zu sein. Ich schwöre dir, du erzählst mir, ich soll mich nicht um meinen Job kümmern, sondern mich lieber durch sämtliche Betten schlafen, und ich höre auch noch auf dich. Und jetzt sieh dir an, was aus mir geworden ist. Mir geht es beschissen!“
„Ach, und ist das vielleicht meine Schuld?“ schrie Martika. Das konnte sie wirklich nicht brauchen. „Nur weil du einen komische Mutter-Neurose hast, glaubst du, ich würde dich bemuttern?“
„Das tust du!“ Sarah sprang auf und begann, durchs Zimmer zu laufen, die Absätze ihre Prada-Schuhe hinterließen tiefe Abdrücke im Teppich. „Oh Gott. Es geht immer nur um dich. Du weißt, was richtig ist. Du weißt immer, was richtig ist. Und du sagst mir immer, was ich zu tun habe. Wenn es dann nicht funktioniert, darf ich mich nicht einmal beklagen. Und warum nicht? Weil deine Probleme ja so viel wichtiger sind als meine. Weil sich immer alles nur um dich dreht!“
„In diesem speziellen Fall scheint mir das Gejammer einer Fünfundzwanzigjährigen darüber, dass sie nicht das perfekte Leben hat, wirklich nicht allzu lebenswichtig“, rief Martika kalt. „Als ich dich kennen gelernt habe, warst du so verunsichert von dem Arsch, den du Verlobten genannt hast, dass du sofort losgerannt bist, wenn er nur gepfiffen hat. Und genauso war es mit deinen Jobs, Sarah, du hast alles getan, was man von dir verlangte. Jesus, du solltest mir dankbar sein!“
„Dir dankbar sein? Dir dankbar sein?“ Aus Sarahs Augen schienen Flammen zu schießen. So hatte Martika sie noch niemals erlebt. „Warum sollte ich? Alles, was ich vorher getan habe, hat einen Sinn ergeben. Ich wusste, was ich wollte.“
„Du wolltest eine kleine Ehefrau sein, die kein eigenes Leben hat, weil man das so eben macht!“ Martika spuckt die Worte geradezu aus. „Willst du wissen, was ein Problem ist? Lass mich dir sagen, was ein wirkliches Problem ist …“
„Nein, das wirst du nicht“, schrie Sarah. „Jetzt hörst du mir zu. Du bist nicht so cool, wie du immer denkst. Du bist nicht hip, du bist nicht toll, und du bist keine zwanzig mehr!“
So etwas hatte Martika nun wirklich nicht erwartet. „Was zum Teufel sagst du da?“
„Ich sage, dass es nicht schlimm ist, dreißig zu sein“, antwortete Sarah jetzt in mildem Ton. „Es sei denn, jemand versucht so zu tun, als ob er achtzehn wäre. Dann ist es verdammt tragisch.“
Martika fühlte einen tiefen Stich im Herzen, Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich habe Sarah beigebracht, so herzlos zu sein, dachte sie. Ich habe ihr gezeigt, wie man boshaft ist, den wunden Punkt findet und darin herumbohrt.
Und ich will ein Kind aufziehen können?
Der Schmerz wurde immer schlimmer.
„Martika, du bist ein Relikt. Du hast eine ahnungslose Provinzlerin in zweitklassige Clubs gezerrt und ihr gesagt, wie toll das sei, wohingegen ein guter Job ja so unwichtig wäre. Und sie hat dir geglaubt. Nun, endlich weiß ich, was du wirklich bist. Du bist nur eine unsichere, unreife Frau mittleren Alters, die sich selbst so sehr hasst, dass sie jedem, mit dem sie etwas zu tun hat, etwas beweisen muss. Du bist nicht die Frau, die du gerne wärst, Martika.“
„Jesus Christus.“ Martikas Stimme klang hohl. „Ich wollte dir etwas erzählen. Ich dachte, du wärst meine Freundin. Aber wenn ich in meinem eigenen Wohnzimmer so beschimpft werde …“
„Es ist meins“, sagte Sarah kalt.
