3. KAPITEL
People Are Strange
„Na also“, murmelte Martika, „es ist zwar nicht riesig, aber es ist ein Zuhause.“
„Wir sind in Rekordzeit hier eingezogen“, rief Taylor und betrachtete die Umgebung. „Wie lange haben wir gebraucht, fünf Stunden?“
„Ich habe seit dem letzten Mal eine Menge weggeworfen.“
„Du meinst abgesehen von Andre?“
„Sei nicht zickig“, schalt Martika ihn. Dann streckte sie ihm die Zunge heraus und begann, die Pfauenfedern in der großen Holzvase zu arrangieren. Jetzt sah es schon viel gemütlicher aus. Wie Sarah diese Wohnung eingerichtete hatte, war absolut langweilig, erinnerte irgendwie an eine Jugendherberge. Es erstaunte sie, dass Sarah nicht ein Schild mit der Aufschrift „Frisch desinfiziert“ über die Toilette gehängt hatte.
Kit blickte sich um und murmelte unverständliches Zeug.
„Wie bitte?“
Er schenkte ihr ein halbes Lächeln, und sie war davon überzeugt, dass er niemals richtig lächelte. „Ich sagte: There’s no place like home.“
„Aus: Der Zauberer von Oz“, assistierte Taylor.
Martika rollte mit den Augen. „Spielt ihr beide noch immer dieses Spiel?“
Kit zuckte die Achseln, und Taylor begann irgend etwas zu plappern. Martika packte den letzten Umzugskarton, auf dem in großen Druckbuchstaben Privat stand, und schleppte ihn in ihr Schlafzimmer. Das Einrichten des Schlafzimmers war immer der Abschluss ihres Umzugsrituals.
Sie fragte sich, wie Andre sich wohl fühlen mochte, wenn er sein eigenes Bett aus dem Keller holte. Es gab drei Möbelstücke, die Martika besaß, seit sie zweiundzwanzig war: ein riesiges Doppelbett und zwei Nachttischchen. Es gibt nun mal lebensnotwendige Dinge, dachte sie. Sie räumte den rechts neben dem Bett stehenden Nachttisch ein. Kondome, eine breite Auswahl an Ölen und anderen Gleitmitteln, Handschellen und ähnlicher Schnickschnack, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Der rechte Nachttisch war für Gäste gedacht. Der linke allerdings war ihrer. Hier räumte sie ein mit schauerlichen und vor Selbstmitleid triefenden Gedichten vollgekritzeltes Heft ein, ein paar Schokoriegel, mehrere Päckchen Zigaretten, einen Vibrator und ebenfalls Kondome. Diese Schublade ging niemanden etwas an. Sie schob sie mit einem zufriedenen Nicken zu und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Jungs saßen auf der Couch. Sarah reichte ihnen ein Glas Limonade.
Kaum eingezogen, fühlte Martika sich schon merkwürdig. Sie hatte seit ewigen Zeiten nicht mehr mit einer anderen Frau zusammengewohnt, vor allem nicht mit einer Frau, die aus Fairfax kam, oder wie auch immer dieses Kuhdorf hieß.
„Es sieht so aus, als hätten wir alles erledigt“, sagte Martika.
Sarah nickte, während sie sich offensichtlich verwirrt umblickte. „Du hast mehr Sachen … als ich erwartet hatte.“
War aus ihren Worten Missbilligung herauszuhören? Martika lächelte. Hoffentlich! „Nun, wenn ich irgendwo einziehe, tendiere ich dazu …“
„… die ganze Wohnung einzunehmen?“ fragte Luis, Taylors Freund, mit einem jammernden Unterton.
Martika grinste ihn an und spürte, dass sie langsam begann, sich zu ärgern. Normalerweise konnte sie Luis nicht länger als fünfzehn Minuten an einem Stück ertragen. Jetzt hatte sie schon über sechs Stunden mit ihm verbracht, und sie fragte sich, ob er wohl ahnte, wie knapp er mehrfach dem Tod entronnen war …
Sie schüttelte den Ärger ab und sah sich nach der Limonade um. Wenigstens hatte der Vollidiot das Bett reingetragen. Man musste eben Kompromisse machen, wenn es unbedingt sein musste.
„Es sieht wunderbar aus“, hörte sie Sarahs sanfte Stimme hinter sich.
„Danke“. Martika lächelte nun etwas weniger verkrampft. Das Kind ist schüchtern, dachte sie, aber es hat Potenzial. „Ich bin Grafikdesignerin, hatte ich das erwähnt?“
„Nein.“
„Dann weißt du es jetzt. Ich habe gerne schöne Dinge um mich.“ Ihr fiel auf, dass fast alle Bilder und Poster von ihr waren. „Es geht um Atmosphäre, Gestaltung … du weißt schon.“
Sarah nickte, aber Martika zweifelte, dass sie auch nur ein verdammtes Wort verstanden hatte. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel, das war alles.
