10. KAPITEL

Wishful Sin

Judith saß in Harry’s Pub und wartete auf Sarah. Nervös kratzte sie den Lack von ihren Nägeln, eine Angewohnheit, die die Rechnung für die Maniküre immer ganz schön in die Höhe trieb. Sie trank einen Schluck Wasser. Sie hatte sich vorgenommen, regelmäßige Treffen mit Sarah auszumachen, vor allem jetzt, wo sie von Benjamin getrennt war, der ihrem Leben doch so viel Stabilität gegeben hatte. Sie war zwar noch immer sauer, dass Sarah den Job bei Salamanca einfach hingeworfen hatte, andererseits war in der ganzen Firma bekannt, dass es nicht leicht war, mit Becky auszukommen. Ihre Kündigung warf also kein wirklich schlechtes Bild auf Judith. Außerdem hatte sie seit ihrer Hochzeit nur noch sehr wenige Freundinnen, mit denen sie sich treffen konnte. Dafür arbeitete sie zu hart, außerdem verbrachte sie die wenige freie Zeit mit David. Oder am Computer im Inernet, korrigierte sie sich selbst. Auf diese Art hatte sie in den letzten Tagen ganz schön viel Zeit verbracht. Sie hatte wieder angefangen, am Nagellack zu kratzen. Wie auch immer, jetzt war sie hier, um mit Sarah zu sprechen. Und wenn das Thema Roger aus Versehen aufkommen würde … Hör auf damit, Judith. Da gib es schließlich gar nichts zu erzählen. Sie musste einer Freundin moralische Unterstützung geben und sie vielleicht auf die Idee bringen, einen Karriere-Berater zu konsultieren.

„Hallo du.“

Judith blickte auf. Sie hatte sich noch immer nicht an Sarahs neues Aussehen gewöhnt. Die frostblonden Wellen, die neuen Klamotten. Sie seufzte, stand auf und umarmte Sarah. „Du siehst toll aus. Wie geht es dir?“

„Beschissen“, sagte Sarah, setzte sich und bedeutete dem Ober mit einer Handbewegung, dass sie ein Glas Wasser wünschte. „Aber ich habe einen neuen Job. Immerhin.“

„Das ist gut. Was ist es?“

„Du siehst vor dir die persönliche Assistentin von Richard Peerson, dem Schriftsteller.“

„Assistentin …“, wiederholte Judith besorgt. „Aber nur vorübergehend, oder?“ Sie zögerte. „Warte mal, Richard Peerson? Der Mann, der Being and Everythingness geschrieben hat?“

„Vielleicht?“

„Er ist ein schwerreicher Bestseller-Autor“, erklärte Judith.

Sarah zuckte mit den Schultern. „Gut.“

Das war so typisch für sie. Da hatte sie einen Job bei einem Millionär, und alles, woran sie dachte war, dass sie seine Sekretärin war. Judith betrachtete sie skeptisch. „Also. Du wirst seine Assistentin sein.“ Sie beschloss, diesen Punkt nicht weiter zu diskutieren. „Und hast du mal wieder mit Benjamin gesprochen?“ In ihrer Stimme schwang ein hoffnungsvoller Ton mit. „Ich bin sicher, dass er dich vermisst.“ Sie sah erstaunt, wie Sarahs Gesicht sich versteinerte.

„Oh, er vermisst mich bestimmt.“

„Also hast du nicht mit ihm gesprochen?“

„Um genau zu sein“, sagte Sarah und trank von ihrem Wasser, „habe ich mit ihm geschlafen.“

Judith zuckte kurz zusammen und lächelte dann. „Ihr seid wieder zusammen? Wunderbar!“

„Ich habe nicht gesagt, dass wir wieder zusammen sind.“

Judith dachte darüber nach. „Oh. Es heißt doch immer, dass der Sex mit dem Ex der beste ist. Alles ist vertraut und trotzdem ganz neu … zumindest habt ihr wieder eine Form der Kommunikation gefunden.“

„Ehrlich gesagt ist der Grund, warum wir nicht wieder zusammen sind der, dass ich, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, erfahren musste, dass er bereits mit einer Frau zusammenwohnt.“

Diesmal war Judith entsetzt. „Wirklich?“

„Also werde ich nicht zu ihm zurückkehren.“ Sarah klang sehr überzeugend. „Niemals. Wenn ich etwas nicht tolerieren kann, dann, dass ich betrogen werde.“

