9
Die Lilim
Mein Kindermädchen hat mir als Erste von den Lilim erzählt. »Sie sollen das Land erben«, sagte sie. Eine Silhouette ihres Profils wurde vom Nachtlicht an die Wand geworfen, zum Schattenspiel meiner Spielsachen. Oft zog Nursie die Männchen auf und ließ sie über die Kommode hüpfen, sodass das Schlagen ihrer winzigen Trommeln und Becken, das Klappern von Weißblechgliedmaßen in meiner Erinnerung stets ihre Worte begleitete. »Was für hübsche Automaten! Pantalone, Harlekin, Pierrot ... dein Vater verwöhnt dich wirklich maßlos! Aber hüte dich vor ihr, Peter.« Sie hob die zappelnde Colombina hoch, das Ebenbild meiner Angebeteten. »Hüte dich vor toten Mädchen. Vor ihren allzu roten Lippen. Vor ihren Herzen aus Eis.«
Dann hielt sie inne, ihre Wangen schamrot, und murmelte: »Oje, oje, das wäre wirklich die Aufgabe eines Mannes.« Und sie erklärte mir, was es mit den Lilim auf sich hatte. Wie die meisten Jungs wusste ich natürlich schon eine Menge aus den schmutzigen Witzen meiner Schulkameraden. Aber Nursie lag nicht meine moralische Erbauung am Herzen, sie wollte mich warnen. »Das Dienstmädchen«, sagte sie zum Abschluss ihrer Biologiestunde. »Du siehst sie zu häufig. Was für ein unreines, boshaftes Weib! Dein Vater begreift das nicht. Du darfst nicht an sie denken!« Aber wie konnte ich nicht an sie denken ‒ an Titania, meine lebende Colombina? Und in dem Moment fragte ich mich: Wusste Nursie Bescheid? (Doch worüber?) Dieses schmale Profil mit den hohen Wangenknochen, das über die Wände geisterte, diese hartherzigen, finster-volkstümlichen Worte, dieser Lavendelgeruch, wenn sie mir einen Gute-Nacht-Kuss gab: Nursie läuterte meine Träume.
In jenem Sommer sprudelte die Sonne jeden Morgen wie Limonadenchampagner in mein Zimmer. Die Sommerferien befanden sich auf ihrem Höhepunkt, die Welt gehörte mir und Titania, und Nursies Worte waren Schnee von gestern. Wenn ich den Vorhang aufzog, blickte ich auf den Grosvenor Square hinunter, der von großen, pseudo-georgianischen Gebäuden gesäumt war. Die Ruine der alten amerikanischen Gesandtschaft lag direkt gegenüber, halb hinter dichtem Ulmenlaub verborgen; die Luft duftete und war vom Murmeln der Bienen erfüllt. In jenem Sommer geriet mein Fleisch in Aufruhr; meine Stimme brach; mein Herz erblühte. Damals wusste ich noch nicht, dass meine Kindheit auf dem Altar der Lilim geopfert werden würde.
Es begann eines Morgens. Titania war in der Küche. Ihre Uniform, die mein Vater entworfen hatte, war von Tenniels Alice-Illustrationen inspiriert: ein Trägerkleid ‒ rosa, nicht wie üblich blau ‒ umspielte ihre Knie; eine gestärkte Schürze; bunt gestreifte Strümpfe; und rosafarbene Satinpumps. (Mein Vater begrüßte sie stets mit den Worten: »Na, wie geht es uns heute im Wunderland?«) Cornflakes und ein Krug Milch standen für mich bereit.
»Lass uns doch wieder mal ins Land der Seven Stars gehen. Wie wäre es mit heute?«, fragte ich meine hübsche Freundin. »Dort gibt es eine Menge zu tun.«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Peter«, zwitscherte sie, wobei ihre vogelgleiche Koloratur (»Meine Nachtigall!«, sagte mein Vater immer) einen auffälligen Kontrast zu ihrem autistischen Gesicht bildete. Tief unglücklich kaute ich auf meinen Cornflakes herum.
»Aber du hast doch eine Lizenz. Wegen Nursie musst du dir keine Sorgen machen.«
»Mrs. Krepelkova mag keine toten Mädchen. Das weißt du. Manchmal ... manchmal habe ich Angst.« Sie wandte sich der Spüle zu und schrubbte sichtlich aufgewühlt Töpfe und Pfannen. Plötzlich erstarrte sie und presste sich eine Hand auf den Bauch.
»Kann Vater das nicht reparieren?« Ich bemerkte das nicht zum ersten Mal.
»Ich habe Angst«, entgegnete sie. »Es geschieht! Ich spüre es in meinem Innern.«
Ich rührte in meinen Cornflakes herum, bis sie nur noch eine einzige Pampe waren. Mir war der Appetit vergangen. Der Morgen verdüsterte sich.
»Vater sagt, dass Nursie nur eine törichte, abergläubische alte Frau ist.«
»Die ganze Welt wird immer abergläubischer.«
»Bitte, Titania.« Mein flehentlicher Unterton riss sie aus ihrer Selbstbefangenheit.
»Ich gehe später einkaufen«, sagte sie mit volltönender Stimme. »Wenn dein Vater dir erlaubt mitzukommen ...«
Ihr Gesicht blieb immer dasselbe: ausdruckslose Augen, grün und übernuminos, ein gleichbleibender Schmollmund; die blutlosen Wangen; das elfenhafte Kinn und die spitzen Ohren; die niedliche Nase einer Disney-Prinzessin. Dasselbe galt auch (denn sie war eine Puppe, und Puppen sind so) für ihre Sanftmut ‒ sie war maßlos zuvorkommend.