„Ich meine, was hat dieses Apartment vorher über dich ausgesagt? Was glaubst du?“ hakte sie nach.
„Ähm …“, Sarah fühlte sich offenbar ertappt. „Vielleicht: Diese Wohnung ist zu vermieten?“
Martika lachte. Sarah hatte definitiv Potenzial. „Ich verhungere“, verkündete sie dann, was nichts anderes hieß als: Wir gehen jetzt essen. Sie sah sich erwartungsvoll um.
Taylor wirkte überaus glücklich über diesen Befehl, wohingegen Luis eher sauer darüber schien, noch mehr Zeit mit ihr verbringen zu müssen (Als ob ich so scharf darauf bin, mit dir zu tun zu haben, dachte sie grinsend), und Kit …, nun ja, Kit sah so aus, wie er immer aussah. Sie hatte in der Vergangenheit mehrfach versucht, ihn ins Bett zu bekommen, ohne Erfolg. Das passierte ihr sonst nie und deswegen hatte sie den Verdacht, dass er in Wirklichkeit eher in Taylors Team gehören musste, ganz egal, was Taylor behauptete. Sie kannte sich mit so was schließlich aus.
„Also. Wo wollen wir essen?“
Luis meldete sich zu Wort. „Warum nicht im Trader Vic’s?“
Sie warf Taylor einen Blick zu, der nur peinlich berührt die Achseln zuckte. Martika verdrehte die Augen, was nichts anderes bedeutete als: Schau nicht so, schließlich schläfst du mit ihm, nicht ich. Sie schüttelte den Kopf. „Lasst mich das noch einmal versuchen. Also. Wo wollen wir essen?“
„Was? Was soll das?“ fragte Luis.
„Dein Vorschlag war zu spießig“, erklärte Taylor.
„Wenn ich so viel Geld ausgeben will, nur um eine Horde alter weißer Männer zu sehen, dann kann ich genauso gut ins Le Dome gehen“, fügte Martika hinzu, woraufhin Luis zu schmollen begann.
„Was haltet ihr vom Le Dome?“ warf Kit grinsend ein.
Martika glaubte, Sarah kichern zu hören, sehr leise allerdings, aber als sie sich umdrehte, sah deren Gesicht völlig teilnahmslos aus.
„Ganz offensichtlich muss ich wieder entscheiden … oh! Wie wär’s mit der L.A. Farm? Da war ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr.“ Na! Das war doch ein entwicklungsfähiger Vorschlag. „Die haben ein tolles vegetarisches Angebot.“
„Ach, bist du diese Woche Vegetarierin?“ fragte Kit.
Sie sah ihn böse an. „Du kommst doch überhaupt nicht mit, Kit.“
Kit zuckte mit den Schultern. „Nee. Meine Schicht im Coffee House beginnt gleich.“
„Hat dir noch niemand gesagt, dass das komplett out ist?“
„Jetzt ist es wieder in.“
Taylor schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht. An einem Samstagabend in einem Coffee House zu arbeiten ist einfach irgendwie nicht richtig. Kommst du wenigstens später mit in den Club? Vielleicht ins Asylum, nur so zum Spaß?“
Kit zögerte. „Vielleicht. Ich kann euch ja später treffen.“
„Na wunderbar. Dann haben wir uns also für die L.A. Farm entschieden“, sagte Martika und starrte Luis an, der aussah, als wolle er widersprechen.
„Klar“, antwortete Taylor, und Luis wirkte ganz und gar nicht erfreut. „Lass mich nur vorher schnell nach Hause gehen und umziehen. Ich kann doch nicht so verschwitzt unter die Leute.“
Martika lachte und sah dann Sarah an, die nur dastand und sehr an ein Mauerblümchen erinnerte. Jetzt war die richtige Zeit, um das Mädchen zu testen.
„Wie sieht es mit dir aus? Ich gebe dir vierzig Minuten, um dich fertig zu machen, aber nur, weil ich zuerst ins Badezimmer gehe.“ Sie blinzelte um zu zeigen, dass das ein Scherz sein sollte. Obwohl es keiner war.
