11
Psychische Chirurgie

Die Nekropole schien (wie immer) grenzenlos, erstreckte sich weiter, als das Auge reichte, jenseits aller Hoffnung, jenseits der Welt; eine Todessingularität, bei der die Krümmung der Raumzeit unendlich war. Ewig. Wo war unsere Kutsche? Wo waren unsere Pferde? Es war kalt; ich konnte mich nicht erinnern, dass es jemals so kalt gewesen war; Bodennebel heftete sich uns an die Fersen, kroch uns unter die Kleider. Kein Vergnügen, dieser Ausflug!

»Primavera?«, rief ich und half Morgenstern auf die Füße. Gleich einer surrealen Fotomontage überlagerten einige Londoner Gebäude die vertraute Ödnis, gestrandet zwischen steinernen Endstationen des Lebens. Primavera lief direkt auf sie zu.

»Grosvenor Square«, sagte Morgenstern, während wir uns einen Weg an den Grabsteinen vorbei suchten, um mit Primavera Schritt zu halten. Als wir sie einholten und die Grenze zwischen Nekropole und Platz, die von einem Schotterstreifen markiert war, überschritten, hob sich der Nebel, und wir wateten durch ein Meer aus Gras, um uns herum pseudogregorianische Terrassen und die Ruinen der amerikanischen Botschaft. Mitten in der Nacht leuchtete das einzige helle Fenster wie ein Signalfeuer in einem einsamen Turm. Der Küster dieser Welt des Todes war zu Hause.

Die Tür war offen.

»Doktor?«, rief Primavera. Überall herrschte Dunkelheit, die Möbel waren in weiße Laken gehüllt; durch die Decke drang Klaviermusik zu uns herab. Nachdem wir zwei Stockwerke hinaufgestiegen waren, bemerkten wir unter einer Tür einen Lichtstreifen. Primavera klopfte gegen das Holz. »Doktor? Dr. Toxicophilous? Ich bin es, Primavera.« Die Musik brach ab.

»Herein.« Es war die Stimme eines alten, kranken, atemlosen Mannes. Als wir eintraten, saß er vor einem offenen Feuer. In einen Morgenrock mit Paisleymuster gehüllt und gegen ein Himmelbett gelehnt, hielt er eine Uhrwerkpuppe im Schoß, die er, von unserer Anwesenheit nicht im Mindesten beeindruckt, langsam und methodisch aufzog. Dann stellte er die Puppe ‒ das Modell einer jungen Frau, die an einem Klavier saß ‒ vor sich auf den Boden, und die Musik spielte wieder. »Greensleeves. My Lady Greensleeves. Ich war immer der Meinung, das müsste unsere Nationalhymne sein. Grün. Sprießend. Englisch. Gott schütze die Königin? Ah, bald wird es eine neue Königin geben. Und wir werden auf Schutz angewiesen sein, Gott verfluche sie!«

Automaten bedeckten den Boden. Primavera räumte sich einen Platz frei und setzte sich neben Dr. Toxicophilous, mitten unter ihre Vorgängerinnen aus dem neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Ich atmete durch den Mund. Der Kampfergeruch war entsetzlich.

»Phalibois hat sie gebaut«, erklärte Toxicophilous und streichelte die Pferdehaarlocken der kleinen Musikantin. »In jenem Goldenen Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg. Dem Goldenen Zeitalter der Automaten. Alle hier« ‒ er wies auf das halbe Dutzend Spielsachen zu seinen Füßen ‒ »stammen aus dem Marais-Distrikt in Paris. Ich habe auch einmal in Paris gearbeitet ...«

»Doktor«, sagte Primavera, »ich brauche Ihre Hilfe.« Toxicophilous rieb sich keuchend die Brust.

»Arme Puppe. Ich weiß, dein Uhrwerk ist kaputt; ich habe gespürt, wie es passierte.« Seine Augen wurden feucht. »Es hat mir das Herz gebrochen.« Primavera wiederum hatte die Augen weit aufgerissen und grinste schief. »Erst der Crash. Ah, wie viele wurden dabei ruiniert! Dann die nachgebauten Puppen. Den Leuten gefielen sie. Sie waren billig. Vulgär. Aber sie boten Sex! Dann die Seuche. Was für ein Albtraum!«

»Aber ich habe das Träumen satt, Doktor«, erwiderte Primavera. »Ich möchte aufwachen. Ich möchte wieder in der realen Welt leben.«