Aber all das sollte sich ändern.
Im Zimmer meines Vaters herrschte ewiges Zwielicht; die Vorhänge waren zugezogen, und es roch nach Büchern und Kampfer. Die Bücher waren überall: Bände über Maschinenbau und Kunstgeschichte; Pergamentausgaben von Schriftstellern der »Zweiten Dekadenz« aus den 1990ern; dünne Hefte über Spielzeugfertigung aus dem Nürnberg des 17. Jahrhunderts; und Raritäten wie die Mechanische Magie von Bischof Wilkins. Auch Gemälde gab es hier, darunter Originale von Künstlern des 20. Jahrhunderts wie Hans Bellmer, Balthus und Leonor Fini. (Mein Lieblingsbild stammte von dem Briten Barry Burman. Es trug den Titel »Judith« und zeigte ein pubertierendes Mädchen, das Lederhandschuhe trug und den abgeschlagenen Kopf des Holofernes hochhielt.) Beherrscht wurde das Zimmer jedoch ‒ sah man von dem großen Bett ab, das dem schwindsüchtigen Körper meines Vaters Hohn sprach ‒ von den Automaten. Sie lauerten in den Schatten, ihre kinetische Latenz die sprungbereiter Raubtiere. Hier konnten Meisterwerke aus dem Zeitalter der Vernunft bewundert werden: Der Schreiber und die Organistin von Pierre Jaquet-Droz, die Vater aus den Schatzkammern des insolventen Musée d’Art et d’Histoire in Neuchâtel erworben hatte; die singenden Vögel von Jean Frederic Leschot; sowie ein Zauberer, ein Trapezkünstler, Affen, Clowns und Akrobaten von den Brüdern Maillardet. Aus einer späteren Zeit besaß er einen Autoperipatetikos von Enoch Rice Morrison, eine Figur mit einem Kopf aus Biskuitporzellan; mehrere elegant gekleidete Mädchen von Gaston Decamps; eine Musikautomatenpuppe von Gustav Vichy; und (ein Geschöpf der Nacht!) eine Steiner-Puppe mit einem Mund voller Haifischzähne, die ihr den Spitznamen »Die Vampirpuppe« eingebracht hatten.
»Titania geht einkaufen. Darf ich sie begleiten?« Vater griff nach seiner Brille und blinzelte mich an.
»Mrs. Krepelkova macht sich Sorgen um dich und Titania.« Ich schluckte und vergrub meine Hände in den Hosentaschen. Er kicherte heiser. »Sie findet, dass ich zu liberal bin.« Stille. Das Tablett des Invaliden war mit Buttermuffins überhäuft; die Vorhänge schaukelten sanft in der Sommerbrise. »Peter, was möchtest du werden, wenn du groß bist?«
»Ein Automatenbauer, so wie du. Ein berühmter Automatenbauer!«
»Nein. Sag das nicht! Nicht mehr. Die Zeiten der Spielzeugfabrikanten sind vorbei! Die Zukunft gehört Leuten wie Mrs. Krepelkova.«
»Aber Titania ist keine Lilim«, sagte ich. Mein Vater musterte mich bestürzt.
»Was für Geschichten hat Mrs. Krepelkova dir da erzählt? Geschichten von Hexen und Sukkuben und Golems? Meiner Treu, der Kopf dieser Frau ist voller Unsinn! Sie liest zu viele schlechte Zeitungen und hört auf läppische Politiker. Peter, es gibt keine Lilim! Du bist ein intelligenter Junge: Du musst nicht alles glauben, was du hörst.« Er schnaufte wie eine löchrige Ziehharmonika. »Mrs. Krepelkova ist eine brave Frau. Sie hat ein gutes Herz. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn du das nächste Mal aus den Ferien auf dem Land nach Hause kommst, bringst du jemanden mit. Ich weiß, dass du Titania magst, aber du brauchst auch andere Freunde! Um ihretwillen.«
»Als ich klein war, hatten wir jede Menge Puppen. Damals hat das niemanden gekümmert.«
»Das waren noch andere Zeiten«, erwiderte mein Vater. Unvermittelt wurde ich von Erinnerungen heimgesucht: die reichen Gönner meines Vaters, die sich in unserem Haus die Klinke in die Hand gaben; die phantastischen Automaten, die uns bei Tisch bedienten; meine Mutter, die nach dem Abendessen über einen Witz lachte, ihre Wangen schon damals von mutierten Tuberkulosebazillen gezeichnet, dem Fluch jener Belle Époque in Europa. »Der tückische Wurm«, seufzte Vater, nahm die Brille ab und ließ den Kopf auf das Kissen sinken. »Lass uns lieber an glücklichere Zeiten denken. Zum Beispiel an den Tag, als ich vom Comité Colbert entdeckt wurde ...« Seine Augenlider zuckten, während er sich mühte wach zu bleiben. »Ich hatte gerade meinen Abschluss am Fashion Institute of Technology gemacht. Ihnen gefiel meine englische Hauteur, die Stutzerhaftigkeit, die ich mir zugelegt hatte, seit ich als Junge die Autoren der 90er-Jahre gelesen hatte. Frankreich war damals der de luxe-Markt der Welt. Das kommt mir vor wie gestern ...« Er schloss die Augen; seine Stimme wurde ein Flüstern. »In Paris habe ich für Hermès, Louis Vuitton, Dior und Chanel gearbeitet, später dann für Boucheron und Schiaparelli. Als ich deine Mutter kennenlernte und nach London zurückging, war ich der beste Quantenmechaniker Europas. Automaten! Unter allen Luxusgütern waren sie am begehrtesten. Und Europa gab auf dem Markt für Luxusartikel mit seinem L’Art de Vivre den Ton an. Aber die Quantenelektronik birgt zahlreiche Probleme ...« Er riss die Augen auf. »Das größte davon ist ...?« Er setzte sich auf. »Wirklich, Peter, das habe ich dir jetzt oft genug erklärt!«