Sarah räusperte sich. „Nein, tut mir Leid. Ich würde ja gerne, aber ich kann nicht mitkommen.“
„Das sagst du doch nur so“, gab Martika zurück, weil Sarah so höflich klang, dass es schon fast wehtat. „Komm schon. Das wird lustig, und ich hätte dich wirklich gerne dabei. Es ist so eine Art Initiations-Ritual.“
„Reine Schikane“, warf Kit ein. „Ich nenne dich … Pinto.“
„Das ist aus Animal House“, erklärte Taylor ihr bereitwillig.
„Haltet die Klappe.“ Martika studierte Sarahs Gesicht. „Also, was ist jetzt?“
„Ich kann wirklich nicht“, gab Sarah zurück, und diesmal schwang in ihrer Stimme auch mehr Überzeugung mit. „Mein Freund, oder besser, mein Verlobter, will heute Abend anrufen.“
„Ach?“ Martika zog die Augenbrauen in die Höhe und warf dann Taylor einen Blick zu. Der verdrehte die Augen und formte mit seinen Lippen ein lautloses ‚Blabla‘. Sie war sich sicher, dass Sarah das nicht gesehen hatte, und selbst wenn, würde sie es wahrscheinlich nicht einmal verstehen. Was Taylor meinte, war: Später werde ich dir alles erzählen, keine Angst.
„Na gut“, sagte sie mit einem Schulterzucken. Ihre neue Mitbewohnerin war also langweilig. Zur Hölle mir ihr. Schließlich mussten sie ja nicht heiraten. „Ich will natürlich der wahren, großen Liebe keinesfalls im Wege stehen. Ich gehe jetzt ins Bad, Süße, wenn du also noch mal für kleine Mädchen musst, solltest du das jetzt tun. Ich werde eine ganze Weile brauchen.“
„Ich bin in einer Stunde zurück, Tika“, rief Taylor warnend.
„Bis dahin bin ich fertig“, gab sie zurück, schob die Jungs aus der Tür, warf sie zu, und als sie sich umdrehte, musste sie feststellen, dass Sarah immer noch dastand. „Bist du dir sicher? Du könntest ihn auch später anrufen. Oder morgen.“
Sarah lächelte sie nur kühl an. „Nein, aber trotzdem danke.“
Martika steuerte aufs Badezimmer zu, und es fiel ihr fast zu spät ein, dass sie die Tür schließen sollte, bevor sie sich auszog. Sie zweifelte daran, dass Sarah offen genug war, ihre ziemlich exhibitionistischen Anwandlungen zu ertragen.
Was soll’s, dachte sie, als sie unter die Dusche stieg, ich lebe jetzt also mit einem Nönnchen, das sich nach dem abwesenden Freund verzehrt. Wie schön. Wie überaus spaßig. Es gab zwei Möglichkeiten: Wieder ausziehen, worauf sie nicht die geringste Lust hatte, oder das Mädchen umerziehen. Martika lächelte, während der Wasserstrahl mit aller Kraft ihr Gesicht traf. Sie hatte also keine Wahl.
Es ist Samstagnacht … oder eigentlich schon Sonntagmorgen, dachte Sarah, als sie müde auf die Uhr schaute. Sie war aus dem Schlaf geschreckt, ohne zu wissen, warum: Es war drei Uhr morgens, was zum Teufel war hier los? Um ehrlich zu sein, war ihr Samstagabend nicht gerade aufregend verlaufen. Nachdem Benjamin nicht angerufen hatte, hinterließ sie Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter, und zwar sowohl im Büro als auch zu Hause, und wartete weiter. Gegen elf kochte sie sich eine heiße Schokolade, in die sie nach einigem Zögern einen Schuss Rum schüttete, und legte sich ins Bett. Sie las ein paar Seiten in Bridget Jones, änderte dann aber ihre Meinung und begann mit Harry Potter, bis sie sich zusammenrollte wie ein Baby und einschlief.
Drei Uhr morgens und sie war …
„Oh … oh!… Oh ja, Baby, das gefällt mir …“
Sarah lag starr da wie eine verängstigte Maus. Die Geräusche wurden lauter und erinnerten sie an Martikas heisere Singerei unter der Dusche. Sie stand auf, schlich zu ihrer nur halb geschlossenen Tür und schielte hinaus. Im Flur war es dunkel, und die Zimmertür von Martika schien fest geschlossen. Trotzdem konnte sie hören, dass die Bettfedern laut quietschten, wobei die Geschwindigkeit immer mehr zunahm.