»Wir möchten hier raus«, sagte Morgenstern, der noch immer in der Tür stand. »Verstehen Sie? Eine Lilim hält uns in ihrem Programm gefangen.«

»Tick-tack, tick-tack.« Toxicophilous legte Primavera eine Hand auf den Bauch. »Wir Nanoingenieure sind in Vielem wie Uhrmacher. Halbleitertechnologie war auf Elektronik angewiesen; wir dagegen verwenden bewegliche Teile. Rädchen, deren Zähne so klein wie Atome sind; Lager, die Atome miteinander verbinden ... Ja, Sie befinden sich in ihrem Programm. Aber Sie befinden sich auch in einer fassbaren Welt. In einer Uhrwerkwelt.«

»Das weiß ich doch!«, sagte Primavera.

»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Das sind doch nichts als große Worte, die nur besagen, dass ihre neuroelektrische Aktivität stärker ist als die eines Menschen; dass die Wirklichkeit für sie nicht dieselbe ist.«

»Iggy, ich habe gesagt, dass ich das weiß!« Sie seufzte. »Gescrambelt wurde ich trotzdem. Also, Doktor: Helfen Sie uns jetzt? Oder warten Sie, bis die Nanobots kommen?«

Die Falten in Toxicophilous’ Gesicht spannten sich. »Du musst mich wirklich hassen.«

»Na ja, Sie haben mich schließlich in einen Scheißroboter verwandelt!« Primavera stand auf und stieß dabei ein paar der museumsreifen Puppen um, die ihrer Existenz zu spotten schienen. »Das Problem ist nur, dass Sie ein Teil von mir sind. Und ich habe es ziemlich satt, mich selbst zu hassen. Titania sagt ...«

»Titania«, fiel ihr Toxicophilous ins Wort, »war nie ein Mensch. Du dagegen ... ich weiß, was ich getan habe. Ich habe dir deine Kindheit genommen. Deine Kindheit und Jugend. Ich habe dir deine Menschlichkeit geraubt!«

»Wer will schon ein Mensch sein?«, entgegnete Primavera.

»Nur wenige von uns, wie mir scheint. Aber es war meine Absicht, meinen Automaten ein quasimenschliches Bewusstsein zu geben. Deshalb habe ich die Matrix geschaffen. Ich habe nach jenem fraktalen Fluchtpunkt gesucht, jenem Punkt komplexer Einfachheit, aus dem spontan Leben entstehen würde. ›Tote Mädchen‹, haben sie gesagt. Nur weil sie nicht um Nukleinsäuren herum gebaut worden waren. Ha! Ihr Bewusstsein bestand aus subatomaren Partikeln, wie das unsere auch. Ja, ich wollte sie zu Menschen machen!«

»Das haben Sie doch«, sagte ich. »Aber ganz so toll ist das nicht gelaufen, habe ich recht?«

»Ich mag andere infiziert haben«, sagte Toxicophilous, »aber ich war auch selbst infiziert. Die ersten Immigranten, die nach der Auflösung der Pax Sovietica nach Großbritannien kamen, waren Intellektuelle, ehemalige Dissidenten, Untergrundschriftsteller, engagierte Dichter. Sie suchten nach neuen Themen, neuen Zielen. Die Schlimmsten von ihnen glorifizierten die alten Dämonen, die einmal mehr ihr Heimatland plagten: Nationalismus, Populismus, die Paranoia des nicht existierenden Feindes ‒ ein Wahnsinn, den sie in Form überkommener Märchen und Bilder heraufbeschworen. ›Die zweite Dekadenz‹ nannten die Kritiker diese Bewegung. Ich war ein Junge, und ihre Geschichten über Hexen, Golems, Vampire und den Ewigen Juden regten meine Phantasie an.«

»Diese Geschichten sind Teil der Wirklichkeit geworden«, sagte ich.

»Was gar nicht so schlecht ist«, fügte Primavera hinzu und zog eine Augenbraue hoch, die so glatt und schwarz war wie ihr Haaransatz.

»Ah«, sagte Toxicophilous, »aber Geschichten über Hexen enden stets mit dem Scheiterhaufen, und Vampire werden immer gepfählt. Ich habe die Lilim geschaffen, aber ich habe auch den Tod über die Welt gebracht ...« Eine Träne hing an seiner Nasenspitze, fiel herab und klatschte auf das Spielzeugpiano.