Martika stand auf, schnappte ihre Handtasche und ihr Handy. „Behalte doch das verdammte Apartment. Ich bin in einer Woche ausgezogen.“
Sarah riss erschrocken die Augen auf. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. „Wir sind beide … es tut mir Leid, Martika. Ich habe nur einen wirklich schrecklichen Tag hinter mir, und ich bin … ich glaube, ich bin einfach richtig mies drauf.“
„Nein, du hast nur gesagt, was du wirklich denkst“, entgegnete Martika ruhig. „Deswegen wird es Zeit, dass ich mich ebenfalls äußere. Vielleicht bin ich eine dreißigjährige Frau, die noch lernen muss, sich selbst zu lieben und die noch eine Menge Therapiestunden braucht, damit sie endlich aufhört, mit jedem Typ zu schlafen, der ihr über den Weg läuft. Vielleicht habe ich ein paar Probleme. Aber wenn du wirklich glaubst, dass du auf dem richtigen Weg warst, bevor du mich getroffen hast, dann machst du dir etwas vor. Du willst dein Leben einfach nicht selbst in die Hand nehmen! Du brauchst jemanden, der dir sagt, wie es geht, weil du nicht glaubst, dass du es selbst richtig machen kannst!“
„Vielleicht“, sagte Sarah sanft. „Ich habe jedoch beschlossen, dass damit jetzt Schluss ist.“
Martika sah sie an und hätte am liebsten schon wieder losgeheult. Sie biss sich auf die Lippen. „Du kannst mich mal, Sarah.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief aus dem Zimmer.
„Das ist der schlimmste Tag in meinem Leben“, murmelte Sarah traurig.
„Wo ist denn deine Mentorin?“ fragte Taylor, der ihr gegenüber neben Pink auf der Couch saß. Pink hörte nicht zu, sie beobachtete einen hübschen Jungen auf der Tanzfläche.
„Das ist Teil meines Problems. Wir haben uns total zerstritten.“
Taylor kicherte. „Keine Sorge. Sie ist nie länger als zwei Tage sauer.“
„Da hatte sich ziemlich viel aufgestaut.“ Sarah stellte ihr Getränk auf den Tisch. „Ich meine, sie war seit dieser Party und der Nacht mit Raoul genervt.“
Taylor kniff die Augen zusammen und beugte sich zu ihr. Pink ergriff die Gelegenheit, um sich dem Typ auf der Tanzfläche zu nähern. „Worüber habt ihr denn gestritten?“
„Na ja, sie hat gesagt, ich sollte mir keine Gedanken darüber machen, dass ich meinen Job verloren habe, dass ich einen anderen finden würde. Ich müsse mich nur betrinken und Spaß haben und alles andere vergessen.“
„Woraufhin du sagtest?“
Sarah seufzte und blickte einen Moment zur Seite. Der Club war wie immer, mit den blinkenden Lichtern und dem dumpfen Beat, der die Sitze durchschüttelte. Seit Monaten schon war dieser Club eine Art Therapie für sie. Hoffentlich würde es heute Abend auch helfen. „Ich sagte, nun, ich sagte, dass ihr das offenbar nicht sehr geholfen hat.“
Taylor gab ein kurzes, bellendes Lachen von sich. „Mist. Ich wette, sie ist gleich explodiert.“
„Ich habe ihr auch vorgeworfen, dass sie mich bemuttert.“
Taylor riss die Augen auf. „Das hast du nicht!“
„Aber sie legt doch dieses zwanghafte Muttergehabe uns allen gegenüber an den Tag“, murrte Sarah und nahm noch einen Schluck. „Du musst doch zugeben, dass dir das manchmal auch auf die Nerven geht.“
„Ja, natürlich, aber das musst du ihr doch nicht ins Gesicht sagen!“ Taylor schnaubte amüsiert. „Sarah, wir sind Martikas Familie.
Anstatt durchzudrehen oder zusammenzubrechen, wie wir das tun, erzählt sie uns, wie wir unser Leben leben sollen. So ist sie eben. Sie ist die Übermutter des Santa Monica Boulevards.“ Er schüttelte den Kopf. „Also, was ist dann passiert?“
„Sie ist aus dem Zimmer gestürmt. Ich hatte keine Lust, mich zu entschuldigen, deswegen bin ich hierher gekommen.“
Taylor seufzte. „Alarm! Hübscher Kerl an der Bar.“
Sarah drehte sich lustlos um. Sie merkte, dass sie schon beschwipst war. Dabei war es noch so früh. Der Club lag recht weit von ihrer Wohnung entfernt, aber wenn sie sich richtig betrinken wollte, konnte sie ja auch jederzeit ein Taxi nehmen. Also schüttete sie den Rest ihres Drinks in sich hinein.