Fürchterlich verlegen, schloss Sarah leise ihre Tür. Aber in der Stille der Nacht waren diese Geräusche, die an Lautstärke noch zunahmen, unüberhörbar. Sie sah sich um, bis ihr Blick an ihrem verwaschenen Frottierbademantel, den sie über die Schranktür geworfen hatte, hängen blieb. Sie legte ihn vor dem Türschlitz auf den Boden, in der Hoffnung, den Lärm dämpfen zu können. Es half nichts. Schließlich krabbelte sie zurück ins Bett, presste das Kissen gegen die Ohren und drückte ihren Kopf tief in das Flanelllaken, das sie von ihrer Mutter mit der Bemerkung geschenkt bekommen hatte, dass es nachts auch in L.A. kalt werden konnte.
Vielleicht, überlegte Sarah, ist Martikas Einzug doch keine so großartige Idee gewesen.
Am Donnerstag, nach fast einer Woche Arbeit bei Salamanca und einer bezahlten Monatsmiete, fühlte Sarah sich euphorisch.
„Benjamin Slater.“
„Jam, ich bin’s. Sarah.“
„Sarah.“ Sie glaubte zu hören, dass er lächelte. „Hallo du. Wie läuft’s in L.A.? Ich wollte dich am Samstag ja eigentlich anrufen.“
„Stimmt.“ Erfreut über die gute Neuigkeit, rief sie: „Stell dir vor, ich habe einen Job!“
„Wusste ich es doch! Was für ein Job ist das?“
„Ich bin Assistentin der Key-Account-Managerin bei der Salamanca Advertising Agency. Dort, wo Judith arbeitet, aber ich habe nicht viel mit ihr zu tun. Sie ist in der kreativen Abteilung, während ich mich überwiegend um die Finanzen kümmere.“
„Das ist ja großartig, Liebling.“
„Ich habe schon richtig viel zu tun, obwohl ich erst seit ein paar Tagen dort …“
„Ich bin auch ziemlich überlastet“, sagte er und seufzte tief.
Sie wartete. „Ich will dich nicht unter Druck setzen. Aber wie läuft es denn mit Richardson?“
„Überhaupt nicht. Ich muss einfach weiterhin darauf vertrauen, dass Andrew – der Vizepräsident –, dass er sein Versprechen hält und mir hilft, versetzt zu werden. Denn in Hollywood könnten sie jemanden wie mich brauchen. Das sagt er zumindest.“
„Das ist doch großartig, Jam.“
„Also dauert es nur noch ein paar Monate, und ich werde endlich nachkommen“, sagte er. „So lange muss ich das hier irgendwie durchstehen.“
„Du schaffst das schon“, sagte sie warm.
„Um ehrlich zu sein, ich kann nicht lange sprechen. Paul Jacobs und ein paar Leute aus unserem Büro in L.A. sind zu Besuch. Ich habe versprochen, mit ihnen ein Bier trinken zu gehen. Du weißt schon, ein bisschen Dampf ablassen.“
Sie biss sich auf die Lippen. „Verstehe.“
„Nur ein oder zwei Bier, Sarah.“ Er seufzte wieder, dieses Mal nachdrücklicher. „Es ist ja nicht so, als ob ich ausgehen und mit irgendwelchen Kolleginnen rummachen würde.“
„Das weiß ich doch“, antwortete sie. Sie erwartete doch nicht im Ernst von ihm, jeden Abend zu Hause zu bleiben, nur weil sie nicht bei ihm war? Trotzdem, wenn er ein wenig mehr Sehnsucht zeigen würde, würde mich das schon sehr beruhigen, dachte sie, schob den Gedanken aber beiseite.
„Sarah! Saaa-rah …“ Martika stand plötzlich in ihrem Zimmer. „Willst du mit uns kommen? Wir gehen was trinken.“
Sarah zuckte zusammen, deutete dann stumm auf den Telefonhörer. Martika blitzte sie wütend an und lief zurück ins Wohnzimmer.
„Tut mir Leid“, murmelte Sarah.
„Wer zum Teufel war das? Ich dachte, du rufst von zu Hause aus an.“
„Das tue ich ja auch“, antwortete Sarah. „Das war … na ja, ich kann die Miete von meinem Gehalt nicht alleine zahlen. Also habe ich mir eine Mitbewohnerin gesucht.“
Es dauerte eine Weile, bis Benjamin diese Neuigkeit verdaut hatte.
„Es war nicht meine Idee“, versicherte sie hastig. „Davon abgesehen: Martika weiß, dass sie nur kurzfristig hier wohnen kann …“
„Martika? Was ist denn das für ein Name?“
„Keine Ahnung. Ich glaube dänisch.“ Das hatte sie sich in genau diesem Augenblick ausgedacht.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich nach Los Angeles komme, sobald Richardson mich lässt, Sarah. Ich habe allerdings nicht gesagt, dass du jemand anderen in unsere Wohnung ziehen lassen sollst.“
Sarah runzelte die Stirn. „Was du gesagt hast ist, dass ich die Miete für diese Wohnung – für diese ziemlich teuere Wohnung, wenn ich das hinzufügen darf – alleine zahlen muss, weil du noch nicht darin wohnst. Jetzt mal im Ernst, was hätte ich denn tun sollen, Jam?“
„Verdammt Sarah, ich meine doch nicht … sei doch nicht so empfindlich, okay? Das kann ich im Augenblick wirklich nicht gebrauchen.“
Aber ich?