Judith dachte an ihre Korrespondenz mit Roger und die erotische Wendung, die sie genommen hatte. Sie begann, auf ihrer Lippe zu kauen. „Nun, er hat dich nicht direkt betrogen“, sagte sie gedankenverloren. „Ich meine, ihr beiden wart ja nicht mehr zusammen, also war es eher so, dass er jemanden kennen gelernt und dann festgestellt hat, dass er lieber mit dir zusammen wäre.“

„Er hat nicht mich betrogen, sondern diese … wie immer sie auch heißt, Jessica glaube ich“, rief Sarah mit schmerzerfüllter Stimme. „Und es spielt keine Rolle, wen er betrügt. Er ist einfach ein Lügner.“

„Vielleicht ist er durcheinander.“

„Judith, warum verteidigst du ihn?“ fragte Sarah schnippisch.

Stimmt, warum verteidigte sie ihn? „Sarah, ich weiß, dass du verletzt bist, aber ich kann nicht umhin zu denken, dass du zum Teil selbst schuld bist.“

„Was?“

„Nun, versteh mich bitte nicht falsch. Aber wenn du nur ein wenig … nun ja, wenn du in der Lage gewesen wärst, deinen Job besser in den Griff zu bekommen, anstatt so spektakulär alles hinzuschmeißen, wenn du seine beruflichen Probleme besser verstanden hättest …“

„Wenn ich seine beruflichen Probleme besser verstanden hätte, wäre ich seine Sekretärin!“ Sarah spuckte die Worte fast aus. „Judith, ich kann nicht glauben, dass du seine Partei ergreifst!“

„Ich ergreife keine Partei, ich denke nur praktisch.“ Judiths Stimme hätte Wodka gefrieren lassen können. „Du bist diejenige, die unvernünftig ist. Manchmal kommt es mir so vor, als ob ich dich nicht mehr kenne.“

„Vielleicht stimmt das.“ Sarah stand auf. „Vielleicht hast du mich nie gekannt, Judith.“

Judith erhob sich ebenfalls. „Sarah, bitte geh jetzt nicht.“ Sie wartete, sah sich um, spürte die Blicke der anderen. „Mach bitte keine Szene“, fügte sie flüsternd hinzu.

Sarah starrte sie böse an. „Weißt du, was dein Problem ist, Judith?“

„Nein, das weiß ich nicht, aber ich bin sicher, du wirst es mir sagen.“

„Du hast niemals eine Szene gemacht. Niemandem.“

„Und das ist auch nichts, was ich anstrebe.“ Judith setzte sich wieder. Wenn Sarah darauf bestand, sich wie ein Idiot zu benehmen, dann würde sie bestimmt nicht mitmachen. „Danke für dein Interesse.“

„Es tut mir Leid, dass dein Leben so steril ist, Judith. Solltest du jemals über die Mauer klettern, die du um dich herum aufgebaut hast, dann kannst du dich gerne bei mir melden.“

Judith ließ sich nicht einmal zu einer Antwort herab, sondern blickte nur dem frostblonden Haarschopf nach, der durch die Menge tanzte und schließlich irgendwo auf der Straße verschwand.

„Warum sollte ich jemanden aufreißen wollen?“

Martika, die weitschwingende Hüfthosen trug und einen enges, glänzendes Oberteil, das ihre erstaunlichen Brüste und ihr Bauchnabel-Piercing zur Geltung brachte, blickte Sarah schockiert an. „Und warum solltest du das nicht wollen?“

Sarah schaute sich um. Ihr Blick blieb an einem Mann kleben, der aussah aus, als sei er der Verbrecherkartei des FBI entsprungen. Er starrte zurück, als hielte er sie für leckere Vorspeisen. „Dann schau dir zum Beispiel diesen Typ an.“

Martika schüttelte den Kopf. „Wie auch immer, es geht um Quantität, nicht Qualität. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil Männer zu wechseln wie Unterwäsche wahrscheinlicher ist, als eine Unterhose ein Leben lang zu behalten.“

Sarah kicherte und schnappte dann nach Luft.

