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Go-Go? Go-Go!

»Aber was hat Kito denn nun mit der Puppenplage zu tun?«

Wir fuhren mit der Hochbahn Richtung Nana Plaza. Aus Angst, erkannt zu werden, hatte ich mir meinen Panama ins Gesicht gezogen (wir waren nur zwei Haltestellen von Kitos Schlupfwinkel entfernt); Primavera dagegen sonnte sich in den verstohlenen Blicken der zahllosen Voyeure.

»Weißt du denn nicht, was die denken? Noch so eine dieser Dermoidjunkies, jede Wette ‒ eine Hautsüchtige, die dem künstlichen Fleisch verfallen ist.«

»Natürlich weiß ich, was sie denken, du Dummkopf!« Ihre Gedanken waren so laut, dass ich mich selbst nicht mehr hören konnte. »Ist mir doch egal. Das sind eh alles Roboficker. Zweibeinige Phalli, hat Madame immer gesagt. Und du solltest aufpassen, wen du als Junkie beschimpfst!«

»Okay, okay. Aber was ist, wenn uns jemand erkennt?«

Widerwillig griff sie in ihre Schultertasche, setzte eine witwenschwarze Sonnenbrille auf und schüttelte ihr Haar. (Drei Jahre lang war eine wöchentliche Investition in eine Flasche Haarfärbemittel ihre einzige Tarnung gewesen. Kontaktlinsen? O nein, sie doch nicht.) Dann wandte sie den anderen Fahrgästen den Rücken zu und blickte in die Nacht hinaus. Ihre Raubtierzähne marterten ein großes Stück Kaugummi.

»Also?«, dachte ich. »Kito‒Puppenplage; Puppenplage‒Kito. Wo ist der Zusammenhang?«

Unter uns funkelte der Big Weird wie ein bodenloser schwarzer Teich, der mit einer Million phosphoreszierender Wasserlilien verseucht war: Konzerne, Banken, Hotels, Privatwohnungen ‒ alle vom Buddha in Gestalt einer Million riesiger Hologramme bewacht. Die Schwebebahn, die sich gerade um eine Kurve schlängelte, war fast über dem Nana.

»Nun?«

Primavera hatte glasige Augen bekommen. Sie starrte in die Ferne, wo der nadelgleiche Turm der Siamese Space Agency einen begehrlichen Finger himmelwärts reckte.

Unwirklich. Eine Spiegelung. Ein vom Nichts geworfener Schatten. Als würde mich das kümmern! Ich bin eitler als eitel. Stolz. Monströs. Schamlos. Ich rede mit Ihnen, Dr. B! Wo sind Sie jetzt? Noch immer den Kopf zwischen den Schenkeln kleiner Mädchen? Spielen Sie noch immer den Rattenfänger? Ein blauer Montag in der Klinik. Mitten im März mitten in der Menarche. Es ist kalt. Feucht. Und ich habe Durst. Wie geht es uns heute? Ich sterbe, Dr. B. Ich sterbe und verwandle mich. Mein Fleisch ist wie Nougat. Mein Gehirn explodiert. Und ich sehe Dinge, die nicht da sind. Verrückte Dinge! Korridore, zum Beispiel. Korridore, die von Türen gesäumt sind. Endlos, endlos. Spiegel in Spiegeln in Spiegeln. Und hinter jeder Tür, hinter jedem Spiegel liegt eine andere Welt. Eine andere Zeit. Primavera, du weißt, dass du diese Türen nicht öffnen sollst? Ja, Herr Doktor. Und dass du die Spiegel nicht zerschlagen darfst? Natürlich, Herr Doktor. Und die Tabletten? Jeden Tag, Herr Doktor. Morgens, bei Vollmond und abends. Und die Rocksaum-Neurose? Ja, viel besser, wirklich viel besser, Dr. Bogenbloom ...

»Nun?«

»Geschlechtskrankheiten«, flüsterte Primavera in meinem Kopf. »Madame war früher eine Meisterin der Geschlechtskrankheiten.«

»Sie stellt Geschlechtskrankheiten her?«

»Nicht mehr. Aber vor Jahren hat sie bei Handelskriegen immer wieder darauf zurückgegriffen. Die Europäer sabotierten ihre Puppen, und sie bastelte einen Virus, der im Gegenzug die Puppen der Europäer außer Gefecht setzte.«

»Aber das«, sagte ich, während ich ganz allmählich zu begreifen begann, »hat rein gar nichts mit der Puppenplage zu tun.«