»Gütiger Himmel«, sagte Primavera. »Und ich schleppe diesen Kerl in mir herum!« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Hören Sie auf! Sie sind schon seit Jahren tot. Kein Mensch erinnert sich mehr an Sie! Wir wissen nicht einmal, wie Sie wirklich heißen ...« Sie trat auf Piano und Pianistin und zerstörte sie in einer Orgie von Chromatismen. »Sie können uns nicht alle pfählen. Wir werden die Herrschaft über die Welt an uns reißen, genau wie Titania sagt. Habe ich recht, Iggy?«

»Ja klar.«

»Die Welt«, sagte Toxicophilous, »wird zum Phantasiegebilde eines kleinen Jungen werden. Zum Traumgespinst eines morbiden Kindes.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Primavera, »es wird meine Welt sein. Die Welt der Lilim. Vielleicht halte ich mich an Ihre Regeln. Das ist mir egal. Ich bin immer noch ich

»Deine Welt. Du meinst jenen anderen Ort? Den Ort, den du als ›Realität‹ bezeichnest?« Toxicophilous schaute zum Fenster hinaus. »Mir gefällt es hier. Es ist ruhig. Friedlich. Hier, im Herzen der Matrix. Diese Uhrwerkwelt, diese neuroelektrische Welt, diese Welt zwischen null und eins ist für dich die Realität, Primavera. Diese Welt, die unvorhersehbar ist, unbestimmt ... Diese Welt der Magie. Und des Todes.«

Morgenstern verließ seinen Platz an der Tür und trat in die Mitte des Zimmers. »Wenn das ihre Welt ist, kann sie sie von mir aus behalten, aber meine ist es nicht. Können Sie uns hier rausbringen oder nicht?«

»Sie werden diese Welt verlassen, wenn Primavera aufwacht.«

»Großartig«, sagte Morgenstern, »Als ob wir das noch nicht gewusst hätten. Können Sie sie aufwecken?«

»Sie muss von ihrem Traumprinzen geküsst werden. Oder von ihrem Albtraumprinzen, in Ihrem Fall. Die Antwort liegt bei Ihnen, Mr. Morgenstern.«

»Bei mir? Was zum Teufel kann ich schon tun?«

»Sagen Sie ihr die Wahrheit. Das wird sie aufwecken.«

»Was reden Sie da?«, sagte Primavera. »Was weiß dieser Wichser von der Wahrheit?«

Toxicophilous schloss die Augen. »Es betrifft meine Titania. Die Königin, die ich liebe und hasse. Primavera, Liebes, sie hat dich betrogen ...«

»Meine Königin lügt nicht!«

»Ein ganzes Lügengespinst! Habe ich nicht recht, Mr. Morgenstern?«

»Sie werden doch wohl nicht erwarten, dass ich ...« Morgenstern setzte sich auf den Rand des Bettes. »Das ist streng geheim.«

»Dann bleiben Sie eben hier«, sagte Toxicophilous.

»Das geht nicht, ich muss ... He, woher wissen Sie das alles?«

»Ich kenne Titania. Und ich begreife allmählich, wie ich sie vergiftet und dazu gebracht habe, sich zu verändern ... Gott steh mir bei ‒ ich bin Titania!«

»Irgendwas geht da vor«, sagte ich zu Primavera. »Etwas Seltsames. Ich bin mir ganz sicher. Bring sie zum Reden.«

»Etwas Seltsames«, sagte Primavera. »Iggy, das gefällt mir nicht.«

»Etwas Seltsames«, sagte Morgenstern. »Seltsame Methoden für eine seltsame Welt. Seltsam trifft den Nagel auf den Kopf!«

»Wir warten«, sagte Toxicophilous.

»Wenn es uns hilft, hier rauszukommen, dann ...« Morgenstern spuckte in die Hände, strich sich über Haare und Bart und öffnete die Tür seines Beichtstuhls. »Operation Schwarzer Frühling war ausschließlich auf Sie ausgerichtet, mein Junge. Puppen sind hart im Nehmen. Wir haben früher schon versucht, sie dazu zu kriegen, die Wahrheit zu sagen. Ohne Erfolg. Also haben wir uns gedacht, probieren wir es mit einem Junkie. Und Sie ‒ Sie haben alles ausgeplaudert, ohne dass wir Sie auch nur angerührt haben ...«

»Von wegen nicht angerührt!«, entgegnete ich.