Taylor richtete sich auf und starrte sie an. „Oje. Er schaut mich an“, rief er und benahm sich wie ein Schulmädchen, das cool wirken will. „Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich mir was zu trinken hole. Willst du auch noch was?“
„Na klar.“
Sie beobachtete ihn, wie er beiläufig zur Bar schlenderte, die Drinks bestellte und dann ein Gespräch mit dem Typ begann, der ihm einen fast schon achtlosen Blick zuwarf. Sie wusste nicht, wie Taylor das anstellte, aber sie war von seinem schauspielerischen Talent immer wieder beeindruckt. Es war nichts davon zu spüren, dass er nur zwei Minuten zuvor wegen desselben Mannes ganz aufgeregt gewesen war.
Zu ihrer Überraschung setzte Kit sich neben sie. „Alles in Ordnung?“
Es ging ihr auf die Nerven, dass er ihre Launen erraten konnte, vor allem, weil er selbst immer in der gleichen Stimmung zu sein schien. Er war ein Meine-Laune-passtimmer-Typ. Bei dem Gedanken musste sie kichern. Ja, sie war auf dem besten Wege, betrunken zu werden.
Er runzelte die Stirn. „Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist.“
„Wieso, sehe ich nicht so aus?“
Sie sah ein kurzes Flackern in seinen ironisch blickenden Augen. „Was willst du hören, ein Kompliment?“
„Hau ab, Kit.“
Taylor kam mit einem Drink in der einen und seinen neuen Schwarm an der anderen Hand zurück. „So, bitte schön, Sarah, Darling“, sagte Taylor übertrieben und stellte ein Glas vor sie. „Oh! Wie ich sehe, ist Kit hier. Dann bist du ja in guten Händen. Ich glaube, wir gehen jetzt in einen anderen Club. Das macht dir doch nichts aus, oder?“
Sarah verdrehte die Augen. Ein anderer Club? Sehr witzig. Sie musste nur das Glitzern in Taylors Augen sehen, um zu wissen, dass er nicht in einen Club gehen würde. „Na klar. Macht gar nichts.“
„Großartig. Bis bald!“ Die beiden hasteten davon.
„Was meint er mit ‚du bist in guten Händen‘?“
„Frag mich was Leichteres.“
„Wo ist Tika?“
Sie sah ihn finster an. „Ich brauche keinen Aufpasser, Kit.“
„Offenbar nicht. Was ist los? Hast du Streit mit deiner Amazone, oder ist sie auch irgendwo, um Sex zu haben?“
Sarah zuckte die Achseln. „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“
„Sarah, warum bist du ganz alleine hier?“
„Ich brauche dich nicht, um auf mich aufzupassen“, ging sie auf ihn los. „Ich brauche überhaupt niemanden, der auf mich aufpasst. Ich bin eine erwachsene Frau. Um genau zu sein bin ich eine erwachsene Frau, die mal wieder arbeitslos und ohne Beziehung ist, aber ich kann mich um mich selbst kümmern!“
Er nickte, wie jemand, der eine Irre beschwichtigen will. „Verstehe. Arbeitslos und ohne Beziehung.“
Sie seufzte.
„Und? Hat dir der Job gefallen, den du verloren hast?“
„Es geht doch nicht darum, einen Job zu mögen!“ Ihr fiel auf, dass sie fast gebrüllt hatte und dass einige Leute sie anstarrten. Sie senkte ihre Stimme ein wenig, und er kam näher, um sie zu verstehen. „Ich meine, ich muss doch in der Lage sein, mein Leben so zu genießen, wie es nun mal ist. Ich habe, ich hatte einen Job, durch den ich meine Rechnungen bezahlen konnte, weißt du? Ich habe nicht nach der perfekten Karriere gesucht.“
„Was ist falsch an einer Karriere?“
Sie blinzelte. „Nichts, das weiß ich auch.“
„Nicht schreien, bitte!“
Sarah hätte ihn am liebsten gebissen, so wütend war sie. Jetzt wandte sie den Kopf, um Kit voll anzusehen. „Ich habe gedacht, ich hätte es endlich geschafft. Ich habe versucht, einen Karriereplan zu verfolgen, ich habe mir Fünf-Jahres-Ziele gesteckt, ich habe an meinem Bekanntenkreis gearbeitet, und überhaupt nichts ist daraus geworden. Jetzt versuche ich, einfach Spaß zu haben und zu faulenzen, und auch das hat nicht funktioniert. Wie kann man so viel falsch machen, wenn man gar nicht genau weiß, in welche Richtung man überhaupt gehen will?“
Er grinste. „Manche Leute haben darin ein außergewöhnliches Talent.“
„Ich jedenfalls habe keine Lust mehr. Ich gebe auf.“
„Du willst dir wieder Ziele stecken?“
Tränen stiegen ihr in die Augen, und verlegen schaute sie auf ihren Schoß. „Ich weiß nicht, was ich tun werde, Kit. Ich weiß es einfach nicht.“
Er legte unbeholfen einen Arm um ihre Schultern, doch sie schüttelte ihn ab.