»Nein«, erwiderte Primavera. »Genau darauf wollte ich hinaus.«

»Nana Plaza«, verkündete eine ausdruckslose Stimme. »Zum Nana Plaza hier aussteigen

»Jetzt sei ruhig«, sagte Primavera, »und folge mir.«

Unser Abteil lehrte sich. Wir verloren uns in der Menge, ließen uns von geballter männlicher Libertinage davontragen (Nana war fest in der Hand geifernder Schwanzlurche; ein Treffpunkt der Heteros): überwiegend Farang, in den langweiligen, abgekupferten Zwirn gekleidet, den der Weird seit über hundert Jahren produzierte. Ich hörte die verschiedensten Akzente heraus: Amerikanisch, Australoasiatisch, europäisches Kauderwelsch ... Ein gläserner Fahrstuhl, so groß und breit wie die Treppen in den alten Hollywood-Musicals, brachte uns auf die Straße hinunter. Die Band legte los, und die Straßen zogen ihre Nummer ab ‒ alles drehte sich um Narzissmus, Sex und Habgier: ein Lied, das Nana auswendig kannte.

Wir standen mitten auf dem Platz, auf einer Arena, um die herum sich, in weiten Kreisen ansteigend, Go-Go-Bars erhoben wie eine neonbeleuchtete Hochzeitstorte zur Feier der Vermählung von Mensch und Puppe. Die oberen Stockwerke des Platzes befanden sich noch im Bau: In mit Nanoware bestückten Stahltanks wuchsen die Bars heran, die nächstes Jahr eröffnen würden. Aus den untersten Schichten wurde der Platz mit Musik beschallt, eine Kakophonie von Halbtönen und Vierteltönen, die das Gehirn mit weißem Rauschen zukleisterten. Es roch durchdringend nach gegrilltem Tintenfisch, offenen Abwasserkanälen, gynoiden Pheromonen und Apotheken, die die ganze Nacht geöffnet hatten. MOLEKULARE ROBOTER ‒ HORMONE ‒ GENSCHEREN ‒ CSF: an, aus, an, aus, ununterbrochen.

Sie starrten mich an. Alle starrten mich an: Farang, durch erhobene Bierkrüge, die enorme Mengen von Aphrodisiaka enthielten; Puppen mit stechendem Blick und herausfordernder Miene; Hologramme, die sich verzweifelt an mir rieben; ein Ballonverkäufer, der ein Bündel mit Wasserstoff gefüllter Köpfe hinter sich her zerrte. Nana war voller Augen, der Augen verrückter Männer und Frauen. Und jetzt standen die Augen, ein Markt aus Kreisen und Ellipsen, in Flammen ...

Tödliche Visionen bestürmten meine aufsteigenden Nervenbahnen.

Ich fing an zu zucken; mein rechter Arm verkrampfte sich. Meine Kleider bekamen einen Anfall.

»Iggy, hör auf! Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um...«

»Ich kann nichts dagegen tun! Es, es, es ...«

Dermaplast ist ein somatisches Gewebe ‒ es verstärkt die Sinne. Mikroskopisch kleine Fasern verbinden das periphere Nervensystem des Materials mit dem des Trägers.

Primavera wusste sofort Bescheid. Sie packte meine Hose an einer Stelle direkt über dem Steißbein und riss eine Handvoll zweite Haut herunter. Die Krämpfe hörten auf.

»Ich habe ihr Kortex erwischt«, sagte sie und zerquetschte den weißen Kunststoff, bis das maßgeschneiderte Melanin ihr zwischen den Fingern zerlief. »Ein mieser Trip, was? Die Elektromuskeln entspannen sich jetzt. Das ist das letzte Mal, dass ich bei Daimaru einkaufe. Alles in Ordnung?«

»Nichts, was eine Bluttransfusion nicht beheben könnte.«

Die Sukhumvit Road führte mitten durch den Nana Plaza, und wir mussten eine Fußgängerbrücke nehmen, um das Wasser zu überqueren und jenen Wirrwarr aus Restaurants, Schneidereien, Juweliergeschäften, chirurgischen Praxen und Bars zu erreichen, der seit der Belle Époque unter dem Namen »Französisches Viertel« bekannt war. In diese Halbwelt der zum Stil erhobenen Billigangebote kam die abgehalfterte Aristokratie von Europas Informationselite, um jenen Snobismus zu heucheln, den sie sich nicht mehr leisten konnte.