»Genau«, sagte Primavera, »vielleicht sollte ich ihm die Finger brechen.«

»Okay, okay«, sagte Morgenstern. »Ich komm ja schon zur Sache. Vorab: Was ich vor einer Weile gesagt habe, ist wahr ‒ wir hatten nie vor, Sie nach England zurückschicken. Ich wollte Ihnen nur etwas Angst einjagen, damit Sie reden. In Wirklichkeit waren Sie für die Staaten bestimmt. Glauben Sie etwa, dass wir uns auf einen Informationsaustausch mit der Reinheitsfront einlassen? Himmel, natürlich tun wir so, als würden wir die RF unterstützen, aber nur, um unsere Zusammenarbeit mit Titania zu decken.

Kurz nachdem die RF an die Macht kam, haben ein paar von Titanias Ausreißern Kontakt mit unseren Leuten an der Front aufgenommen. Am Anfang dachten wir, die wollen uns nur verarschen. Aber dann ist etwas passiert. Manche Leute sagen, der Präsident hätte eine Vision gehabt, andere behaupten, es wäre seine Frau gewesen. Jedenfalls wurde das State Department bevollmächtigt, erste informelle Gespräche zu führen. Es kam zu geheimen Treffen in Berlin, und da überzeugte Titanias Delegation unsere Regierungsvertreter, dass es der RF nicht gelingen würde, die Lilim auszurotten. Die Seuche war zu einer Pandemie geworden. Aber je mehr die Mädchen uns erzählten, umso mehr wurde uns klar, dass wir die ganze Sache zu unserem Vorteil drehen und dass uns die Lilim mit den Mitteln versorgen konnten, uns auf der Weltbühne wieder zu behaupten.

Diese Mädchen waren wirklich umwerfend. Sie machten uns den Vorschlag, sich in die Dienste der US-Außenpolitik zu stellen. Ihr Angebot lautete folgendermaßen: Titania würde ihre Ausreißer in Länder schicken, die für uns von geopolitischer Bedeutung waren. Sobald die Seuche anfing, die Wirtschaft dieser Länder zu schwächen, würde Titania etwas entfesseln, was sie ›das Geheimnis der Matrix‹ nannte. Nur Amerika würde eingeweiht sein, würde begreifen, was da vor sich ging, und wäre in der Lage, sich die Situation zunutze zu machen. Jede Regierung auf der ganzen Welt wäre auf uns angewiesen, damit die Seuche sich nicht weiter ausbreitet ...«

»Halt den Mund!«, schrie Primavera. »Das sind alles Lügen!«

»Das Geheimnis der Matrix?«, sagte ich. »Sie meinen die Tatsache, dass unser Freund hier« ‒ ich deutete auf Toxicophilous ‒ »in jeder Lilim lebt?«

»Oh, da steckt weit mehr dahinter«, sagte Toxicophilous, »viel mehr.«

»Sie und Ihre Geheimnisse können mich mal«, sagte Primavera. »Warum wollten Sie uns nach Amerika bringen?«

»In Thailand lief nicht alles nach Plan. Sie, Primavera, die erste Puppe, die in den Osten geschickt wurde, haben die Leute nicht infiziert. Sie haben sie umgebracht! Wir haben Sie natürlich im Auge behalten, seit Sie hier gelandet sind. Jinx steht schon seit Jahren auf unserer Gehaltsliste ...«

»Das war mein Job!«, fauchte Primavera. »Ich musste sie töten!«

»Klar. Damit konnten wir auch leben. Aber was war mit Ihrer Freizeit? Das genügte uns nicht. Wir hätten uns mit einer anderen zufriedengegeben, einem Ersatz, aber Titania wollte Sie aus dem Weg haben.«

»Und was hatten Sie mit uns vor?«, fragte ich.

»Wir wollten Sie verhören. Titania tut ziemlich geheimnisvoll. Wir vertrauen ihr nur bedingt, und ihre Akte ist nicht vollständig. Also mussten wir unbedingt an weitere Informationen rankommen, und diese Informationen mussten geschützt werden. Als Jinx mich angerufen und mir erklärt hat, was Sie mit Kito machen, haben meine Leute über Nacht so viele Anteile gekauft, wie ich brauchte, um sämtliche Zeugen zum Schweigen zu bringen. Na ja, ob Jinx tot ist, muss sich erst noch zeigen. Ich werde die Pikadons anweisen, sich um ihn zu kümmern, nachdem sie Kito und diesen Italiener umgelegt haben. Letztlich darf nur die US-Regierung wissen, wo Titania lebt.« Er zog eine CD aus seiner Brusttasche. Küsste sie. »Und dank Ihnen, Zwakh, wissen wir es jetzt auch. Irgendwann werden wir sie vielleicht mal ausschalten wollen.«

