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Schwarzer Frühling

Vier Marines spielten Sargträger (meine Gelenke waren noch immer wie mumifiziert) und trugen mich zu einem Aufzug. Wir fuhren drei, vier, fünf Stockwerke abwärts, und dann wurde ich an zahllosen Rohren und Kabeln vorbei durch die Eingeweide der Botschaft manövriert. Der Trauerzug erreichte einen Fitnessraum und hielt an. Nachdem sie mich, steif wie ich war, in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gegen eine Sprossenwand gelehnt hatten, gingen die Marines mit ernster Miene hinaus. Jack Morgenstern stemmte Gewichte. Wir waren allein.

»Wie steht’s um Ihre Stimme?«, fragte er. »Ich dachte, wir unterhalten uns ein wenig.« Das amerikanische corps diplomatique trainierte anscheinend regelmäßig ‒ in dem Raum stank es nach Mensch; ich musste würgen. »Das ist ein gutes Zeichen! Offenbar lässt die Wirkung der Droge nach.« Er ließ die Gewichte sinken und ging zur Rudermaschine hinüber. »Ihre Freundin dagegen ‒ Sie werden verstehen, dass wir bei ihr auf Nummer sicher gehen müssen, auch wenn das Korsett sie umbringt.« Er fing an, den Refrain des »Eton Boating Song« zu pfeifen. »Es wäre wohl zutreffend, mich als Anglophilen zu bezeichnen. Ich bin sehr froh, dass sich die Beziehungen zwischen unseren beiden Länder verbessert haben.« Er verschnaufte und wischte sich die Hände an seinem Halstuch ab. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Die Regierung Ihrer Majestät möchte Sie zurückhaben. Sie beide.«

Ich wollte etwas erwidern, aber mein Mund schien mit Murmeln gefüllt zu sein.

»Wie bitte?«, sagte Morgenstern und hielt mitten in der Bewegung inne.

»Die Reinheitsfront ...«, brachte ich heraus, bevor ich an den Murmeln zu ersticken drohte.

Er seufzte. »Glauben Sie bloß nicht, dass wir darüber glücklich sind! Allerdings ist unser Präsident der Meinung, dass die Führer der Reinheitsfront die Einzigen sind, die die Seuche im Zaum halten können. Und ich neige dazu, ihm zuzustimmen. Wir erwarten ja nicht unbedingt, dass die RF Britannien wieder groß macht ‒ verzeihen Sie den Kalauer. Aber uns bietet sich so die Gelegenheit, verlorenen Boden zurückzugewinnen und in Europa wieder mitzuspielen. Die Leute von der Reinheitsfront mögen Dreckskerle sein, Zwakh, aber sie sind unsere Dreckskerle.«

»Seziertisch!«, spuckte ich aus. »Primavera wird auf dem Seziertisch landen.«

»Haben Sie mir nicht zugehört? Ich habe gesagt, dass wir darüber nicht gerade glücklich sind! Auch wenn Sie beide durchaus das Schlimmste verdient hätten.« Er überquerte die Ziellinie und ließ die Riemen baumeln; sein Hash House-Sweatshirt war tropfnass. Offenbar hatte er jetzt endgültig beschlossen, den Moralapostel zu spielen. »Sie sind Ungeheuer! Tiere! Sie sind ...« Die englische Sprache versagte angesichts unserer scheinbar grenzenlosen Verderbtheit. Er stand auf und schlenderte zu einem Bock hinüber, auf dem eine braune Aktenmappe lag. »Ignatz Zwakh«, las er vor, »geboren 2056 ...«

»Kito«, fiel ich ihm ins Wort. »Warum hat sie uns verraten?«

»Wir beobachten Sie und das Mädchen schon seit Wochen«, sagte er, den Blick weiter auf die Akte gerichtet. »Seit die Engländer sich über ihren Vertreter in der Schweizer Botschaft an uns gewandt haben. Dann sind Sie plötzlich abgehauen. Also haben wir Kito gebeten, Sie zurückzuholen. Wir wollten schließlich keine offizielle Einmischung von thailändischer Seite.«

»Geld?«

»In unserem Arsenal«, sagte er, »haben wir wirkungsvollere Aphrodisiaka. Wir können sehr überzeugend sein! Sagen wir einfach, Kito ist eine äußerst kluge Dame. Oder Maschine.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was auch immer sie ist, eine versierte Lügnerin ist sie auf jeden Fall. Was ich durchaus zu schätzen weiß. Lügen wohnt eine ganz eigene Schönheit inne. Sie entwickeln ein Eigenleben und entbehren nicht einer gewissen Symmetrie. Kito hat Sie wirklich reingelegt! Und jetzt wollen wir doch einmal herausfinden, wie es um Ihren Selbsterhaltungstrieb steht.« Er fuhr mit dem Finger eine Zeile entlang. »Geboren 2056. In London. Die Eltern slowakische Emigranten. Verraten Sie mir doch mal: Warum sind Ihre Eltern nicht aus London geflohen, bevor es abgeriegelt wurde?«