»Schau mal«, sagte Primavera. »Marsianische Edelsteine!« Sie drängte sich an zwei Schaufensterguckern vorbei und drückte ihre Nase an die Scheibe. In der Auslage erstrahlten Modeartikel aus Neo-Lalique, die vorgeblich aus dem Fels des roten Planeten hergestellt waren.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte ich. »Außerdem weißt du doch, dass die nicht echt sind.« Der Mann, den Primavera beiseitegestoßen hatte, sah mich wütend an, murmelte etwas, das verdächtig nach der Sprache der untergegangenen Großmacht Deutschland klang, nahm seine Begleiterin am Arm und eilte davon. Diese Typen waren überall ‒ Europunks, die vor der Wirklichkeit davonliefen. Jungen und Mädchen, die nach ihren verlorenen Spielsachen suchten.

Eine feuchtwarme Brise fegte knöcheltiefen Smog über den Asphalt; Kohlendioxidemissionen vermischten sich mit dem Methan, das aus einem Khlong in der Nähe sprudelte (und mit anderen Schadstoffen, die nur im Big Weird vorkamen und so neuartig waren, dass sie unter Naturschutz gestellt werden sollten), und beschworen eine billige Gruselatmosphäre herauf. Ein Tourist ließ eine Zigarettenkippe fallen; Primavera und ich wichen zurück. Ein Blitz, die Luft ging in Flammen auf, und der Farang wandte sich zu uns um, halb entschuldigend, halb vorwurfsvoll, sein Gesicht so schwarz, als wäre ihm eine Zigarre im Mund explodiert.

Wir steuerten das Grace Hotel an.

In den Eingängen des Thin Lizzy, des Robogirl und des Kiss and Panic gingen Mechaneusen auf Kundenfang. Wirklich alberne Kreaturen ‒ aber lautete der Reklamespruch der Automaten-Nerds nicht »Männer mögen alberne Frauen«? Die phallozentrische Nacht löste ihre tropismatischen Schaltungen aus, sodass sie sich, den prüfenden Blicken der Menge ausgesetzt, anspannten wie Bogensehnen. Primavera nahm meinen Hut und zog ihn sich bis über die Ohren; wir waren der Bienenkönigin jetzt zu nahe und durften nicht riskieren, dass ihre Arbeiterinnen uns erkannten. »Wegen der Gynoiden mache ich mir keine Sorgen«, sagte Primavera, »schon eher wegen der ganzen Farang, die Kito am Rockzipfel hängen.«

»Wie Willy Hofmannsthal, zum Beispiel?«, fragte ich. Hofmannsthal ‒ ein uralter Mann (mehr Androide als Mensch), dessen Körper nur noch Flickwerk aus Fleisch, Stahl und Plastik war, von den Nanomaschinen, die unablässig sein Gewebe reparierten, ganz zu schweigen ‒ Hofmannsthal saß vor seiner Bar, dem Puppenkeller. Ich nahm Primavera am Arm, und wir gingen zu einem Zeitungskiosk; dort kauften wir ein Magazin (auf dem Cover tanzten kleine Männchen), das wir als Fächer gebrauchten. Wir versuchten uns hinter ihm zu verstecken. »Das ist zu offensichtlich«, sagte ich. »Hier rein ...« Wir betraten eine jeux vérités-Spielhalle.

Während wir sie durchquerten, begrüßten uns aus jeder Kabine Schreie, Gelächter und andere lautstarke Gefühlsäußerungen. Vielleicht waren die Spieler gerade damit beschäftigt, ihre Mütter umzubringen, die Weltherrschaft an sich zu reißen oder St. Ursula und ihre 11000 Jungfrauen zu vögeln, bevor sie sie mit Napalm kaltmachten. Alphawellen-Monitore an jeder Tür zeigten an, wenn einer von ihnen auf Drängen des Traumgestalters aus seinem drogeninduzierten Schlaf aufgewacht war, während er sich immer noch in der REM-Phase befand. Primavera legte die Hände auf die Ohren. »Hört auf!«, schrie sie. »Hört auf! Hört auf!« Aber die Träumer in der Spielhalle waren taub.

Als wir auf die Straße hinausrannten, erhob sich vor uns das Grace; auch eine Schönheitsoperation im Art-déco-Stil hatte den Krebsbefall an der Fassade nicht kaschieren können. Ganz oben ein Penthaus: Kitos Nest. Ein Horst, in dem sich Eitelkeit, Gehässigkeit und Betrug niedergelassen hatten.