»Verhören?« Toxicophilous lachte. »Sind Sie sicher, dass das alles ist? Sind Sie sicher, dass es im Pentagon und insbesondere bei der DARPA nicht gewisse Leute gibt, die sich brennend dafür interessieren, was in einer Lilim vorgeht?«

»Kliniken«, sagte Primavera. Sie brachte die Worte kaum heraus, so verzweifelt war sie. »Titania wollte mich in eine Klinik schicken!«

»Wohl wahr«, sagte Morgenstern, »aber das fällt nicht in meine Zuständigkeit. Ich wollte nur reden. Und rauskriegen, was wirklich hinter allem steckt ...«

»Aber warum?«, fragte ich. »Warum sollte Titania eine Puppe hintergehen?«

»Sie tut nur, was ihr Programm ihr eingibt«, erwiderte Toxicophilous. »Der Zweck einer Puppe ist es, zu sterben. Titania führt ihre Töchter in die Finsternis ... Ihr Erbe sind die Ängste, Vorurteile und geheimen Sehnsüchte der Décadence. Wie alle Lilim verkörpert sie den Todestrieb Europas. Primavera, begreifst du nicht, wie sehr du den Tod herbeisehnst? Wie sehr alle Lilim den Tod herbeisehnen? Das ist das ganze Geheimnis. Das einzige Geheimnis der Matrix. Wie sehr wir ‒ du und ich ‒ uns nach dem Untergang sehnen!«

Primavera biss sich auf die Fingerknöchel.

»Ein Cartier-Automat wie Titania verfügt über die Macht, den Todestrieb freizusetzen«, sagte Morgenstern. »Genau genommen hat sie das längst getan. In den Außenbezirken des Nimmerlands. Wir haben sie darum gebeten. Wir wollten sehen, ob das klappt.«

»Wie Schafe«, sagte ich. »Wie Schafe sind sie in den Tod gegangen.«

»Sie kann jederzeit dafür sorgen, dass es losgeht«, fuhr Morgenstern fort. »Egal wo. Aber bei der nächsten Vorstellung wird Titania darauf achten, dass die Lilim für die USA sterben. Und für sonst niemanden. Damit werden wir bei Verhandlungen über ein verdammt effektives Druckmittel verfügen. Manche Puppen geben natürlich nicht ganz so leicht auf. Primavera zum Beispiel. Soweit ich weiß, ruft Titania schon seit Jahren nach Ihnen ...« Morgenstern stand auf. »Mir gefällt das alles überhaupt nicht. Aber wie soll Amerika sonst seine nationalen Interessen wahren? Niemand führt heute mehr Krieg. Das Ende der Geschichte ist da: Demokratie und Kapitalismus haben gewonnen. Wir müssen neue Wege finden! Um zu kämpfen und zu überleben, Herrgott nochmal ...«

»Verzeih mir, kleine Puppe«, sagte Toxicophilous. »Ich wünschte, ich hätte dir ein richtiges Leben schenken können. Aber irgendetwas in mir hat sich nach einem Opfer gesehnt.«

Primavera ging auf unsicheren Beinen zum Fenster hinüber. »Ach, Iggy. Das ist alles zu viel für mich ...« Draußen brach die Nacht herein. Ich folgte ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern. Sie konzentrierte sich auf unser Spiegelbild in der Scheibe. »Es ist vorbei, nicht wahr? Das ist alles, was von mir noch übrig ist ‒ ein Spiegelbild. Ohne jede Substanz. Ohne Bedeutung.« Ich knetete ihre Muskeln; spürte ihre stahlharten Knochen. »Du hattest recht, Iggy. Eine Puppe ist oberflächlich und glatt, nichts anderes. Das habe ich schon immer gewusst. Aber Titania hat mir etwas geschenkt. Keine Seele. Nur etwas, das das Leben erträglich machte. Eine Identität. Ein Ziel. So etwas wie eine Ersatzseele. Und jetzt habe ich nicht einmal mehr das! Sie hat es mit ihren Lügen kaputt gemacht. Warum hat sie das getan? Warum hat mich meine Königin verraten? Kannst du mir das erklären?«

»Titania denkt eben pragmatisch«, murmelte Morgenstern. »Sie begreift instinktiv, worauf es bei Politik ankommt.«

»Halten Sie einfach die Klappe, ja?«, sagte ich und wandte mich um. »Ist Ihnen denn überhaupt klar, was Sie da getan haben? Sie beide?« Ich kickte die Automaten über den Boden. »Das hat doch alles keinen Sinn. Ich bleibe lieber hier. Titania war alles, was sie hatte ...«

»Kommen wir jetzt endlich hier raus?«, fragte Morgenstern.