Sie seufzte. „Ich sage doch nur, dass ich keine andere Wahl hatte.“
„Verstehe.“ Er grunzte mürrisch. „Du hast natürlich Recht. Es ist vernünftig, dass du eine Mitbewohnerin hast. Nur … hast du sie auch sorgfältig ausgewählt?“
„Ich schwöre!“ Sarah überkreuzte vorsichtshalber die Finger und fand sich selbst kindisch. „Sie ist die Freundin eines Freundes und damit also keine völlige Fremde für mich.“
„So. Wie ist sie?“
Sie dachte an Martikas nächtliche Sex-Marathons. „Sie ist sehr, ähm, gesellig.“
„Gesellig?“
„Ja“, bestätigte Sarah schnell. „Aber auch sehr verantwortungsvoll. Ich meine, sie hat schon die Hälfte der Rechnungen bezahlt, und zwar pünktlich, und außerdem ist sie Grafikdesignerin.“
„Verstehe.“ Wie sein Ton deutlich machte, tat er das offenbar nicht. „Hat sie dich gerade gefragt, ob du was trinken gehen willst?“
Sarah zögerte. „Ich glaube, sie fragte, ob ich mit … mit ihnen ausgehe.“ Sie hatte eigentlich mit ihr und Taylor sagen wollen, aber sie hatte wenig Lust auch noch zu erklären, wer Taylor war. Sie wusste, dass Benjamin das alles missbilligen würde, aber es war schon zu spät.
„Ich schätze, du solltest dir das gut überlegen, bevor du zusagst.“
„Was sollte ich überlegen?“ Sarah fühlte Ärger in sich aufsteigen. „Du gehst doch jetzt auch mit irgendwelchen Typen Bier trinken, und ich werde ein oder zwei Drinks mit Martika nehmen.“
„L.A. ist nicht Fairfield, weißt du? Es ist eine viel gefährlichere Stadt.“
Sarah sah das eindrucksvolle Duo Martika und Taylor vor sich. „Das geht schon in Ordnung.“
„Du bist manchmal so naiv“, sagte Benjamin. „Aber gut. Tu, was du nicht lassen kannst. Ich muss jetzt auflegen.“
„Es ist ja nicht so, als ob ich ausgehen und mit irgendwelchen Kollegen rummachen würde“, wiederholte sie seine Worte, in der Hoffnung, seine Stimmung etwas aufzuhellen.
Und tatsächlich lachte er. „Lass uns nächste Woche telefonieren.“
„Ich liebe dich“, sagte sie schnell.
„Ich dich auch“, sagte er und legte auf.
Was ist nur mit ihm los, fragte sich Sarah nachdenklich. Sie wollte glauben, dass er sich lediglich Sorgen um sie machte, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass er begann, mit zweierlei Maß zu messen.
Er geht aus und trinkt mit seinen Kollegen ein Bier. Warum also sollte ich nicht dasselbe tun?
Schließlich hatte er ihr vorgeworfen, sie würde wie eine Klette an ihm kleben. Zumindest kann ich jetzt meine Unabhängigkeit beweisen, dachte sie. Sie ging ins Wohnzimmer. Martika war vollkommen darin vertieft, ihre kniehohen schwarzen Lederstiefel zu schnüren.
„Martika?“
„Mhm?“
„Gilt die Einladung noch?“
Martika blickte von ihren Stiefeln hoch. „Ist das wahr? Du willst wirklich mitkommen?“
„Nur kurz“, betonte Sarah. „Ich habe morgen bei der Arbeit viel zu tun.“
„Morgen ist Freitag. Niemand arbeitet viel an einem Freitag.“
Sarah biss sich auf die Lippen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen.
„Überhaupt arbeitet kein Mensch in der ersten Woche viel“, fuhr Martika fort, als wollte sie Sarahs Geduld auf die Probe stellen.
Dann grinste sie spitzbübisch. „Ich habe Taylor bereits gesagt, dass du nicht mitkommst. Dass du wahrscheinlich ein Buch lesen und spätestens um zehn Uhr eingeschlafen sein wirst.“ Martika hätte sie auch gleich ein langweiliges Huhn nennen können.