»Die Quantenunschärfe«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. »Das unvorhersehbare Verhalten subatomarer Partikel.«
»Tachyonen, Leptonen, Hadronen, Gluonen, Quarks ‒ Einzelgänger! Randalierer! Sie waren mein Ruin.«
»Der Crash«, sagte ich. »Ich dachte, der Crash hätte dich ruiniert.«
»Nach dem ›schwarzen Sonntag‹ gerieten wir zunehmend in Schwierigkeiten. Der Crash war erst der Anfang. Um mit den pazifischen Randgebieten konkurrieren zu können, haben wir tiefer und tiefer in die Struktur der Materie eingegriffen, immer großartigere Spielsachen erschaffen.« Er strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Der tückische Wurm! Es war richtig, dass wir gescheitert sind. Wir waren einer esthétique du mal verfallen. Wir schufen Leben, um unsere Eitelkeit zu befriedigen; das Leben hat uns zur Rechenschaft gezogen. Wenn man auf der Quantenebene arbeitet, Peter, und mit den Bausteinen des Lebens hantiert, dann verschwimmt der Unterschied zwischen Stil und Seele. Und Gott lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen ...«
Es klopfte an der Tür. Nursie kam herein, in den Händen eine dampfende Schüssel Kampfer. »Zeit zum Inhalieren, Sir.« Sie stellte die Schüssel ab. »Tss! Hat dieses Mädchen noch nicht einmal Ihr Frühstück abgeräumt!« Sie zupfte an der Bettdecke herum und hielt schließlich einen dünnen Faden ans Licht. »Rosafarbene Spitze, rosafarbene Bänder, rosafarbene Strümpfe. Ein rosafarbenes Mädchen. Rosafarben! Rosafarben! Rosafarben bis zu ihrem Schokoladenherz!« Sie streckte die Hände nach den Muffins und der Teekanne aus, aber Vater schob sie beiseite.
»Das ist alles, Mrs. Krepelkova, vielen Dank.« Gekränkt wandte sie sich um.
»Soll ich Ihre Automaten aufziehen, Sir?«
»Das macht Peter schon, Nursie. Bis später. Vielen Dank.« Sie lächelte schüchtern ‒ dass er sie bei ihrem Spitznamen genannt hatte, wog ihre Enttäuschung wieder auf. Im Hinausgehen wuschelte sie mir durchs Haar.
Ich wich ihr aus; sie hatte Titania verunglimpft!
»Sie behauptet, dass die Lilim Männer fressen«, sagte ich, nachdem Nursie fort war, um sie in Misskredit zu bringen; vielleicht wurde sie ja dann davongejagt. »Dass sie andere vergiften. Und dass sie Kinder umbringen, um sie mit ihren eigenen auszutauschen.« Vater lachte, aber er tat meine Behauptungen nicht völlig ab; er wusste nur zu gut, was diesen Groschenromangeschichten über den Aufstieg der Puppen wirklich zugrunde lag.
»Die Realität, so heißt es, ist nur schwer zu ertragen«, sagte er. »Sei nicht so streng mit ihr. Sie hat Angst.«
»Und Leute, die Angst haben«, erwiderte ich, um das Klischee zu vervollständigen, »sagen törichte Dinge.«
Er seufzte, ging jedoch auf meinen Sarkasmus nicht ein. »Aber wie sollte sie auch keine Angst haben? Wir sind alle verführt worden, die Welt ist erkrankt und geht schwanger mit unseren halbmechanischen Erben. Hören wir auf, über Nanotechnologie zu reden, Peter! Alle geben sie uns die Schuld ‒ uns, den Puppenmachern. Ich möchte nicht, dass sie ihre Aufmerksamkeit auch noch auf dich richten.« Er beugte sich vor, um die aromatische Opfergabe einzuatmen, die Nursie ihm dargebracht hatte.
»Titania geht gleich los. Darf ich sie begleiten? Bitte?«
»Als ich sie gebaut habe, war ich auf dem Höhepunkt meiner Schaffenskraft. Sie war meine Beste.« Schwitzend und mit roten Augen begutachtete er seine Automaten. »Zieh sie mir auf, Peter.« Meine Hände griffen in die feuchten, frisch geschmierten Motoren und setzten sie in Gang. »Titania ist ein braves Mädchen. Sie würde dir nie etwas tun. Niemals.«
»Dann darf ich mitgehen?«
Die Automaten erwachten: Ein Affe, der wie ein Stutzer aus dem 18. Jahrhundert gekleidet war, nahm eine Brise Schnupftabak; ein Zauberer zersägte ein nacktes Mädchen; die Steiner-Puppe stürzte zu Boden, krümmte sich und kreischte; jemand ‒ etwas ‒ spielte die Marseillaise; Vögel stimmten ihr Lied an. Bald tobten die ganzen nutzlosen Spielsachen um das Bett meines Vaters herum wie ein Pöbelhaufen vor den Toren des Palasts.