Ich stürmte auf ihn zu und packte ihn am Bart, der sich prompt von seinem Kinn löste. »Alles, was sie hatte!«, sagte ich. »Titania war etwas, an das sie glauben konnte. Sie hat ihr etwas gegeben, worauf sie stolz sein konnte. Sie hatte den Vorurteilen etwas entgegenzusetzen.«

»Lügen«, sagte Toxicophilous. »Alles Lügen.«

»Ja«, sagte ich und ließ den Bart zu Boden fallen. Noch so ein Trick.

»Ich habe meinen Vater nie gekannt«, sagte Primavera. »Er stammte aus Polen. Hat Mama in Belgrad geheiratet. Dann sind sie nach England gezogen. Er ist gestorben, als ich sechs Monate alt war. Mama behauptet, die Lilim hätten ihn umgebracht. Zwölf Jahre lang war ich eine brave kleine Serbin. Und dann habe ich einen neuen Papa bekommen. Dr. Toxicophilous. Wirklich großartig! Was für ein Leben ...«

Toxicophilous griff in seinen Morgenmantel und hielt einen glitzernden Messingstab in die Höhe. Dann warf er ihn durchs Zimmer. »Jetzt wird es funktionieren«, sagte er. »Probiert es aus.«

»Primavera?«

»Mmm? Ist es Zeit, nach Hause zu gehen? Und wo ist mein Zuhause? Wohin soll ich gehen, nachdem Titania mich verraten hat?« Sie lächelte, und ihre Lippen zitterten.

Ich hob den Schlüssel auf. »Ich weiß es nicht. Primavera, bitte ...«

Sie drehte ihrem Spiegelbild den Rücken zu und legte mir die Arme um den Hals. »Dann mal los«, sagte sie. Ihr Lächeln wirkte unsicher. »Was ist ‒ hast du Angst?« Ihr Schmetterlingsgriff wurde warm und klebrig; ihre Jacke war offen, und ihr Bauchnabel lugte über den Rand ihres Hosenbundes. Sie nahm meine Hand und führte den Schlüssel an seinen Platz. »Beweg dich nicht.« Ihre Fingernägel gruben sich mir in den Nacken. »Nicht atmen. Nicht einmal denken!« Sie wölbte das Kreuz und spießte sich, von Krämpfen geschüttelt, auf dem Messingstab auf. Ihr Schrei zerschellte an meinem Gesicht.

Die Fensterscheiben barsten. Grüner Nebel strömte in das Zimmer. Ein Sturm heulte über die Ebene des Todes.

Morgenstern stieß einen frohlockenden Fluch aus.

»Primavera ...« Eine dünne Blutspur sickerte unter der Tür hervor, hinter der Traum und Wirklichkeit eins waren. Ihre Augen rollten nach oben; ihre Knochen waren zu Staub geworden, ihr Fleisch zu Wasser. Ich schloss sie in meine Arme.

»Keine Sorge, Iggy«, stöhnte sie, »das bin eigentlich gar nicht ich ...« Sie löste sich in Dampf auf und verschmolz mit den Nebelschwaden.

»Lebewohl, kleine Puppe«, rief Dr. Toxicophilous.

Morgenstern schleppte sich, vornübergebeugt und den Kopf gegen den stärker werdenden Sturm gestemmt, zu mir herüber. Aus dem Grasmeer vor dem Fenster erhob sich eine Spindel aus grünem Dunst und verwandelte sich in den Kegel eines Tornados. Dieser Kegel kam auf uns zu gerast, und als der Rand des Mahlstroms die Mauer der Terrasse streifte, wurden wir in einen smaragdenen Kreisel gerissen und wie Herbstblätter in den Himmel emporgeschleudert.

Ich öffnete die Augen; ich befand mich in Spalanzanis Werkstatt, eine nackte Primavera neben mir. Ich betrachtete meine Hand; nur der Abdruck eines Schlüssels war darauf zurückgeblieben.