Ein kleiner Junge mit einem Engelsgesicht zupfte an meinem Hosenbein. Er sah mich mit großen Kinderaugen an und verbeugte sich: »Bitte, Sir, zehn Baht. Ich habe Hunger.«

Primaveras Faust krachte gegen den Schädel des Kindes. Es rannte davon, wobei ihm Drähte und Prozessoren aus dem Ohr hingen. »Madame sollte diese Dinger wirklich loswerden«, sagte sie.

»Wie kommen wir da rein?«

»Haupteingang. Keine Schläger. Wir nehmen den Weg durch das Café.«

»Aber da ist es bestimmt gerammelt voll.«

»Umso besser ‒ dann bemerkt uns niemand.«

Primavera nahm meinen Arm und führte mich durch das Portal von Kitos Festung.

»Wie früher«, sagte sie. Ich hielt ihren Arm umklammert. Aus Angst? Um ihr zu zeigen, dass ich zu ihr hielt? Aber warum sollte Primavera das nötig haben? Die Vampirin hatte Blut gewittert. Es war Angst ‒ meine Angst, die sie lockte. »Ganz ruhig«, dachte Primavera, »das ist eine Angelegenheit unter Puppen. Bloß nicht aufregen. Du sollst nur dafür sorgen, dass ich mehr wie ein Mensch aussehe.« Peinlich berührt ließ ich sie los.

Ich lächelte den Pagen zu und geleitete meine »Schwester« (diese Doppelrolle hatten wir während unseres Aufenthalts im Weird schon früher gespielt) in die mélange des Cafés. Noch vor ein, zwei Jahren hatten wir geradezu entwaffnend unschuldig gewirkt. Aber inzwischen waren wir nicht mehr ganz so überzeugend ‒ ich sah aus wie das Phantombild eines Jungen, der aus Borstal entflohen war, und Primavera war die Verkörperung einer jugendlichen Elternmörderin.

»Du kannst immer auf mich zählen«, dachte ich auf ihr mentales Seufzen hin. »Wirklich ‒ ich meine das ernst.« Doch sie hörte mir nicht zu, war viel zu beschäftigt damit, Hunderte von Wellenlängen zu entwirren, das Gebrabbel menschlicher Begierden. Farang versuchten, verträumt oder von Selbsthass erfüllt, mit den Gynoiden anzubändeln, die sich im Foyer drängten.

Wir quetschten uns an nostalgischen, zoomorphen, verspielten Puppen vorbei: Kopien ‒ »Antiquitäten« mit Kugelgelenken und Porzellanhaut ‒, die uns die Messingschlüssel zu ihrem Bauchnabel entgegenhielten; eine Felis femella, deren Greifschwanz sich wie eine Aderpresse um meine Arme legte; und die Cephalopoden, Zombietoten und durchsichtigen Sallys. (Für andere jeux d’esprit hatte sich die Palette des menschlichen Körpers in das Reich des abstrakten Expressionismus verabschiedet.) Natürlich gab es auch traditionelle Modelle: Klischees von Weiblichkeit, in winzige tropische Puppen-Couture gekleidet, die in ihrem Mademoiselle-Butterfly-Geplapper Sex vom Fließband feilboten. Die Klientel des Grace hatte auf diese Nachtschicht jedoch schon zu viel Zeit verwendet; sie war auf der Suche nach dem Kitzel des Neuen.

»Leichenmühle?«, fragte etwas, das aus einer Dreschmaschine gefallen zu sein schien.

»Röntgensex?«, fragte eine durchsichtige Sally.

»Aktionsmalerei? Möchten Sie mich in Öl? In Gouache? In Wasserfarben?« Die Haut der Puppe fing an, auf den Boden zu tropfen.

»Darf ich deine Hose sein?«

»Selbstmord aus Liebe?«

»Sunset Boulevard?«

»Ficki Ficki mit Messer?«

Mehrere Bijouteries waren zu erkennen; keine echten, sondern umfunktionierte. Für manche Wüstlinge ist es ein absoluter Höhepunkt, mit einer Frau ins Bett zu gehen, die nur noch teilweise menschlich ist; und da die thailändischen Bijouteries Freaks waren und aufgrund ihrer Seltenheit ausgesprochen teuer, gab es einen wachsenden Markt für Mädchen aus der Provinz, für die eine Mechanisierung die einzige Alternative zur Armut darstellte. (Am Nana gab es eine Bar ‒ Pretty Girls Are Human Too ‒, die voll war von solchen posthumanen Schismatikerinnen.)

»Nächstes Jahr sind wieder Menschen in«, dachte Primavera.