„Was ist?“

Sarah blickte sich verstohlen um. „Entschuldige. Ich habe ständig Angst, dass dieser gelgefüllte BH, den du mir aufgeschwatzt hast, ein Leck haben könnte.“

Martika lachte. „Wenigstens hast du jetzt ordentliche Brüste. Und Männer mögen das. Sehr. Lass dich von den Models nicht in die Irre führen … vor allem nicht in dieser Stadt.“ Sie wackelte mir ihrem ziemlich üppigen Hintern. „Männer haben keine Lust, mit einem Eisstiel zu schlafen, glaube mir.“

Sarah sah an sich hinunter. „Das könnte ein Problem werden, wenn sie feststellen, dass das alles nur Gel ist.“

Martika wedelte ungeduldig mit der Hand. „Du greifst vor. Noch schläfst du mit niemandem, aber zumindest musst du die grundsätzlichen Regeln lernen. Du lieber Himmel, habt ihr in Fairfax denn nie herumgevö …“

„Fairfield“, verbesserte Sarah. „Natürlich, aber wir haben daraus keine Wissenschaft gemacht.“

„Wenn du etwas tun willst, dann richtig.“ Martika zuckte die Achseln. Sie setzte sich neben Sarah an die Bar. „Gut, suchen wir uns eine Zielperson.“

Sarah blickte sich um und fühlte sich wie ein Käufer auf einer Aktion. Wenn man bedachte, dass normalerweise sie sich so fühlte, als ob sie abschätzend betrachtet wurde, war das mal eine angenehme Veränderung. „Wie wäre es mit dem da?“ fragte sie und nickte in Richtung eines rausgeputzten jungen Mannes, der ein T-Shirt und lange Shorts trug.

„Auf keinen Fall Blickkontakt suchen!“

Sarah sah schnell weg, als der Mann sie anlächelte. „Wieso denn nicht?“

„Das ist ein Collegejunge. Hat wahrscheinlich gerade eine Sportbar verlassen und findet nicht mehr zurück.“ Martika schüttelte den Kopf. „Die bereiten einem mehr Ärger als Freude, glaube mir. Und sie sind lausig im Bett.“

„Oh. Natürlich.“ Als ob sie den Unterschied überhaupt bemerken würde. Aber darüber wollte sie mit Martika nun wirklich nicht diskutieren. „Okay, wonach soll ich also Ausschau halten?“

Martika lächelte. „Such dir jemanden, der Sex geradezu aus allen Poren ausschwitzt und das nicht mal weiß. Jemanden, der dir das Gefühl gibt, der Mittelpunkt des Universums zu sein. Jemanden, der nicht in sich selbst verliebt ist, der seinen Körper zu bewegen versteht, einer, der dir das Gefühl gibt, dass du am liebsten deine Beine um ihn schlingen würdest, nur weil er dich anlächelt. Danach musst du Ausschau halten.“

„Und du findest so einen immer?“ fragte Sarah ungläubig.

„Zum Teufel, nein!“ Martika wunderte sich über Sarahs Naivität. „Aber danach suchst du. Was du mit etwas Glück finden wirst, ist ein Typ, der kein Ein-Minuten-Ei ist und weiß, was er mit seinen Händen anfangen soll. Oder noch besser …“, Martika grinste frech, „… mit seiner Zunge.“

Sarah konnte es nicht ändern. Sie errötete.

„Mann, du bringst mich um den Verstand“, rief Martika, als sie Sarahs rote Wangen sah. „Okay. Hier ist ein möglicher Kandidat.“

Sie meinte einen dunkelhäutigen Lateinamerikaner, der Sarah an ein Gemälde aus der Renaissance erinnerte. Er blickte einmal kurz zu ihnen herüber und sah dann gelangweilt weg.

„Bist du sicher, dass er nicht schwul ist?“ fragte Sarah, als sie bemerkte, dass seine Kleidung, schwarze Hosen und ein enges schwarzes T-Shirt, ziemlich teuer wirkte.

Martika schnaubte. „Vertrau mir. Ich locke mehr schwule Männer an als eine Schwulen-Parade, frag Taylor. Selbst wenn ich in ein Geschäft in East Nutless in Alaska gehen würde, würde der einzige schwule Mann in einem Umkreis von hundert Kilometern mich fragen, wie mir das Hemd gefällt, das er gerade anprobiert hatte. Ich schwöre bei Gott … da!“

Sarah blickte sich erschrocken um. „Was da?“

„Unsere Zielperson.“ Martika klang ziemlich zufrieden. „Er hat zurückgeschaut.“

„Wie bitte?“

„Er sieht zwar gelangweilt aus, aber er schaut uns an. Wir sind ihm definitiv aufgefallen, und jetzt wägt er seine Chancen ab. Es würde ihm besser gefallen, wenn eine von uns hier alleine stünde … das verringert die Gefahr, ausgelacht zu werden. Aber wir sind nun mal zu zweit, vielleicht versucht er trotzdem sein Glück.“

Sarah konnte keinen wirklichen Unterschied zu vorher feststellen und fragte sich, ob Martika das alles vielleicht nur erfand.