»Willkommen in der Wirklichkeit«, sagte Jack Morgenstern, das leuchtende Auge des Lasers auf uns gerichtet.

»Sie verdanken ihr Ihr Leben«, sagte ich.

»Erzählen Sie das meinen Jungs. Spalanzani hat sich geirrt. Wir waren da drin aus Fleisch und Blut!«

»Argh!«, ächzte Primavera. »Ich brauche einen Einlauf.«

»Sie finden das wohl komisch?«

»Spielt das eine Rolle? Ich bin nur eine kranke kleine Puppe. Meine ganzen Fähigkeiten habe ich da drüben zurückgelassen. Ich kann nicht mal mehr Ihre widerlichen Gedanken lesen.«

»Sie haben die Informationen, auf die Sie aus waren«, sagte ich. »Erzählen Sie Titania, dass wir tot sind. Sie schulden uns was.«

»Titania?«, sagte Kito, die durch die Trümmer auf uns zu gestolpert kam. »Sie erzählen wieder verrückte Geschichte, Mr. Ignatz?«

»Wenn Sie das möchten«, sagte Primavera. »Meine Magie ist verflogen. Alles weg. Jetzt ist alles egal.«

»Von wegen!«, fauchte Morgenstern. »Ich bringe Sie jetzt wie vorgesehen in die Staaten. Los, Bewegung!«

Die Pikadons bewachten mit gezückten Partikelwaffen die Tür. »Ihr seid also auch wieder da?«, sagte ich. »Schade eigentlich.«

»Schon lange zurück«, sagte eine der Zwillinge.

»Mr. Ignatz lange schlafen.«

»Jetzt ihr machen, was Onkel Jack sagen.«

Primavera und ich schritten Hand in Hand auf die Tür zu. Die Pikadons traten beiseite und folgten uns auf dem Fuß.

»Sie nicht, Madame.«

»Sie bleiben hier.«

»Bang ...«

»... und Boom ...«

»... wollen reden.«

Kito hüllte sich fester in ihren Morgenrock und drückte ihre Stirn an die Wand. »Warum Sie machen das, Mr. Jack«, jammerte sie. »Ich nicht schuld an Puppenplage. Sie mir müssen glauben ...«

»Natürlich sind Sie das nicht«, sagte Morgenstern. »Halten Sie uns für bescheuert? Denken Sie, das kümmert uns? Aber Titania ist real ...«

»Titania?«

»Ja, Titania. Und selbst wenn sie Ihnen ...«

»Verrückte Geschichte wahr?«

»Und selbst wenn sie Ihnen gleichgültig ist ...«

»Nein!«

»... stellen Sie trotzdem ein Sicherheitsrisiko dar.«

»Wer ist Titania, Onkel Jack?«, fragte eine der Zwillinge.

»Vergiss es, Schätzchen. Aber wenn ihr mit Madame fertig seid, kümmert euch um den Italiener.«

»Und Mr. Jinx?«

»Ich glaube nicht, dass Mr. Jinx uns noch einmal belästigen wird.« Morgenstern versetzte mir einen Stoß mit seinem Laser. »Großartige Mädels«, sagte er. »Wunderschön. Tödlich ...« Wir traten in den Garten hinaus; die Tür schloss sich. »Und dämlich. Aber verpetzt mich nicht!«

Primavera drückte meine Hand. »Ich muss es versuchen, Iggy.« Sie fuhr herum und erwischte Morgenstern sauber am Kinn. Es folgte eine kleine Detonation; Morgenstern taumelte einen Schritt zurück ‒ er schielte fürchterlich. Primavera stöhnte und saugte an ihren Fingern, ließ sich jedoch nicht aus dem Konzept bringen und streckte dieselbe Hand aus, als wollte sie einen Zauber wirken, um der Wirklichkeit ein letztes Mal Widerstand zu leisten. Morgenstern, der aus Angst plötzlich wieder klar sehen konnte, hob seine Waffe.

»Nein! Nicht dieses wundervolle Spielzeug!« Spalanzani kam hinter einer von Bougainvilleen und Frangipani überwucherten Laube hervorgestürzt und stellte sich vor Primavera. Ein lauter Knall ertönte; Spalanzanis Kopf wurde nach hinten gerissen, und er sank auf den Kiesweg, sein Zwicker mit der Haut verschmolzen. Primavera drohte einen Moment das Gleichgewicht zu verlieren, fing sich dann jedoch wieder. Zwischen ihren Augen befand sich plötzlich ein rosafarbenes, qualmendes Loch, dessen Ränder wie schwelender Kunststoff Blasen warfen. Sie sah mich mit der Unbekümmertheit einer betrunkenen Zeichentrickfigur an und brach dann in schallendes Gelächter aus.