»Meinst du?«

»Klar. Irgendwann schließt sich der Kreis immer. Gynoiden kommen langsam aus der Mode. Eine Puppe lässt vielleicht alles mit sich machen, aber sie hat keinen freien Willen. Ein Freier hat keine Macht über sie. Aber einen Menschen ... einen Menschen kann man richtig demütigen.«

»Geht es denn immer darum?«

»Das weißt du selbst.«

Wir näherten uns der Bar.

Ein Pianist und ein Sänger hatten eine weichgespülte Version von »Oh doctor, doctor, I wish you wouldn’t do that« angestimmt.

»So ein Scheißlied«, sagte ich.

Primaveras Finger huschten über Resopal. »Hallo Pong-Schätzchen!«, rief sie dem Barkeeper zu. »Erinnerst du dich noch an mich?« Sie hob die Sonnenbrille an, und ihre Augen blitzten, als sie wie nach einer Sonnenfinsternis aus der Verdunklung hervortraten.

»Der grüne Tod!« Der Barkeeper wich zurück, ließ ein Mekong Soda fallen und streckte verzweifelt die Hand nach dem Transcom aus; aber Primavera hatte bereits die Krallen in sein Hemd geschlagen und ihn zu sich herangezogen.

»Ich will dir nicht wehtun, Pong«, sagte sie, »aber wenn ich nicht bekomme, was ich will, werde ich ... Na ja, weißt du noch, wie du mir das letzte Mal eine Bloody Mary gemixt hast?«

Der Barkeeper nickte mit unterwürfigem Eifer. Ich schaute mich um; sonst stand niemand hinter der Bar (hierher kam niemand, um zu trinken); und die Sexgespräche zwischen Maschine und Mensch gingen unvermindert weiter.

»Madame haben gesagt, du gehen heim, Miss Primavera. In Ferien.«

Primavera spuckte ihren Kaugummi aus und klebte ihn an die Unterseite der Bar. »Pong, ich möchte, dass du uns in die Küche bringst, in den Lagerraum ‒ zum Speiseaufzug.«

Primavera hielt unseren zwangsrekrutierten Komplizen fest und setzte mit einem Sprung über die Bar; ich folgte ihr etwas bescheidener.

Durch einen Perlenvorhang traten wir in die Küche des Cafés ‒ eine von vielen im Hotel. Primavera hatte ihre Sonnenbrille inzwischen in ihrer Handtasche verstaut, und das Küchenpersonal ‒ ein Junge und ein Mädchen etwa in unserem Alter ‒ brachten umgehend einen Tisch zwischen sich und die grünäugige Verlobte des Todes. Der Junge griff nach einem Hackbeil.

»Mai!«, kreischte seine Kollegin. »Phi see kee-oh! Phi pob! Phi Angritt! Dtook-gah-dtah Lilim!« Obwohl wir die Öffentlichkeit mieden und es vorzogen, uns wie Schatten unter Schatten zu bewegen, war die Legende vom grünen Tod ein Teil der Legende des Nana Plaza geworden. Der Junge ließ seine Waffe fallen.

Ich fesselte unsere Gefangenen mit einem Knäuel Spinnenseide, den Primavera aus ihrer Tasche gezaubert hatte, und knebelte sie dann mit Geschirrtüchern.

»Das da?«, fragte Primavera und deutete auf eine Aluminiumluke in der Wand.

»Speiseaufzug«, sagte der Barkeeper.

Primavera schlug ihn bewusstlos.

»Rein mit dir, Iggy.« Sie öffnete die Luke. »Alle Wege führen ins Penthaus.«

»Wir passen unmöglich beide ...«

»Und ob.«

»Das ist zu klein!«

»Das geht, habe ich gesagt.« Primavera musterte mich verächtlich. »Ich bin vielleicht krank«, sagte sie, »aber Origami kann ich noch lange.« Sie warf ihre Tasche beiseite, legte die Fußgelenke aneinander, presste die Knie zusammen, knickte an der Taille vornüber und wand die Arme um die Waden. Ihr Kopf tauchte zwischen ihren schraubstockgleichen Oberschenkel auf. Sie verkrampfte sich und versengte das Auge mit anatomisch unmöglichen Bewegungen. Sekunden später rollte sie über den Boden, ein schwarzer Wasserball aus Plastik.

Ich hob sie hoch ‒ fast hätte ich das Gleichgewicht verloren, so schwer war sie ‒ und stieg in den Speiseaufzug. »Drück auf den Knopf mit dem K«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Du musst den Arm rausstrecken.« Mein Körper, der weniger dramatisch, dafür jedoch umso schmerzhafter gekrümmt war als Primaveras, brachte dieses Kunststück mit knackenden Gelenken zustande.