»Ihre Zeit ist gekommen«, sagte Vater. »Ja, du kannst gehen. Dieses Mal noch.«
Der Bentley bahnte sich seinen Weg durch die Seitensträßchen von Mayfair. Titania fuhr. Sie spähte über das Lenkrad und bog mit der Unbekümmertheit einer Unsterblichen in die Bond Street ein. Mit dreizehn (Titania war schon immer dreizehn gewesen) schienen die Fähigkeiten ihrer motorischen Neuronen denen eines Kindes zu entsprechen; und obwohl es in dieser Geisterstadt wenig wahrscheinlich war, dass wir jemanden fahrlässig töteten, hielt ich immer wieder im Rückspiegel nach Leichen und ‒ noch unwahrscheinlicher ‒ Polizisten Ausschau. Die Straße war leer (tagsüber waren die Straßen immer leer), die sich entfernenden Bilder zugenagelter Fenster hinter uns ‒ Cartier und Tiffany, Ebel und Rolex ‒ funkelnde Fassaden des Niedergangs. In den Ausstellungsräumen waren inzwischen nur noch an die Wände gesprühte Symbole der Reinheitsfront zu sehen und Graffiti, die »England für die Menschen«, »Seid stolz auf eure Sterblichkeit« und »Sperrt sie alle ein!« schrien.
Bei Fortnum & Mason kauften wir Corned Beef und Kappes (der Laden wurde von einem ukrainischen Ehepaar geführt, das ‒ wie mein Vater ‒ dazu verurteilt war, in der Stadt zu bleiben) und begaben uns dann auf die geheime Teilstrecke unserer Tour. Unser antikes Automobil donnerte die Shaftesbury Avenue, die Holborn und die Cheapside entlang und immer tiefer in die City hinein. In der Nähe von St Paul’s sahen wir ein paar Techniker, die in Kanalschächte hinunterstiegen, um den verklemmten Nerv einer verhätschelten KI zu massieren. Sie bemerkten uns ebenfalls ‒ oder eher Titania, denn sie gestikulierten plötzlich wild und verschwanden in der Tiefe.
»Vor was haben die Angst?«, fragte ich. »Puppen zeigen sich doch nur nachts.« Titania, so vergnügt wie ein Vogel, lachte ohne jede Ironie.
In Whitechapel angekommen, bogen wir in die Brick Lane ein und parkten unter einem kyrillischen Schriftzug: LADA. Das Schild gehörte zu einer Lagerhalle, die, wie die verlassenen Borschtsch & Wodka-Imbissbuden ganz in der Nähe, ein Erbe jener Jahre war, als die bengalische Enklave den sowjetischen und osteuropäischen Migranten überlassen worden war. Von harter Währung angelockt, sollten sie der rückläufigen Geburtenrate im Westen entgegenwirken ‒ damals war es Mode, mit künstlichen Geschöpfen zu verkehren. Eine Zeit lang übernahmen die »Slawen« in den Augen englischer Rassisten die Rolle der »Pakis«. Allerdings nur so lange, bis die Menschen lernten, das Wort »Lilim« auszusprechen.
Wir betraten die Lagerhalle durch eine Seitentür. Durch das Wellblechdach fiel Licht schräg auf Auspuffrohre, Motorenteile und einen Samowar. In einer Ecke, wo Rost die Falltür weggefressen hatte, durch die einst Lieferungen ins Seven Stars gebracht worden waren, stolperte das Licht, stürzte und verschwand im Abgrund. Wir stiegen die Treppe hinab; Titanias Katzenaugen leuchteten grün, während sie mich sicheren Schrittes in den dunklen Keller führte. Obwohl ich nichts sehen konnte, wusste ich, dass sich eine Vielzahl von Kerzen wie Stalagmiten in einer verwunschenen Grotte aus den Trümmern erhoben. Ich hörte, wie Titanias Hand durch die Luft fuhr; die Kerzen flammten auf und zerstreuten unsere Schatten. Zum Vorschein kamen, den Schätzen einer ägyptischen Grabstätte gleich, die uns wohlvertrauten Bierfässer und Weinregale, ein Billardtisch und mehrere Münzspielautomaten.
An einer Wand hing das alte Kneipenschild, das wir neu bemalt hatten. Eine ganz in Scharlachrot gekleidete Frau, von der Sonne eingehüllt, den Mond unter den Füßen und mit sieben Sternen gekrönt, blickte auf uns herab. Sie hatte grüne Augen und war wunderschön.
»Unsere Flagge«, sagte ich und salutierte vor ihr.
»Unser Planet!«, sagte Titania. »Hier fühle ich mich sicher. Zumindest in deiner Gegenwart.« Sie wischte eine Spinnwebe von den Füßen Unserer Lieben Frau. »Was hat dein Vater heute Morgen zu dir gesagt?«
»Nichts von Belang«, erwiderte ich und griff mir eine Farbdose. Ich wollte unbedingt das Thema wechseln. »Lass uns anfangen. Das hier wird unsere Welt!« Doch Titania setzte sich niedergeschlagen auf einen beinlosen Flipper.