Dann sah sie es … der Typ nahm sein Glas, lachte über irgendetwas, das sein Freund sagte, und dann sah er sie direkt an, seine dunklen Augen fraßen sie fast auf. Schließlich schenkte er ihr ein winziges Lächeln, als ob er etwas wüsste, von dem sie keine Ahnung hatte. Ihr Herz klopft ein wenig. Das war wie … auf die Jagd gehen oder so. Es machte Spaß.

„So, nun haben wir ein Ziel. Und jetzt?“ fragte Sarah eifrig.

„Wir lassen ihn zu uns kommen“, antwortete Martika. „Wenn du nicht dabei wärst, würde ich mich etwas offensichtlicher benehmen oder auf ihn zugehen. Jungs mögen das, und ich persönlich hasse es zu warten. Aber wir können schlecht zu zweit auf ihn zugehen. Das ist für meinen Geschmack zu albern.“

„Für mich klingt das gar nicht schlecht“, sagte Sarah nervös.

Martika zog eine Augenbraue in die Höhe. „Willst du es versuchen?“

Sarah wurde sofort panisch. „Du meinst jetzt?“

„Klar. Warum nicht?“

„Ich bin noch nicht so weit.“

„Du hast gerade gesagt, das klingt gar nicht schlecht“, drängte Martika mit glitzernden Augen. „Sorge einfach dafür, dass deine Hüften wackeln, tu so, als ob du einen Laufsteg entlang gehst, die Männer müssen dich bemerken. Und dann fragst du ihn, ob du ihn auf ein Getränk einladen kannst. Ab da ist alles ganz einfach.“ Sie schubste Sarah ein wenig. „Los!“

„Ich weiß nicht …“

Martika stöhnte ungeduldig. „Du musst ihn ja nicht mit nach Hause nehmen, um Himmels willen. Du sollst ihn nur einladen!“

„Ähm …“

„Na gut, dann sag einfach Hallo, in Ordnung?“

Sarah fühlte sich wie eine Schülerin, als sie den Weg zur Bar begann, der ihr endlos erschien. Aber wenigstens warf er ihr mehrere Blicke zu. Sie fühlte sich nicht wohl, so zu laufen. Erst seit Martika so ein Riesentheater um ihren Gang machte, hatte sie begonnen, darüber nachzudenken, und hatte mit einem Mal das Gefühl, dass er steif und unsicher war. Zumindest erreichte sie die Bar ohne zu stolpern. Dabei sexy auszusehen musste sie eben noch üben. Anstatt direkt zu ihm zu gehen, beschloss sie, ein wenig raffinierter vorzugehen. Er hatte definitiv ihren Blick gesucht. Sie stellte sich hinter ihn und lehnte sich an die Bar.

„Was soll’s sein?“ fragte der Barkeeper.

Sarah drehte sich überrascht um. „Hm. Was empfehlen Sie denn?“ fragte sie und versuchte so zu sprechen, dass ihre Stimme mehr nach Lana Turner und nicht nach einer japanischen Comicfigur klang. Der Barkeeper sah sie an. Das hier ist eine Bar, schien sein Blick zu sagen. Ich empfehle dir, etwas zu bestellen, oder den anderen Platz zu machen. Sarah starrte auf die Tafel. „Ich nehme einen … Blue Neon Fogcutter“, sagte sie eifrig.

Der Barkeeper grinste höhnisch. „Mit nur einem Strohhalm?“

„Äh … in Ordnung.“

Er begann mit seiner Arbeit, und sie drehte sich um und überlegte, wie sie ein Gespräch beginnen sollte. Er – die Zielperson – redete mit seinem Freund über Sport, darüber, wie furchtbar schlecht die Dodgers in diesem Jahr abgeschnitten hatten. „Junge, Junge, verdammt schlecht!“ Nein. Sie hatte keine Ahnung von Sport, außerdem konnte es sich um ein typisches New-York-Problem handeln: New Yorker durften sich über ihre Stadt lustig machen, aber wehe, ein Fremder äußerte sich abfällig darüber, dann war vielleicht was los! Worüber sonst konnte sie sich auslassen? „Ich mag es, wie du dich kleidest. Was möchtest du trinken? Kenne ich dich nicht irgendwo her?“ Sie seufzte und ärgerte sich über sich selbst. „Hey Mister, schöne Schuhe. Wollen Sie mit mir schlafen?“ Das wurde ja immer katastrophaler!