Die Luke schloss sich; wir fuhren durch die Finsternis himmelwärts.

Gesprächsfetzen; Fernseher und Magazine plärrten; ein Hintergrundrauschen aus Leidenschaft, Bitterkeit und Reue glitt an uns vorbei. Irgendwo an diesem Tunnel befand sich die verlassene Suite, die uns drei Jahre lang Zuflucht geboten hatte.

»Ich kann sie spüren«, sagte Primavera; jetzt sprach sie nicht mehr, sondern ihre Gedanken erreichten mich von tief aus ihrer fleischlichen Einsiedelei. »Sie ist allein. Außer sie hat Besuch von Gynoiden oder Androiden. Bijouterie kann ich wahrnehmen; aber Maschinengehirne ...«

Die Bremsen fauchten, und wir blieben stehen.

»Sind wir da?« Ihr Gehirn knisterte vor Ungeduld.

Vorsichtig öffnete ich die Luke einen Spaltbreit. Wir waren in einer Küche, die derjenigen ähnelte, in der wir eingestiegen waren; allerdings erspähte ich hier einen über zwei Meter großen Neger, der nichts am Leib hatte als die schwere Elektromuskulatur einer primitiven KI, die sprechen und laufen konnte. Offenbar war er damit beschäftigt, eine Mahlzeit zu richten. Sein gewaltiges Glied glich einem dritten Bein, das über dem Knie amputiert worden war.

»Ein Androide«, sagte ich tonlos. »Ziemlich groß.« Ich fühlte Primaveras Grinsen in meinem Kopf.

»Richtet er das Abendessen?«

»Ja.«

»Dann ist das Mr. Bones. Der ist gefährlich. Mach die Tür auf und misch dich nicht ein.«

Die Luke quietschte; Mr. Bones blickte auf. Primavera ließ sich in die Küche fallen und hüpfte über den Boden.

»Gütiger Himmel«, rief Mr. Bones im Tonfall eines schwarzen Bänkelsängers ‒ offenbar war er ein Überbleibsel aus Nanas patriotischer SM-Revue Die Geburt einer Nation (vom Broadway abgekupfert und vor den Mächtigen des Landes uraufgeführt) ‒, »die weiße Lady, vor der uns Miss Kito gewarnt hat!« Primavera entwirrte sich, während sie von Wand, Decke und Arbeitsfläche abprallte, mit einem lauten Peitschenknall und landete (wobei sie auf ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen etwas ins Schwanken geriet) auf dem Tisch, wo der riesige Androide das Fleisch gewürfelt hatte. Mr. Bones fuhr sich mit der Hand über den rasierten Kopf.

»Und ihr widerlicher Bruder auch noch«, sagte er, als ich aus dem Speiseauszug fiel. »Das wird Miss Kito aber bestimmt nicht gefallen!« Eine gewaltige Hand schoss vor; Primavera hüpfte beiseite.

»Bleib, wo du bist, Iggy!«, sagte sie, schlüpfte aus ihren Stöckelschuhen und warf sich auf ihren Gegner. Ihre Füße fanden auf seinen Hüftknochen Halt; ihre Klauen krallten sich in seinen Hals. Während sie an ihm hing wie an einer gefährlichen Klippe aus Obsidian, fletschte sie die Zähne und biss zu. Sie schlug ihm die Hauer in die Stirn und fing an, auf einem roten Brei aus Biochips herumzukauen.

Mr. Bones tanzte ungelenk durch die Küche; Rauch strömte ihm aus Ohren, Nase und Mund, bis er plötzlich erstarrte und zu Boden ging. »Wo«, ächzte er, »sind all die weißen Frauen ...?« Seine Hirnschale explodierte, und Funken stoben in alle Richtungen.

»Igitt, schmeckt der fäkal!« Primavera spuckte aus. Ich riss einen Feuerlöscher von der Wand und setzte Mr. Bones unter Wasser.

»Das hat bestimmt jemand gehört«, sagte ich.

»Nein. Kito ist in ihrem Schlafzimmer, und wenn sich hier noch andere Automaten herumtreiben, sind es Gynoiden, die nicht darauf programmiert sind, aufzupassen. Vielleicht haben sie uns gehört, aber dann ist es ihnen egal.«

»Pikadons?«

»Ich spüre keine. Im Korridor draußen stehen ein paar Sicherheitsleute ‒ Menschen allerdings. Aber ich weiß, wo die Kameras sind; und das Boudoir von Madame wird nicht überwacht.«

Primavera führte mich durch die toten Winkel des Apartments. Allem Anschein nach ein Kinderspiel ‒ wir duckten uns hinter Sofas, schlichen hinter Vorhängen entlang und krochen unter Tigerfellen und Perserteppichen hindurch. Nirgendwo brannte Licht; Primaveras Nachtsicht erlaubte es uns jedoch, Hindernissen ohne Schwierigkeiten auszuweichen.