»Peter, das ist nur eine Zuflucht. Ich kann hier niemals zu Hause sein! Für die Leute werde ich immer das ›Ding aus einer anderen Welt‹ bleiben.« Sie fuhr mit einem langen roten Fingernagel über die Wand, und ich bekam eine Gänsehaut. Im Verputz blieb der Umriss eines Herzens zurück. »Und sie haben recht ‒ ich bin ein totes Mädchen. Du solltest dich wirklich nicht mit mir abgeben ...« Ein Hauch von Koketterie hatte sich in ihre Spieluhrstimme geschlichen. Links neben das Herz malte sie ein »T«, rechts ein »P«; dann rümpfte sie kurz die Nase und durchbohrte das Herz mit einem Pfeil. Schließlich lächelte sie, ohne dass sich ihre unerschütterliche Miene im Mindesten aufhellte, und ich verspürte einen Stich in der Magengrube. »Aber außer dir habe ich keine Freunde. Was würde ich ohne dich tun? Ein totes Mädchen braucht doch einen Freund!«
Erst vor Kurzem, nachdem ich aus dem Norden zurückgekehrt war, hatte ich bemerkt, wie hübsch sie war. So zart und blass! Wegen unseres kleinen Dienstmädchens, das mir jahrelang nur eine Spielgefährtin gewesen war, wälzte ich mich die ganzen langen Sommernächte schlaflos im Bett herum.
»Ich mag ...«, sagte ich, Mund und Hals plötzlich wie ausgetrocknet. »Ich mag tote Mädchen.« Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln wie ein nicht zu unterdrückender Lachanfall bei einer Beerdigung. »Mach dir keine Sorgen wegen Vater. Er behauptet, es gäbe keine Lilim.«
»Nein«, sagte sie und kicherte freudlos. »Wir Puppen glauben an nichts. Wir haben nichts. Wir tun nichts. Uns gibt es überhaupt nicht! Ich wünschte ...« Als hätte ihr jemand in barschem Tonfall einen Befehl erteilt, stellte sie wieder ihre gewohnt autistische Miene zur Schau. »Licht«, sagte sie knapp, »mehr Licht.« Die Kerzen leuchteten heller, und die Flammen wurde grün, sodass wir uns in einer Meereshöhle zu befinden schienen, im Schatten eines Baldachins aus Seetang. »Eine Puppe braucht etwas, an das sie glauben kann. Genau wie Mrs. Krepelkova. Wir brauchen ... eine Erklärung!« Eine Träne rann ihr die gläserne Wange hinunter. Ich hatte nicht gewusst, dass tote Mädchen weinen können. »Die Leute behaupten, ich sei eine Lilim. Warum sollte ich auch keine Lilim sein? Warum nicht? Wenn ihnen das doch so wichtig ist!«
Ich kniete vor ihr nieder und vergrub meinen Kopf in ihrem Schoß. »Sag nicht so was! Auf Leute wie Mrs. Krepelkova musst du nichts geben.« Ihre Hand, weiß und unmenschlich kalt, berührte meine Stirn, rasiermesserscharfe Nägel ritzten meine Haut.
»Ich würde dir nie etwas tun. Das weißt du doch, Peter, nicht wahr?« Sie strich mir übers Haar. »Erinnerst du dich noch, vor Jahren, als dein Vater mich dekantiert und mit nach Hause gebracht hat? Wie schön deine Mutter war! Ich habe sie sehr gemocht. Wenn das Leben nur wieder so sein könnte!«
»Das wird es. Glaub mir, das bekommen wir hin. Wir werden einen Weg finden.« Ich hielt ihre Hand und blickte hoch in ihr tränenverschmiertes Gesicht, dessen Perfektion der Makel des Inhumanen anhaftete. Unter dem dünnen Baumwollkleid spürte ich ihre kalten Oberschenkel und die Kugelgelenke ihrer Knie.
»Mir ist es egal«, flüsterte ich, »ob du eine Lilim bist oder nicht.« In einem plötzlichen Luftzug flackerten die Kerzen, und der Raum verdüsterte sich. »Wir könnten ... du könntest ...« Ein Speichelfaden hing an ihren liebreizenden vollen Lippen. »... dafür sorgen, dass alles wieder so wird wie früher ... eine Welt der Puppen ...« Aus dem Luftzug wurde ein Wind. Ihre Lippen öffneten sich, und ihre Augen wurden riesig. Spucke troff ihr aufs Kinn. Der Wind blies durch mich hindurch, ein himmlischer Mistral, der mich erstarren ließ. Im Bann ihrer Schönheit grub ich meine Hände in ihr Kleid, bis meine Knöchel ganz weiß waren. Ihr schwarzes, volles Haar umpeitschte ihr Gesicht, das jetzt dem eines unheilvollen Engels glich; ihre Augen leuchteten wie grünes Eis. Der Wind heulte, und das Eis war in mir.
»Nein!«, schrie sie da, »ich will nicht, ich will nicht!« Der Wind flaute ab und stieß einen letzten, verzweifelten Seufzer aus. Ihre Zunge zuckte echsengleich über ihre Lippen und leckte weißen Schaum.
Ich stöhnte.
»Das darfst du mich nicht noch einmal bitten. Führe mich nicht in Versuchung!« Sie presste sich die Hände auf den Bauch. »Ich spüre es hier drin. In meinem Uhrwerk. Das Gift.« Dann zog sie einen großen Messingschlüssel aus der Tasche. »Hier«, sagte sie. »So machen wir es. Das ist besser. Ich kann dich zurückversetzen. In eine Zeit, in der alles wieder so ist, wie es einmal war.« Der Schlüssel war ungefähr fünfzehn Zentimeter lang und hatte einen Schmetterlingsgriff, die Spitze ein ungeschliffener Smaragd. Wieder wehte ein böiger Wind, ein Unwetter drohte aufzuziehen.