„So, bitte schön. Ein Blue Neon Fogcutter. Das macht zwölf Dollar.“

„Zwölf …“ Sie sah das Gebräu an, das er auf die Bar gestellt hatte. Es war in einem Martiniglas – nur, dass das Martiniglas die Größe eines Aquariums hatte. Es war unerhört blau und schien von innen her zu glühen. „Oje.“

„Sieht so aus, als ob du damit eine Weile beschäftigt wärst“, sagte der Barkeeper grinsend. „Willst du immer noch nur einen Strohhalm?“

Sie sah auf das mit Alkohol gefüllte Aquarium vor sich, und plötzlich kam ihr eine Idee. Sie wandte sich nach links. „Ich nehme nicht an, dass du den Drink mit mir teilen willst?“ Dann sah sie auf und bemerkte, wem sie dieses Angebot gemacht hatte. Es war der definitiv nicht so attraktive Freund ihrer Zielperson. Er starrte sie an, als wolle er jede Einzelheit von ihr auf einmal erfassen. „Mit Vergnügen“, antwortete er.

„Tut mir Leid. Ich dachte … du wärst meine Freundin“, sagte sie lahm und blickte zu Martika. Die Zielperson saß auf dem Stuhl, den sie vorhin verlassen hatte, und flüsterte in Martikas Ohr. Martika schenkte ihm nur ein MonaLisa-Lächeln und schlenderte dann langsam zur Bar. Sarah bemerkte, dass die Blicke aller Männer auf sie gerichtet waren.

„Soll ich dir dabei helfen?“ fragte Martika und warf einen Zwanzig-Dollar-Schein auf die Theke. Sie ließ sich das Rückgeld geben, ergriff das Glas und lief anmutig zurück zum Tisch. Sarah folgte ihr. Sie fühlte sich wie ein Idiot.

„Sarah, darf ich dir Rinaldo vorstellen?“ Martikas Lächeln war höflich.

„Freut mich, dich kennen zu lernen“, murmelte Sarah. Rinaldo nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Martika.

„Rinaldo, heute ist eigentlich Mädchenabend“, betonte Martika und sah erst Sarah und dann den Stuhl an.

Er stand auf und beugte sich zu ihr hinüber. „Kann ich dich mal anrufen?“

Martika lächelte. „Hast du was zu schreiben?“

Innerhalb von Sekunden war Rinaldo mit Martikas Telefonnummer in der Tasche wieder bei seinem komischen Freund an der Bar und warf glühende Blicke in ihre Richtung.

„Wie hast du das nur gemacht?“ fragte Sarah und saugte an ihrem Cocktail.

Martika zuckte die Achseln und trank ihrerseits aus dem riesigen Martiniglas. „Das mag noch eine Weile dauern. Ich habe noch nie zuvor jemandem Unterricht gegeben. Aber lass mich zwei Dinge anmerken. Erstens: Stell dich niemals hinter einen Typen und versuche nicht, raffiniert zu sein. Männer sind wie alte Computer. Wenn du willst, dass sie etwas Bestimmtes tun, musst du es ihnen schmerzhaft direkt und vor allem sehr simpel klarmachen. Vertraue mir.“

„Warum hast du dann gerade nicht so was gesagt wie: ‚Hi, wie auch immer du heißt, warum gehen wir nicht zu mir und verbringen eine heiße Nacht?‘ statt ihn wegzuschicken?“

Martika lächelte. „Ähnliches habe ich bereits erfolgreich getan. Aber der wichtigste Grund, das nicht zu oft zu tun, ist: Männer sind komisch. Sie wollen gerne glauben, dass sie die Jäger sind, dass sie den ersten Schritt gemacht haben. Lächerlich, aber so ist es nun mal.“

„Also ging es dir nur darum, dass er das Gefühl hat, die Initiative zu ergreifen?“

„Das klingt viel zu sehr nach diesem Mars-Venus-Geschwätz“, entgegnete Martika genervt. „Ich glaube nicht, dass Männer zurück in ihre Höhlen sollten. Ich weiß einfach, was ich will und wie ich das bekomme. EDG.“

„EDG?“

„Ende der Geschichte.“ Martika grinste.