„Was soll das? Steht vielleicht der Name Shirley Temple quer über meine Stirn geschrieben?“
„Das muss er gar nicht“, antwortete Martika und zwinkerte ihr zu. „Du benimmst dich doch immer so. Was ist nun? Bist du bereit für einen Besuch im 5140? Nur ein paar Drinks, das verspreche ich, und wir bringen dich rechtzeitig nach Hause, damit du morgen für die Schule ausgeschlafen bist.“
„Gut“, sagte Sarah und ignorierte Martikas letzte Worte. „Ich hole nur schnell meinen Mantel. Dann kann es losgehen.“
„Das geht in die Geschichte ein“, rief Martika ihr hinterher. „Stell dir nur vor, am Ende wirst du noch mit männlichen Strippern tanzen.“
Sarah kam mit dem Mantel zurück und packte ihre Handtasche. „Nur ein paar Drinks“, wiederholte sie. Sie wollte nichts tun, was Benjamin nur noch in seiner Vorstellung bestätigen konnte, dass sie naiv war. „Keine Stripper, gar nichts in dieser Art.“
„Vorsicht, Shirley“, rief Martika mit einem boshaften Lächeln. „Du hast gerade einen Rückfall.“
„Vielleicht war das 5140 nicht die beste Idee für ihren ersten Ausgang“, murmelte Taylor leicht beunruhigt.
Martika lehnte sich in dem glatten roten Vinylkissen zurück. Das Licht war so schummrig, dass ihre Pupillen die Größe von Tellern angenommen hatten. Sarah hockte in eine Ecke gedrückt und versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen. Martika seufzte. Das 5140 war eine ziemlich angesagte Bar, hübsch und ein wenig schäbig. Hierher verirrten sich niemals diese typischen wohlhabenden Hollywood-Kinder oder College-Idioten aus West L.A. und Santa Monica.
„Wollt ihr noch was trinken?“ schrie Martika so höflich, wie sie nur konnte, denn sie musste die dröhnende Musik zu übertönen.
Sarah schüttelte heftig den Kopf, und umklammerte mit einem schwachen Lächeln ihre Pina Colada. „Nicht für mich, aber trotzdem danke“, sagte sie und klang so verängstigt, als wäre sie auf Besichtigungstour in einem Minenfeld.
Taylor drängte sich an ihre Seite. „Keine Sorge, Kindchen, Martika mag schäbige Orte. Runtergekommene.“
„Das stimmt, ich mag es runtergekommen. Das ist wenigstens ehrlich.“
Sarah blickte sich um. „Es ist … erstaunlich geräumig“, schlug sie vor und blickte die beiden hoffnungsvoll an.
„Geräumig“, wiederholte Martika, während Taylor vor Lachen fast platzte. „Das ist eine gute Beschreibung. Geräumig. Nun, ich werde jetzt herausfinden, ob ich den gewaltig weiten Weg zur Bar überwinden kann“, sagte sie und drehte ihr leeres Glas um. „Ich brauche mehr. Taylor?“
„Noch einen Martini, bitte.“
Sie steuerte lächelnd auf die Bar zu und stellte befriedigt fest, dass einige der Männer sie aufmerksam beobachteten. Sie war es nicht anders gewohnt, warf ihnen ein Killerlächeln zu und ignorierte sie dann. Sie hatte also endlich Taylors Ratschlag beherzigt und war mit jemandem zusammengezogen, mit dem sie nicht schlief, und bei dieser jungfräulichen Hausfrau gelandet. Welch eine Ironie, welch ein nicht enden wollender kosmischer Scherz. Trotzdem, das Mädchen hatte Potenzial. Martika wurde das Gefühl nicht los, dass Sarah vorhin am Telefon mit ihrem Freund oder Verlobten oder was auch immer gesprochen hatte, und dass dieses Gespräch nicht besonders gut verlaufen war. Sonst wäre sie niemals ausgegangen.
„Einen Watermelon Shot und einen Martini“, brüllte sie Bill, den Barkeeper, an. Er nickte und bereitete in Windeseile die Drinks zu. „Oh, und noch eine Pina Colada“, fügte sie hinzu. „Sehr stark.“
„Du wirst deine anstehende Rechnung doch sicher bald bezahlen, Tika?“
„Ich bekomme nächsten Freitag Geld“, sagte sie, zwinkerte ihm zu, balancierte dann die drei Getränke durch den Raum, und vergaß nicht, dabei heftig die Hüften zu schwingen. Sie knallte die Getränke vor Sarah und Taylor auf den kleinen Tisch. „Nun macht schon, Leute.“
„Ich habe doch noch ein halbvolles Glas“, protestierte Sarah.