Schließlich standen wir vor Kitos Schlafzimmer. Primavera legte eine Hand auf den Türknauf; drehte ihn. Finsternis. Primavera huschte an mir vorbei, sprang ins Nichts, ihre Katzenaugen grünes Kryptonit, das erdwärts raste, während sie einer Flugbahn folgte, die so berechnet war, dass sie genau auf ihrer Beute landete.

Das Licht ging an.

Primavera stieß einen Schrei aus. Sie kniete auf einem herzförmigen Bett, und in ihren Händen wand sich ein Tausendfüßler von der Größe einer Python. Sie schleuderte ihn durchs Zimmer. Das war Kuhn Yow, eines von Kitos genmanipulierten Haustierchen. Sonntags führte sie ihn im Lumpini Park an der Leine spazieren, und dann funkelte sein mit Edelsteinen besetzter Chitinpanzer in der Sonne.

Kito verbeugte sich mit einem höhnischen Grinsen. »Guten Abend, liebe Kinder.« Ebenbilder von Mr. Bones ‒ fünf an der Zahl ‒ hatten das Bett umzingelt. Jeder von ihnen hielt eine Partikelwaffe in der Hand. Kito straffte den Gürtel ihres Morgenrocks und bedeutete mir, mich zu Primavera zu gesellen. Klasse gemacht, dachte ich. Vielen Dank. Ich habe dir doch gesagt, dass ... Primavera brachte mich zum Schweigen, indem sie mir das geistige Äquivalent eines Glases Eiswasser ins Gesicht schüttete. Ihre Zunge glitt über ihre Eckzähne; und ihre Augen leuchteten angesichts der Männlichkeit von Kitos mechanischen Sklaven wie die Augen dekadenter byzanthinischer Prinzessinnen. Sie war bereit, sich auf sie zu stürzen.

»Ich weiß, was du denken, Bijouterie«, sagte Kito. »Eins aus mein Sixpack hast du erledigt, macht nur noch fünf. Aber du machen nur eine Bewegung, und deine Gebärmutter ‒ Hackfleisch.«

»Das ist sie bereits. Zervix, Ovarium, Eileiter ‒ suchen Sie sich’s aus! Ich bin krank, Madame.«

»Das ich wissen schon lange! So eine kleine Schlampe, aber« ‒ Kito hob eine Augenbraue ‒ »so krank!«

»Ich bin wirklich krank. Mir geht’s richtig schlecht. Ich bin nicht hierhergekommen, um Ihnen wehzutun.«

Kito nahm Kuhn Yow in die Arme. Als er an ihrer Brust zu knabbern begann, gab sie ihm einen Klaps. »Du hergekommen, um mir Geschenk bringen? Auf Wiedersehen sagen? Reis essen?« Die Wange an das Exoskelett ihres widerlichen Haustiers gedrückt schritt Kito auf und ab, wobei sie darauf achtete, hinter der Phalanx ihrer elektrischen Mohren zu bleiben. »Mr. Jack mir erzählen, dass du abhauen. Warum du herkommen? Verrückt. Pasad! Kito haben viele Augen: Kameras, Bildautomateusen, Menschen ...«

»Natürlich«, erwiderte ich. »Madame ist eine Dame von großem Einfluss. Eine Patin. Eine Chao me, die ...«

»Halt den Mund, dummer Junger.«

»Genau, Iggy. Benimm dich nicht so gruselig!«

»Also?«, fragte Kito. »Warum du herkommen? Du wollen nach England?«

»Stellen Sie immer noch Geschlechtskrankheiten her, Madame?«, fragte Primavera.

Kito blieb unvermittelt stehen. »Ich dir sagen schon früher: Ich alles aufhören nach Handelskrieg mit Cartier. Vor vierzig Jahre ...«

»Madame«, sagte Primavera. »Ich weiß, warum Sie uns verraten haben. Ich weiß ...«

»Du wissen nichts, Halbpuppe, gar nichts!«, fauchte Kito. »Du sein Krankheit.«

»Na ja, wenigstens war meine Mama nicht roboto

»Du mich nicht nennen roboto, kleine Flittchen!«

Der Wortwechsel ebbte ab. Die beiden Frauen musterten einander aus grünen Augen, und ihre Lippen formten Beleidigungen, die sie dann doch nicht aussprachen.