„Hör mal, Sarah, es tut mir Leid …“
„Sag nicht, dass es dir Leid tut!“ zischte sie. „Ich will verdammt noch mal nicht hören, dass es jedem immerzu Leid tut. Du musst das nicht sagen.“
Sie saßen schweigend da. Plötzlich spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Sie sah Kit an, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. „Weißt du, dass du komische Augen hast?“
Er trug dieses halb amüsierte Lächeln im Gesicht. Jetzt sah sie, dass er auch eine kleine Narbe oberhalb der linken Lippe hatte. „Tatsächlich?“ Es kam ihr so vor, als ob er sich in Zeitlupe bewegte.
„Mhm.“ Sie schnappte ihr Glas, trank es halb leer und bemerkte, dass etwas von der Flüssigkeit auf ihr Hemd getropft war. Mit einem Knall stellte sie es auf den Tisch. „Deine Augen sind irgendwie grünbraun mit einem Stich ins Gelbe. Wie bei einer Katze. Oder einer Eidechse.“
„Nett, dass dir das aufgefallen ist“, sagte er, und sie spürte, dass er ihr Haar streichelte. Das ist komisch, dachte sie. „Sarah, Baby, wie viel hast du getrunken?“
„Das ist es ja“, antwortete sie. „Das ist erst mein zweites Getränk … glaube ich.“ Sarah drehte den Kopf, um das Glas anzusehen, und erschrak. Alle auf der Tanzfläche schienen sich in Zeitlupe zu bewegen, genauso die Lichter. Sie starrte hingerissen in den Raum, als müsse sie alles genauer untersuchen. Die Frauen, die sie im Halbdunkel ausmachte, trugen ultrakurze Röcke und Tops mit Spaghettiträgern und sahen aus, als seien sie alle um die zwanzig. Die Männer starrten auf die Röcke und Tops, und der Sabber lief ihnen geradezu aus den Mündern … Oder, nein! Angst lag in ihren Blicken. Warum ist mir das nie zuvor aufgefallen, fragte sie sich. Und den Frauen erging es auch nicht viel besser. Sie hatten einen hungrigen Ausdruck im Gesicht, ständig auf der Suche nach Kontakt, körperlichem, seelischem, egal was. Die Verzweiflung hing in der Luft wie eine Nebelwolke. Sarah hielt die Luft an.
„Sssssss ….“
Sie nahm das Geräusch kaum wahr, sie war viel zu beschäftigt, die Szene zu beobachten. Es war so, als könne sie mit einem Mal durch die Lichter hindurch sehen. Und dann kam es ihr so vor, als könne sie den Club im Tageslicht sehen. Die hohe Decke. Es war ein ehemaliger Lagerraum. Und der Boden … zwischen den nackten Beinen und Stilettos konnte sie den klebrigen schwarzen Untergrund sehen, bedeckt mit einer dünnen Schicht aus verschütteten Getränken und tropfendem Schweiß. Sie musste würgen. Die Bilder trafen sie jetzt immer heftiger, schneller. Die Barkeeper mit ihrer einstudierten Gleichgültigkeit. Die Türsteher mit dem aufgesetzt gefährlichen Gesichtsausdruck. Die Tänzer mit ihrem kalkulierten Sex-Appeal.
Das war ein Horrorkabinett. Ein Albtraum.
Endlich sah sie Kit an. Er wirkte jetzt nicht mehr ironisch, sondern beunruhigt. Und einen Moment lang konnte sie etwas von seiner Seele in seinen Augen erkennen an Stelle der eingeübten Verachtung. Es liegt irgendwie an dieser Stadt, dachte sie. Das Bedürfnis, auf der Suche zu sein, das Bedürfnis, zu beschützen, alles auf einmal. Sie fühlte sich wie eingeschlossen in eine Kapsel.
Kapsel …
„Kit“, sagte sie, und die Worte fühlten sich dick wie Lehm an. „Ich glaube, jemand hat … mir was … ins Getränk …“
„Ich weiß, Baby, ich weiß“, sagte er, und die Worte kamen nur aus der Ferne an ihr Ohr und klangen hohl. „Ich bringe dich nach Hause.“