„Tja, dann solltest du dich besser etwas beeilen, oder?“ rief Martika.
Sarahs Augen wurden riesig.
„Taylor, würde es dir etwas ausmachen, ihr zu zeigen, wie?“
Taylor grinste. „Ehrlich gesagt ja, schließlich bin ich heute der Fahrer. Davon abgesehen, habe ich mich für später noch mit Luis verabredet, und er hasst es, wenn ich mich ohne ihn betrinke.“ Er nippte einmal vornehm an seinem Martiniglas und deutete mit einer ausladenden Bewegung auf Martikas Glas. „Zeig du es ihr doch. Du bist schließlich der Profi.“
Sarah murmelte: „Ihr wollt, dass ich das einfach in mich reinschütte, ja?“
Martika lächelte ehrlich überrascht. „Reinschütten?“
„Hör mal, ich bin nicht so zurückgeblieben, wie du denkst. Aber ich kann das nicht sonderlich gut, ich sollte euch vorwarnen.“
Sarah verzog das Gesicht, machte sich selbst Mut und trank dann das Glas mit acht großen Schlucken aus. Martika grinste Taylor an, während sie Zeuge dieses Debakels wurde. Sarah schnappte nach Luft. Ihre blassen Wangen waren mit einem Mal rosa, ob wegen des Alkohols oder weil sie beim Trinken so lange die Luft angehalten hatte, konnte Martika nicht mit Bestimmtheit sagen.
„So. Ich hab’s getan.“
Taylor klatschte höflich in die Hände. „Bravo.“
„Und nun den anderen“, sagte Martika. „Und dieses Mal ein bisschen schneller.“
„Aber … ich muss morgen arbeiten!“
„Zwei Pina Coladas werden dich schon nicht umbringen“, sagte Martika mit einem genervten Seufzen. „Davon abgesehen, dass wir noch nicht einmal in einen Club gegangen sind. Das hier ist nur zum Aufwärmen gedacht!“
Während Taylor zu protestieren begann und behauptete, er müsse heute mal früh nach Hause kommen („Das habe ich Luis versprochen!“) bemerkte Martika, dass Sarahs rosa Wangen nun wieder bleich wurden.
„Ich glaube, ich kann nur einen Drink vertragen.“
Martika zuckte die Achseln. „Wenn du meinst.“ Dann nahm sie ihren Watermelon Shot, kippte ihn in einem einzigen Zug herunter, und noch bevor sie den Geschmack wahrnehmen konnte, begann schon der Alkohol in ihrer Kehle zu brennen. Sie stellte das Glas ab und grinste Sarah an. „Eine einzige Pina Colada und schon hast du genug. Das ist geradezu lächerlich.“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich genug habe. Ich sagte nur, dass ich morgen arbeiten muss.“
„Ach ja, als was arbeitest du noch mal?“
„Ich bin Assistentin der Key-Account-Managerin“, sagte Sarah. Ihr Blick wirkte tatsächlich bereits ein wenig unstet. „In Judiths … das ist meine Freundin.“ Sie trank ohne darüber nachzudenken einen weiteren Schluck. „Meine Freundin Judith, du hast sie noch nicht kennen gelernt.“
„Aber ich“, sagte Taylor, dem ebenfalls auffiel, dass Sarah automatisch das zweite Glas leerte. „Judith hat einen ähnlichen Blick drauf wie du.“
„Wow. Dann muss ich sie unbedingt kennen lernen.“
Taylor kicherte. Sarah trank. Eine Stunde später hatte Sarah eine dritte Pina Colada getrunken und wurde überraschend gesprächig. Die Idee, noch in einen Club zu gehen, wurde verworfen, und als die beiden Sarah ins Auto schoben, schwankte sie, was Martika völlig übertrieben fand und Taylor charmant.
„Ich bin so sehr an diese typischen irischen Suffköpfe gewöhnt, dass ich es erfrischend finde, so ein damenhaftes Mädchen betrunken zu sehen“, sagte er. Martika blitzte ihn böse an.
„Ich bin auch damenhaft.“
„Klar“, Taylor tätschelte ihre Wange. „Und ich bin Keanu Reeves.“
„Gute Nacht, Keanu!“ rief Sarah und bekam einen Schluckauf. „Oh Gott, ich hoffe, ich muss nicht brechen“, als sie aus dem Wagen stieg.