„Okay. Und wie lautet dein zweiter Ratschlag?“

Martika nahm noch einen Schluck. „Regel Nummer zwei: Bestell niemals wieder so ein schreckliches Getränk.“

Sarah hatte bereits eine Kette aus zweihundertfünfundachtzig Büroklammern gebastelt, bevor ihr klar wurde, dass sie kurz davor war, ein pathologisches, wenn nicht sogar meldepflichtiges Stadium der Langeweile zu erreichen. Nun arbeitete sie schon fast einen Monat hier und hatte bisher nicht viel mehr getan, als nervöse Begrüßungen mit ihrem Chef „Sagen-Sie-Richard-zu-mir“-Peerson auszutauschen. Die erste Woche verbrachte sie damit, die Termine, die er auf Papierschnipsel oder Servietten geschrieben hatte, zu sortieren. Er fühlte sich offenbar unwiderstehlich zu den kleinen Post-It-Zetteln hingezogen, die in sämtlichen Farben im ganzen Zimmer verteilt waren. Dazu kam noch seine kaum zu entziffernde Handschrift. Einmal hatte sie ein Stück Papier gefunden, auf das er etwas gekritzelt und das Ganze dann noch mal in Druckbuchstaben geschrieben hatte. Diesen Zettel behielt sie als Lesehilfe und konnte nun vieles von dem dechiffrieren, was er schrieb. In der zweiten Woche gab er ihr argwöhnisch die Erlaubnis, einen hübschen in Leder gebundenen Terminkalender zu erstehen (er hatte auf burgunderrot bestanden, schwarz wäre so langweilig), und es gelang ihr, kleine Aufgaben-Listen und monatliche Überblicke anzulegen. Richard wurde blass, als er einen Blick darauf warf, deswegen beschloss sie, ihm einfach jeden Morgen zu erzählen, was er zu tun hatte. Er wiederum übereichte Sarah verschiedene Zettel, auf denen er vermerkt hatte, was er wem versprochen hatte und wann was fällig war. Dafür brauchte sie normalerweise eine halbe Stunde. Zwar versuchte sie, die Arbeit ein wenig hinauszuzögern, indem sie jede Eintragung durch einen Schluck Kaffee unterbrach. Inzwischen trank sie schon jedes Mal zwei volle Tassen, während sie seine Post-It-Notizen übertrug, und bereits um neun Uhr fünfzehn hatte sie die Aufgaben-Liste für den Tag vervollständigt.

Das Büro, in dem sie saß, war sehr hübsch: Schwerer Holztisch, moderner PC mit einem großen Bildschirm und DVD-ROM (sie wäre also in der Lage, Spielfilme anzusehen, aber das erschien ihr doch etwas zu auffällig) und ein schwarzes Telefon, das aussah wie aus einem Science-Fiction-Film.

Auf beiden Seiten standen große Bücherregale, dazu gab es einen passenden Aktenschrank und eine Anrichte, beide leer. Richard hatte all die von seiner ehemaligen Assistentin farblich sortierten Akten einfach in eine Kiste geworfen und im Keller verstaut. Eine ebenfalls leere Pinnwand hing an der Wand, und durch das große Fenster hinter ihr fiel Sarahs Blick auf den nierenförmigen Pool.

Außerdem gab es einen großen, runden, in Bronze eingefassten Spiegel, in dem sie sich selbst dabei beobachten konnte, wenn sie wie jetzt ihre Koffeinsucht befriedigte. Sie starrte in den Spiegel und betrachtete sich. Ihr Haar wurde regelmäßig von Joey in Form gehalten, ihr Makeup war dezent und geschmackvoll, und ihre Kleidung das Beste, was sie sich in den Boutiquen, die Pink ihr empfahl, leisten konnte. Sie wollte ja nicht unbescheiden wirken, aber sie sah wirklich toll aus. Sie lächelte ihrem Spiegelbild mit ihren himbeerroten Lippen zu und verzog sie dann zu einem grotesken Schmollmund. Auch wenn sie in der Männerwelt versagte, so sah sie dabei doch wenigstens gut aus. Das Problem war, dass sie nicht genau wusste, was sie eigentlich falsch machte. Sie versuchte ein verführerisches Lächeln. „Hallo“, flüsterte sie. „Mein Name ist … nein. Ich bin Sarah. Ich bin Sarah. Nein, nein, das klingt dumm. Hmm … Ich bin Sarah. Sahrah. S’rah.“ Wenn sie doch nur nicht wie eine Comicfigur klingen würde.