»Das ist Vaters Schlüssel.«
»Er benutzt ihn nicht mehr. Er ist zu krank. Er vermisst ihn nicht.«
»Er hat mir verboten, ihn anzufassen.«
Titania legte mir den Schlüssel in die Hand.
»Hab keine Angst«, sagte sie, schob sich ihr Kleid über die Taille hoch und entblößte ihren weißen Bauch, der Bauchnabel ein Grübchen in der seidenweichen Halbkugel; tief und dunkel übte er seinen Zauber auf mich aus. Titania schloss die Augen und wartete. »Bitte, Peter«, sagte sie. »Du musst dafür sorgen, dass das Gift verschwindet.«
Unbeholfen schob ich den Schlüssel hinein.
»Vorsichtig.« Sie zuckte zusammen. Ich spürte, wie der Schlüssel einrastete. Titania schnappte nach Luft. Ich begann ihn zu drehen. »Langsam«, sagte sie. »Langsam.« Tief in ihr zischte und fauchte etwas: Mathematische Monster regten sich. Selbstvergessen sank sie auf den Flipper; ihre mitternachtsschwarzen Locken wirbelten Staub auf. Der Schlüssel ließ sich immer schwerer drehen; mir taten die Finger weh. Ich zögerte, weil ich befürchtete, etwas könnte brechen. »Noch ein klein wenig«, sagte sie, »nur noch ein klein wenig.« Mit beiden Händen drehte ich den Schlüssel um hundertachtzig Grad weiter. Sie schrie mit unfassbar hoher Sopranstimme. Der Flipper leuchtete auf; Flaschen zerbarsten an der Wand; Kerzen explodierten wie Magnesiumfackeln.
Der Wind, der ungeduldig hinter den Kulissen gelauert hatte, stürmte jetzt durch den Keller. Er umtoste nur mich und ignorierte alles andere. Ich wurde von den Füßen gerissen. Während ich mich an dem Schlüssel festklammerte wie ein verankerter Drache, wirbelte der Wind mich in einer wilden Zentrifuge herum. Der Keller verwandelte sich in ein Meer aus Lichtstreifen; Titanias Bauch, eine weiße, weitläufige Fläche, eine salzversengte Tundra, zog mich hinein in seinen finsteren Minenschacht. Der Bauchnabel war zu riesenhafter Größe angewachsen, ein schwarzes Loch, das mich in ein anderes Universum saugte. Ich fiel in sein samtenes Maul.
In freiem Fall stürzte ich durch einen dunklen Tunnel, der von blutroten alphanumerischen Zeichen erleuchtet wurde. Der Tunnel erstreckte sich in die Unendlichkeit; und während ich fiel, dröhnte ein Dschungelrhythmus durch seine Wände. Ich wurde von Turbulenzen erfasst und überschlug mich; aber Furcht empfand ich keine; mein Herz raste glücklich, angenehme Schauer wie bei einer Achterbahnfahrt überliefen mich. Blut und Kristall vermischten sich, nahmen die Konsistenz von Bernstein an, wurden lachsrosa. Der Tunnel war zu einer pinkfarbenen Glasmembran geworden. Das Pulsieren wurde schwächer, die Membran platzte. Ich roch Gras, spürte Sonnenschein auf meinem Gesicht, hörte Stimmengeplapper. Schließlich öffnete ich die Augen.
Ich befand mich auf dem Grosvenor Square und spielte mit Mama. Um uns herum betrachteten die Reichen und die Schönen ‒ Filmstars, Modeschöpfer, Künstler ‒ mürrisch die Paparazzi, die überall herumschlenderten. Ich aß ein Eis; Vater unterhielt sich mit Freunden. Unsere Automaten, Treacle, Tinsel und die nagelneue Titania, tanzten mit einigen unserer Gäste Quadrillen. Männliche Puppen in der Gestalt von Harlekin und Pierrot, Gilles, Scapino, Cassandre und Mezzotinto schenkten Wein aus und reichten Kuchen. Halb wach, halb schlafend ruhte ich an Mamas Brust und beobachtete, wie die Tanzenden zur höfischen Musik einer gamme d’amour ebenso kunst- wie würdevolle Muster bildeten. Es war einer von Vaters »Watteau-Nachmittagen«: ein vergnügliches Possenspiel zur Sommerwende, eine dem Meißener Porzellan abgeschaute Idylle, der ein wenig Raum und Zeit eingeräumt wurde.
Titania tanzte an uns vorbei. War ich schon damals in sie verliebt gewesen, wenn auch ohne es zu wissen? Meine Colombina, die Soubrette, in den lieblichen Satin und die Rocaillefalten des frühen achtzehnten Jahrhunderts gehüllt! Sie winkte mir mit ihrem lackierten Fächer. Gläser klirren, Bienen summen. Die Zeit schläft tief und fest.