„Das hoffen wir beide, Schwester“, rief Martika, führte sie ins Haus und schob sie in den Aufzug. „Vier Pina Colada, und du bist am Boden. Das ist so witzig.“
Martika dirigierte sie auf die Wohnungstür zu. Sarah sprach noch immer in diesem kindlichen Ton. „Ich warte also darauf, dass Jam hierher zurück zieht“, sagte sie vertrauensselig. „Nein, nicht zurück, schließlich hat er ja nie hier gelebt. Aber du weißt schon, was ich meine.“
„Sicher.“ Martika grinste während sie die beiden Riegel zurückschob und schließlich die Tür öffnete. „Obwohl ich, wenn Taylor mit nicht von ihm erzählt hätte, eher glauben würde, er ist dein unsichtbarer Freund und nicht dein Verlobter.“
„Na ja, er ist sozusagen mein unsichtbarer Verlobter“, gab Sarah mit einem kleinen Kichern zurück und hickste.
„Das hast du gesagt“, murmelte Martika und schloss die Tür hinter der schwankenden Sarah. „Nicht ich.“
„Ich weiß. Ich will mich ja auch nicht beklagen. Ich vermisse ihn einfach, das ist alles. Und manchmal kommt es mir so vor, als würde er mich eben nicht vermissen.“
Ihr Ton klang so sachlich, dass sie Martika Leid tat. Sie fragte sich, ob Sarah, wenn sie nüchtern wäre, den Schmerz spüren würde, aber dann wurde ihr klar, dass Sarah in nüchternem Zustand so etwas gar nicht erst zugeben würde. „Warum bleibst du dann bei dem Typen?“
Martika war sich im Klaren darüber, dass sie ihrer Mitbewohnerin besser keine Ratschläge über ihr Liebesleben geben sollte, schließlich tat sie das schon bei all ihren anderen Freunden. Aber wenn überhaupt jemand auf der Welt Hilfe brauchte, dann dieses kleine betrunkene Mädchen mit den langen blonden Haaren.
Sarah hielt mitten in ihrer sehr amüsanten Anstrengung, den einen Schuh mit dem anderen vom Fuß zu kicken, inne. „Warum ich was tue?“
„Wenn er unsichtbar ist, warum bleibst du dann bei ihm?“
„Ich kann ihn nicht verlassen“, murmelte sie, war endlich den Schuh losgeworden und seufzte auf. „Ich meine, so einen Mann wie ihn kann man nicht so einfach aufgeben. Davon abgesehen, dass ich ihn liebe. Ich könnte niemanden verlassen, den ich liebe.“
„Das verstehe ich“, sagte Martika. Zwar kannte sie das nicht von Beziehungen, Taylor hingegen würde sie niemals verlassen. „Aber die Frage ist doch, liebt er dich? Es kommt mir so vor, als ob er dich oft verletzt.“
Sarah schien mit einem Mal nüchtern, so wie ein Mädchen auf einer High-School-Party, das plötzlich feststellt, dass seine Eltern nach Hause gekommen sind. „Er verletzt mich nicht“, sagte sie und kämpfte mit dem anderen Schuh. „Er ist nur … so beschäftigt. Er braucht mein Verständnis. Und ich versuche sehr, sehr verständnisvoll zu sein.“
Martika selbst wollte das nicht gelingen. Sie schüttelte sich. Der Typ war offenbar ein Vollidiot, und Sarah täte besser daran, ihn zu verlassen und ihr eigenes Leben zu leben. Vielleicht sollte sie ihr dabei helfen. „Gut, aber solange er nicht hier ist, ist es ja auch egal, wie oft du ausgehst, oder?“
Sarah dachte einen Moment darüber nach und grinste dann. „Nee. Nicht wirklich. Ich bin sicher, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn ich jede Nacht unterwegs bin und das auch noch meiner Karriere schadet.“
„Das wird es nicht.“
„Ich will nur sagen“, begann Sarah und warf sich auf die Couch. „Ich glaube, ich werde heute hier schlafen.“
„Oh nein, das wirst du nicht“, sagte Martika und zog sie hoch. Sie hatte noch nie zuvor erlebt, dass jemand so schnell in sich zusammengefallen war. „Mist. Komm schon, Sarah. Hör auf Martikas Rat: ein paar Vitamine, ein paar Aspirin und ein riesiges Glas Wasser. Dann putzt du dir die Zähne und gehst ins Bett.“
„Was für ein Tag ist heute?“
„Donnerstag, Süße, erinnerst du dich?“
„Ich glaube, ich muss morgen etwas sehr Wichtiges erledigen. Aber ich weiß nicht mehr, was.“
„Du wirst dich morgen wieder erinnern“, versprach Martika. „Ich schwöre es, Kindchen. Steh jetzt auf und putz dir die Zähne.“