Sie baute sich vor den Spiegel auf. Selbst ihr Chef schien sich nicht recht im Klaren darüber zu sein, dass sie existierte. Sie lief an ihm vorbei, wenn sie zum Mittagessen oder nach Hause ging, ansonsten hörte sie nur gelegentlich das Klicken seiner Tastatur, meistens aber war er gar nicht zu Hause. Sie starrte ihren Oberkörper und ihr Gesicht an, legte dann den Kopf ein wenig zur Seite. „Ich bin Sarah. Kommst du oft hierher?“ Sie lauschte ihren eigenen Worten. Viel zu albern. „Ich bin Sarah.“ Sie lächelte. Okay, das war zum Gähnen. „Dies ist Sarah. Und du bist?“ Sie lachte. Jetzt klang sie wie Martika. Das würde niemals funktionieren. Sie schielte. „Hi, mein Name ist Sarah, und ich bin behindert. Möchtest du vielleicht etwas an den HfL spenden? An den Hilfsfond für Liebesbehinderte? Du könntest auch als Freiwilliger eine Patenschaft übernehmen und jemanden wie mich betreuen und mein eintöniges, aber gut gekleidetes Leben ein wenig aufregender machen.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Oh verdammt. Ich verliere den Verstand!“

„Aber es ist sehr unterhaltsam.“ Das war Richards Stimme. Sarah schielte durch ihre Finger hindurch und fühlte, wie sie knallrot wurde. Langsam ließ sie die Hände sinken.

„Äh, hallo“, murmelte sie. „Wie lange stehen Sie da schon?“

Er starrte sie an, als ob sie zwei Köpfe hätte, aber er lächelte ein wenig.

„Junge, Junge. War das für Sie genauso peinlich wie für mich?“ fragte sie mit einem unsicheren Lächeln.

„Ehrlich gesagt fand ich ihren letzten Versuch den besten. Zumindest glaube ich nicht, dass das schon mal jemand vor Ihnen versucht hat. Sie sollten allerdings noch an Ihrer Stimme arbeiten.“

Sie überlegte, ob ein Sprung aus dem Fenster die Dinge vielleicht verbessern würde.

„Wissen Sie“, fuhr er fort, „Sie sind wirklich sehr nett gekleidet. Und Sie sind ein hübsches Mädchen.“ Er warf ihr einen kurzen, unsicheren Blick zu. „Ich will sie natürlich nicht belästigen.“

„Das weiß ich“, beruhigte Sarah ihn.

„Aber Sie könnten an Ihrem Auftreten arbeiten“, fuhr er fast schüchtern fort.

Sarah starrte ihn an. Dieser Job kann überhaupt nicht mehr seltsamer werden. Aber egal. Sie hatte auf Martika gehört und damit überhaupt keine Erfolge verbuchen können. Vielleicht hatte dieser exzentrische Multimillionär ein paar gute Tipps. „Was würden Sie vorschlagen?“

Er runzelte gedankenverloren die Stirn, bis seine schneeweißen Augenbrauen sich über der Nasenwurzel trafen. „Also, zunächst einmal sollten Sie sich um Ihre Stimme kümmern.“

Sarah stöhnte. „Ich weiß, ich klinge wie aus einem Disney-Film.“

„Das Problem ist, Sie haben eine Stimme wie Minimaus, die versucht wie Margaret Thatcher zu klingen. Arbeiten Sie mit Ihren Stärken, meine Liebe!“

„Sie meinen, daran, jung zu klingen?“

„Ich möchte wetten, dass die Person, die Ihnen momentan Tipps gibt, eine freiberufliche Domina ist.“

Sarah dachte an Martika. „Das kommt der Wahrheit ziemlich nahe.“

„Nun, auf jeden Fall sind Sie so nicht. Das soll überhaupt keine Beleidigung sein, ich meine nur, dass Sie ein anderer Typ sind.“

Sarah seufzte. „Sie meinen, ich sollte einfach die Ehefrau von irgendjemandem sein.“

„Herr im Himmel, nein!“ rief Richard entsetzt. Sarah musste über seine Heftigkeit lachen. „Nein, ich habe eher an Unschuld gemixt mit Übermut gedacht. Mit Ihrem Haar, Ihrem Gesicht und Ihrer Stimme – nun, ich bin vielleicht kein Experte, aber ich finde, Sie sollten viel mehr Pastellfarben tragen.“

Sarahs Blick verdüsterte sich. „Ich mag Pastell, aber ich dachte, ich sollte das nicht tragen. Darin sehe ich so jung aus.“

„Das ist doch ein Vorteil“, versicherte Richard. „Je jünger, desto besser. Ich würde sagen: Machen Sie auf Schulmädchen. Sie könnten aussehen wie … wie heißt sie gleich? Alicia Silverstone. Sie haben zwar kürzeres Haar, sind aber auch eine Art … ich suche nach dem richtigen Ausdruck. Kindfrau!“

Kindfrau.