»Meine Arbeit« ‒ die Stimme meines Vaters weht vorüber ‒ »besteht darin, die spirituelle Physiognomie der Materie bloßzulegen.« Die Unterhaltung wendet sich Nanorobotern zu, den neusten molekularen Maschinen. »Auf die Größe eines Moleküls reduziert, neigen Komponenten dazu, sich selbstständig zu machen; aber ich lerne allmählich, Quanteneffekte auszunutzen und das Chaos zu handhaben.« (Ein Blitzlicht explodiert.) »Inzwischen habe ich Assembler entwickelt, die nicht nur Atome manipulieren können, sondern auch subatomare Partikel. Die Automaten, die sie hier sehen, wurden von Cartier in Auftrag gegeben und entstammen einem mikrophysikalischen Reich, wo Geist und Materie, Traum und Wirklichkeit nebeneinander existieren. Wirklich fabelhafte Spielsachen, nicht wahr?« Er hebt die Hand zu einer Geste, die Titania und ihren Klan einschließt. »Meine Herren, ich präsentiere ihnen L’Eve Future!«
Der Applaus wird von einem Donnerschlag übertönt. Es fängt an zu regnen.
Daran kann ich mich nicht erinnern.
Es regnet Milch.
Und Treacle, Tinsel und Titania ‒ Modeaccessoires, denen wir kein Leben zuerkennen ‒ stehen mit offenem Mund da wie frisch geschlüpfte Küken; Regentropfen perlen ihnen über das zerwuschelte Haar, und ihre Kleider sind nass und klebrig; sie sehen aus wie in Ekstase erstarrte Totemtiere.
Titania?
Die Gäste rennen in Deckung, während das Gewitter über ihnen einen Höhepunkt erreicht; der weiße, zähflüssige Regen droht London zu überschwemmen. Die Flut reißt mich aus Mamas Armen, trägt mich unerbittlich weiter, auf Titania zu und auf die roten, roten Lippen, die einer riesigen, in Neonlicht getauchten Plakatwand gleichen, auf der für blutroten Lippenstift geworben wird.
»Nein!«, ruft Titania. »Nicht du, nicht du!«
Ich erwache schweißüberströmt. Im Keller wehte kein Lüftchen mehr. Titania zupfte ihr Kleid zurecht.
»So war es gar nicht«, sagte ich.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich entweihe sogar die Vergangenheit.«
»Nein«, sagte ich. »Das ist schon in Ordnung. Wirklich!«
Sie presste sich die Hand auf den Bauch. »Es ist da. Du hast es gesehen. Das Malignom.«
Ich stand peinlich berührt auf und kaute auf der Unterlippe. »Ich hab doch gesagt, es ist in Ordnung. Es spielt keine Rolle. Genau genommen ...«
Titania krümmte sich vornüber, ihre kreidebleichen Gesichtszüge verzerrten sich zu einer Maske des Schmerzes.
»Bitte geh«, sagte sie. »Das wird schon wieder. Aber jetzt möchte ich alleine sein.« Ich zögerte. »Peter, bitte geh!«
Von Zweifeln erfüllt stieg ich zur Straße hinauf, nahm das Klapprad vom Kofferraum des Bentley und radelte nach Hause; vorher hatte sie mir versprechen müssen, dass sie mit dem Wagen nachkommen würde, sobald sie sich wieder gefasst hatte.
Ich respektierte ihre Wünsche immer.
Aber natürlich kehrte sie nicht zurück.
»Die Lilim«, sagte Nursie, während sie meine Spielsachen aufzog, »sind überall.« Sie gab mir mit spitzen Lippen einen Kuss auf die Wange.
An jenem Abend war Nursie durchs Haus gestapft und hatte gemurmelt: »Wo steckt nur dieses Mädchen? Wo ist diese Robotnik?« Mein Vater schmollte allein in seinem Zimmer. Als sie jetzt neben meinem Bett stand, sagte mein Kindermädchen selbstzufrieden: »Ich habe es doch gesagt. Dir und deinem Vater! Aber hört hier irgendjemand auf mich? Nein! Krepelkova ist nur eine törichte Babuschka.« Sie hatte ein zerlesenes Taschenbuch im Schoß liegen: Das Puppenproblem ‒ Lilith und ihre Töchter, die Bibel der Reinheitsfront.
»Lilith war Adams erste Liebe. Aber sie war stolz und eitel und wurde ehebrüchig ...« Sie schlug das Buch auf und zog eine Fotografie zwischen den Seiten hervor. »Lilith ist die Gefährtin Satans, Peter. Sie ist die Königin der Sukkuben. Nachts besucht sie die Menschen, um ihre Kinder zu verderben ...« Sie hielt die Fotografie hoch. Das Porträt eines jungen Mädchens, einer blonden Manqué mit schwarzen Haarwurzeln, deren elfenhafte Züge verrieten, dass sie eine Rekombinante war: grüne hysterische Augen und eine kränklich blasse Gesichtsfarbe, die nahelegten, dass sie sich von Quark und Süßigkeiten ernährte. »Erst habe ich meinem Schwiegersohn die Schuld gegeben«, sagte Nursie. »Er hat mir nie erzählt, wie es passiert ist. Aber ich glaube nicht, dass er es darauf anlegte, untreu zu werden. Puppen können sehr verführerisch sein.« Sie betrachtete den Schnappschuss eingehend. »Man kann noch immer erkennen, dass sie teilweise menschlich ist. Wenn man genau hinschaut. Was war sie doch für ein entzückendes Kind, als sie geboren wurde! Wir hatten ja keine Ahnung. Das zeigt sich erst, wenn sie zwölf oder dreizehn sind. Die Augen werden grün. Leuchtend grün. Und das Gesicht ‒ das ist kein menschliches Gesicht mehr. Es wird ...« Sie hielt inne und runzelte die Stirn. »Hübsch. So unglaublich hübsch! Aber bei einem Kind ist diese Art von Schönheit abscheulich.« Das Buch rutschte ihr vom Schoß und fiel zu Boden. »Arme Katja! Sie war eine Tochter Liliths, und sie haben sie gezwungen, den grünen Lilimstern zu tragen. Dann ging das mit der Lactomanie los. Und sie haben sie mitgenommen. In eine Klinik. Meine kleine Enkeltochter ...«
Als ich einschlief, hielt ich Titanias Schlüssel unter meinem Kissen fest umklammert.