Die Kuppel öffnete sich. Die Pikadons kamen zu Morgenstern herausgerannt. »Nicht aufregen«, sagte Primavera. »Ich komm ja schon mit ...« Sie ließ ihre Schultern kreisen und nahm dann wieder meine Hand. »Das hätte er wirklich nicht tun müssen. Der arme Trottel.« Aus der Stirnwunde floss kein Blut, obwohl ich sehen konnte, dass sie tief war. Vorsichtig steckte sie einen Finger hinein. »Sieht so aus, als müsste ich mein Make-up auffrischen.«

Wir wandten unseren Entführern den Rücken zu (Primavera ließ ihre Mähne fliegen und wackelte kurz mit dem Hintern) und setzten unseren letzten Weg fort.

»Wartet!«, kreischte Kito. Ich schaute über die Schulter und sah, wie sie sich an der Sprechanlage am Eingang der Kuppel zu schaffen machte. Wie der Transcom ließ sich der Hörer in einen Laser verwandeln. »Jetzt werden kein Steely Dan daraus.«

»Jetzt«, sagte eine der Zwillinge und hob ihre Schusswaffe, »auch keine kleine Fähnchen.«

Die drei Halbmenschen standen einander wie Protagonisten in einem Psychozygo-Western gegenüber ‒ gut, böse und bijou.

»Ihr nur dummes Gesindel«, sagte Kito. Ihre Lippen waren geschwollen, und sie blutete aus der Nase. »Ihr glauben, ihr können mir Nana einfach wegnehmen? Ich Mama-san von roboto okuku, bevor sie schneiden euch aus Plastikbauch. Von Waisenhaus zu Schönheitskönigin ‒ Miss Cashewnuss, Miss Wassermelone ‒, war Teufelskreis. Ich fast verrückt, bis ich kommen nach Bangkok und arbeiten in Bar, dann kaufen Bar, kaufen Soi, kaufen Nana: Ihr glauben, ihr mich können auf Kopf hauen? Und Sie«, sagte sie zu Morgenstern, »Sie ganz großer Lügner! Ich so dumm ...«

»Ich bin zu alt, um mir von einem Telefon Angst einjagen zu lassen, Madame.« Ein unsichtbarer Lichtstrahl ließ innerhalb von einer Mikrosekunde ein kleines Stück von Jack Morgensterns Oberschenkel verdampfen. Aus seiner Waffe löste sich ein Schuss ‒ mehrere exotische Pflanzen gingen in Flammen auf ‒, bevor sie zu Boden polterte und ein bewusstloser Fleischberg auf ihr landete.

Die Partikelwaffen der Pikadons brachten nur ein Klick, Klick, Klick zustanden, als sie abdrückten; und schon hatte Kito ihren Strahler auf sie gerichtet. »Aufhören!«, fauchte Kito, als würde sie zwei bösartige Kinder ausschelten. »Ich zuerst aufwachen. Nehmen Batterie aus Pistole.« Die Zwillinge wechselten verlegene Blicke. »Schlechter Tag für euch, als Smith & Wesson fusionieren mit Mattel. In die Kuppel!« Kito verriegelte die Tür von außen und ließ die Zwillinge mit den Fäusten gegen Stahlplatten trommeln.

»Erschießen Sie ihn, Madame«, sagte ich.

»Ich nicht wollen Ärger mit CIA. Mr. Jack keine kleine Ganove, den man kann umbringen ohne Probleme. Komm, Primavera, du wieder für mich arbeiten. Du auch, Mr. Ignatz. Wir nehmen Wagen. Fahrstuhl bringen uns nach unten in Garage.«

Primavera reckte den Kopf aus dem Kerker ihrer Verzweiflung. »Wir haben es geschafft«, schrie sie ‒ die Gehässigkeit einer Mörderin vermengte sich mit dem Überschwang eines Cheerleaders. »A, B, AB, O ‒ macht uns alle wieder froh! Rhesusfaktor, Rhesusfaktor, yeah, yeah, yeah!« Dann nahm der Abgrund sie jedoch wieder in sich auf.