Er streckte seine Hände versöhnlich nach vorne. „Ja, ich weiß, damit verbanne ich den Feminismus zurück in das dunkle Zeitalter.“ Er grinste schief. „Andererseits ist die Jagd nach Männern, indem man vor dem Spiegel übt, auch nicht viel besser.“

Sarah konnte nicht anders. Sie sah ihn wütend an.

„Auf jeden Fall sind Sie sehr viel witziger als Ms. Honeywell“, fuhr er fort. „Haben Sie schon zu Mittag gegessen?“

Sarah schaute auf ihre Uhr. „Nun, es ist zehn Uhr!“

„Oh.“ Richard blinzelte überrascht. „Dann nehme ich mal an, das heißt nein. Wie wäre es mit einem späten Frühstück?“

Sarah akzeptierte die Einladung. Ganz anders als sonst bei Geschäftsessen mit Vorgesetzten, wo es meist darum ging, über den Vorgänger zu sprechen, eine kurzen Überblick über die Geschäftspolitik des Unternehmens zu geben und ein paar vage Fragen wie: „Was hätten Sie in fünf Jahren gerne erreicht?“ zu stellen, war das Essen mit Richard viel mehr nach ihrem Geschmack. Ehe sie es sich versah, erzählte sie ihm von Benjamin und warum sie nach Los Angeles gekommen war.

„Was, das ist ja ein absoluter Arsch!“ rief Richard und schockierte sie damit so sehr, dass sie ihr Brötchen auf die Tischdecke fallen ließ.

„Seltsam, wie oft das gesagt wird“, murrte sie.

Später im Büro nahmen sie zusammen noch ein gemütliches Mahl ein und machten anschließend einen Schaufensterbummel auf der Third Street. Zwischendurch ging Richard in einen Buchladen und kaufte ihr ein paar Ausgaben seines aktuellen Buches. Erstmals fühlte sich Sarah in ihrem neuen Job wirklich wohl.

„Heute Abend muss ich schreiben“, sagte Richard entschuldigend, als sie wieder ins Büro zurück kamen.

„Es tut mir Leid, dass ich so viel ihrer kostbaren Zeit in Anspruch genommen habe.“

„Nein, nein, überhaupt nicht! Das lädt meine Batterien wieder auf“, rief er. „Muss ich heute sonst noch etwas erledigen?“

Sarah klappte den Terminkalender auf. „Nein.“

„Großartig. Warum nehmen Sie sich den Rest des Nachmittags nicht frei?“

Sarah zögerte. „Im Ernst?“

„Im Ernst! Kaufen Sie ein paar der Kleider, die wir gesehen haben, und nehmen Sie ein Schaumbad.“ Er grinste. „Und trainieren Sie lieber zu Hause vor Ihrem Spiegel.“

Sie streckte ihm die Zunge raus und stellte befriedigt fest, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte: Er kicherte vor Vergnügen.

„Na gut, dann verschwinde ich jetzt. Ich sehe Sie morgen früh in alter Frische.“

„Oh, das hat keine Eile. Kommen Sie, wann immer Sie wollen.“ Er verschwand in seinem Büro.

Sarah sammelte ihre Sachen ein, doch bevor sie gehen konnte, hörte sie Richards Schritte hinter sich. „Sarah! Warten Sie kurz!“

Sie blickte zurück, und sah, wie er atemlos hinter ihr her rannte. „Ja?“

Er reichte ihr etwas, das wie eine Postkarte aussah, doch nach genauerem Hinsehen entpuppte es sich als eine Einladung, eine ziemlich protzige sogar, mit Goldfolie umwickelt. Darauf stand: ANAIS.COM

„Was ist das?“ fragte Sarah.

Richard zuckte mit den Schultern. „Das ist … nun ja, das ist so ein Sex-Magazin. Ein sehr geschmackvolles natürlich. Es ist sogar ziemlich intellektuell. Hat alle möglichen Themen zum Inhalt. Wie auch immer, das Magazin gehört zu dem Verlag, für den ich schreibe und ich kenne den Herausgeber … na ja, das spielt ja auch gar keine Rolle. Auf jeden Fall sind die Partys legendär. Sie können Ihre Freunde mitbringen.“

Sarah betrachtete die Karte. „Ich könnte eine gute Party auf jeden Fall gebrauchen“, sagte sie. Martika wird das gut gefallen! Richard strahlte.