Am nächsten Tag radelte ich in die Brick Lane zurück. Der Bentley stand noch immer vor der Lagerhalle. »Titania!«, rief ich. Aber die Lagerhalle war leer. Ich stieg in die Welt des Seven Stars hinab; meine Taschenlampe scheuchte überall Schatten auf.
Sie war fort. Ich atmete die übelriechende Luft ein und wollte gerade wieder die Treppe hinaufsteigen, als mir ein großer Wassertropfen vor die Füße klatschte; ich zuckte zusammen und fuhr herum. Das Licht der Taschenlampe fiel auf einen bernsteinfarbenen Sack, der an der Decke hing; darin zeichnete sich die Gestalt einer Frau ab, die die Beine angezogen und die Arme um die Brust geschlungen hatte. Sie bestand völlig aus rohem, bebendem Gallert mit Plastik, Metall und Edelsteinen darin. Ich musste würgen, ließ die Taschenlampe fallen und rannte weg.
Ich raste mit dem Bentley zurück nach Mayfair; zu den Partikelwaffen und Überwachungskameras, die unser Haus umgaben; zurück in die Welt der Menschen.
»Wo ist sie?«, fragte Vater. Ich sagte es ihm. »Es gibt nichts, was wir tun könnten«, entgegnete er. »Nichts.« Er zupfte an seiner Bettdecke herum. »Ich hätte nie geglaubt, dass das passiert. Nicht mit ihr. Nicht mit Titania!«
»Wird sie sterben?« Ich wagte kaum, die Worte auszusprechen.
»Die Philister behaupteten, sie wären bereits tot. ›Tote Mädchen.‹ Ein Nexus formaler Regeln. Ohne wirkliches Bewusstsein. Nein, sie wird nicht sterben. Sie wird jetzt ihr eigenes Leben führen.« Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine auf den Boden. »Ich muss zu ihr.« Er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt und verhedderte sich in seinem Bettzeug. »Diese Cartier-Puppen!«, sagte er, als er wieder Luft bekam. »Und ich dachte, ich würde elegante Damen erschaffen, die im 18. Jahrhundert zu Hause gewesen wären, sanftmütige, grazile Wesen!« Er deutete auf die Berge von Büchern, die sein Bett umgaben. »Die Dekadenten! Schriftsteller und Künstler, die meine Jugendträume mit Chimären, Vampiren und Sphinxen erfüllt haben. Ah, die verderbte Kindheit ... ich habe es versucht, Peter. Ich habe versucht, mich gegen diese Finsternis zu wehren. Meine subatomaren Maschinen waren darauf programmiert, Engel aus dem Pandämonium zu pflücken. Aber Atome können nur unter dem Aspekt ihrer Interaktion mit dem Betrachter verstanden werden. Wenn wir über die Welt unterhalb der Quantenebene sprechen, sprechen wir über uns selbst.«
Im Dickicht meiner Gedanken fletschte etwas Entsetzliches die Zähne, sprungbereit und gefährlich. Ich forderte es heraus: »Hast du Titania vergiftet?«
»Ich habe immer anderen die Schuld geben!«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich habe behauptet, unsere Konkurrenten in Fernost hätten irgendeinen Fehler in ihre Programme eingeschleust. Aber der Virus stammt von mir. Zwischen den Zeilen von Titanias Programm, in dem unendlich komplexen fraktalen Text lauern meine finstersten Kindheitsträume. Und jetzt kommt der Subtext ans Licht, das Gift sickert durch ...« Er hustete.
»Ich gehe sie holen.«
»Nein!« Er setzte sich auf. »Ich gehe selbst, morgen früh. Es wird schon dunkel.« Die Sonne leuchtete rot und aufgedunsen über dem Grosvenor Square. Die Juwelenaugen der Automaten meines Vaters funkelten. Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Sie kann nicht mehr nach Hause kommen, Peter. Das musst du begreifen. Ihre Fähigkeiten ... sind gewaltig. Ich habe sie in einem Quantenfeld gezüchtet, der Essenz jeglicher Form. In ihr werden Raum und Zeit, Geist und Materie eingehüllt von ... von was? Von einer Realität, die ich nicht erfassen kann. Die physikalischen Gesetze haben für sie keine Geltung. Sie ist eins mit dem Wesen des Universums. Sie ist die Gestalt gewordene Schöpfung!« Er blickte zum Fenster hinaus, sein Gesicht von den letzten Sonnenstrahlen rot erleuchtet. »Aber ich habe die Schöpfung vergiftet. Ich habe ihr das Leben geschenkt, Peter; ich muss es ihr auch wieder nehmen. Morgen, bevor sie wiedergeboren wird.« Er seufzte. »Woher nur das Bedürfnis kommt, Schönheit zu erschaffen?«