»Jack Morgenstern«, sagte Primavera und schluckte ihre Galle hinunter, »hat Ihnen erklärt, Sie seien verantwortlich für die Puppenplage, habe ich recht?«

Kito wurde bleich, und ihr Gesicht wurde so blass wie der Vollmond in einer Winternacht. Kuhn Yow glitschte zu Boden.

»Khlong-Fieber«, fuhr Primavera fort. »Hat er nicht behauptet, dass alles so angefangen hat? Vor vierzig Jahren hatte Cartier in Paris es satt, dass Leute wie Sie den Markt mit nachgemachten Puppen überschwemmten, und bastelte einen Virus, der die Kluft zwischen Hardware und Wetware überwand. Ein Programmfehler, der von Maschine auf Mensch übersprang. Cartier stahl ein paar Ihrer Puppen, Ihrer nachgemachten Cartiers, infizierte sie, und schickte sie in den Weird zurück. Der Virus war sexuell übertragbar; aber er war auch ethnisch selektiv. Er wurde von Genen produziert, die nur in asiatischer DNA vorkamen. ›Khlong-Fieber‹ sagten die Thais dazu. Männer wurden davon impotent. Eine Art langfristiger Genozid à la beau monde. Da Puppen angeblich keine Krankheiten bekommen, ahnte niemand, woher der Virus kam. Das heißt niemand außer Ihnen. Und Sie beschlossen, Rache zu nehmen. Sie bastelten Ihren eigenen Virus. Schmuggelten ihn nach Paris, um die Puppen dort zu infizieren. Er sollte Priapismus auslösen, wovon Sie, wie ich annehme, profitieren wollten, Madame. Aber laut Jack Morgenstern lief nicht alles nach Plan ...«

»Woher du das alles wissen?«, fragte Kito.

»Seit ungefähr vierundzwanzig Stunden«, erwiderte Primavera, »verfüge ich über telepathische Fähigkeiten. Das ist ziemlich klasse. Als ich und Iggy in der Botschaft festgehalten wurden, träumte ich ... träumte ich von Jack Morgenstern. Und von Ihnen. Morgenstern sagte, es gäbe keinen Ort auf Erden, wo Sie sich verstecken könnten, wenn bekannt würde, dass Sie die Puppenplage verschuldet haben.«

Kito zog ein Transcom aus dem Frisiermantel. »Je schneller sie euch bringen nach England zurück ...« Sie begann, Zahlen einzutippen.

»Aber das stimmt überhaupt nicht«, fuhr Primavera fort und betrachtete ihre Fingernägel.

»Amerikanische Botschaft«, flötete eine Stimme über das ISDN.

»Ich möchte Offizier in Dienst sprechen«, sagte Kito und legte dann die Hand auf die Sprechmuschel. »Was wollen du damit sagen?«

»Ich weiß, wer die Seuche verschuldet hat, Madame. Und Sie waren es nicht.«

»Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit?«

»Stecken Sie das Ding weg. Die haben überhaupt nichts gegen Sie in der Hand.« Kito runzelte die Stirn; zögerte. »Ich kann es beweisen.« Die piepsige Stimme erstarb; Kito ließ das Transcom in den Falten ihres Mantels verschwinden.

»Ich warten«, sagte sie.

»Erst«, sagte Primavera, »müssen Sie dafür sorgen, dass ich wiederhergestellt werde. Die haben mir eine Ladung Staub verpasst.«

»Nein«, sagte Kito. »Du vergessen, auch ich haben Schwierigkeiten. Mit Amerika! Also, du mir erzählen von Puppenplage. Was wissen du?«

»Madame«, sagte Primavera und erhob sich; ihre Software-Cousine zog sich hinter Mr Bones Nummer eins bis fünf zurück. »Ich bin krank. Wirklich krank. Sie müssen mir helfen! Ich kann schon fast nicht mehr ...« Die Phalanx rückte näher zusammen.

»Mehr Grund«, sagte Kito, »dass du tun, was ich sagen. Dann ‒ vielleicht. Wir werden sehen.«

Primavera ließ sich auf das Bett sinken und legte den Kopf in meinen Schoß. »Ich bin so müde, Madame. So müde. Aber ich werde es versuchen. Ich muss Ihnen erzählen, was Iggy und ich alles durchgemacht haben. Wie es uns gelungen ist, aus London zu fliehen. Ich muss Ihnen von Titania erzählen ...«