»Uns wollte niemand haben.«

»Ich komme selbst aus einem Einwanderungsland. Ich kann nicht glauben, dass es unmöglich war ...«

»Was soll denn dieses ganze Gerede? Warum verfrachten sie uns nicht einfach in ein Raumflugzeug und fertig?«

»Die Orient Express geht erst morgen. Außerdem möchte meine Regierung noch ein paar Dinge von Ihnen wissen. Zum Beispiel ...« Er legte die Akte beiseite und kam zu mir herüber. »Wer oder was ist Titania?«

Allmählich bekam ich Rückenschmerzen; die Steifheit ließ nach.

»Na, entspannen Sie sich langsam wieder? Ein Kerl in Ihrem Alter sollte bald ...«

»Über Titania weiß ich nichts.«

»Dann lassen Sie mich erzählen, was wir über Titania wissen.« Er zog sich einen Hocker heran und setzte sich. »Erinnern Sie sich noch, worüber wir uns im Restaurant unterhalten haben? Aus London kommt niemand raus. Das ist die offizielle Parteilinie der RF. Aber Sie und ich wissen es besser. Sie sind nicht die einzigen Kinder, die entwischt sind. Überall in England sind Puppen aufgetaucht. In Schottland. In Wales. Und auch auf dem europäischen Festland. Ich vermute allerdings, dass Sie die einzigen Ausreißer sind, die es bis hierher geschafft haben. Jemand hilft den Puppen bei der Flucht. Nun, wir sind zwar der Überzeugung, dass die Reinheitsfront die Lage in London stabilisieren kann, aber nicht im ganzen Land. Dafür werden sie die Hilfe der USA benötigen.«

»Sie nennen Massenmord ›Stabilisierung‹?«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass wir darüber nicht glücklich sind«, erwiderte er, sein Gesicht abgehärmt vom lebenslangen Bemühen, sich den Verhältnissen anzupassen. »Inzwischen verfügen wir über Informationen, dass jemand in London die Fluchten organisiert. Irgendjemand ist in der Lage, die Zonengrenze zu überwinden. Wir glauben, dass dieser ›Jemand‹ eine Große Schwester ist: eine der ursprünglichen Cartier-Automaten.«

»Die sind alle zerstört worden«, sagte ich allzu hastig.

»Das glaube ich nicht. Verraten Sie mir doch, wie Sie geflohen sind, Zwakh.«

Ich verdrehte die Augen zur Decke.

»Hören Sie«, sagte er. »Ich werde Sie nicht zwingen zu reden, aber zu Hause in England sieht das bestimmt anders aus. Das ist Ihnen doch klar, oder? Besser, wir wissen Bescheid, als die RF! Wir können als Vermittler auftreten. Eine Verfahrensabsprache treffen.«

»Nein«, sagte ich.

»Das Mädchen«, sagte er. »Wir könnten ihr helfen. Ich vermute mal, dass sie nicht freiwillig gemordet hat. Wissen Sie, was wir sagen können? Wir können sagen, dass sie die Puppenplage nicht verbreiten wollte. Also hat sie nach jeder Mahlzeit aufgeräumt. Richtig hygienisch. Aber eigentlich wollte sie überhaupt niemanden umbringen. Schließlich töten Lilim nicht, das läuft ihrer Programmierung zuwider. Wir könnten sagen, dass diese Schlampe Kito ...«

»Es macht ihr Spaß«, sagte ich. »Sie haben recht ‒ wir sind Ungeheuer. Tiere.«

»Wir werden Titania früher oder später sowieso auf die Schliche kommen«, sagte er. »Ich dachte nur, ich könnte Ihnen einigen Kummer ersparen, nichts weiter.« Er klatschte in die Hände und sprang auf. »Das war’s dann wohl. Für’s Erste. Operation Schwarzer Frühling ist für mich zu so etwas wie einem Steckenpferd geworden. Ich kann einfach nicht die Finger davon lassen.« Als mein Körper noch ein paar Zentimeter weiter nach unten sackte, kicherte er. »Himmel, das sieht ganz schön unbequem aus.« Er wuchtete mich in die Vertikale. »Wissen Sie ‒ als ich mich dem Auslandsdienst angeschlossen habe, habe ich ehrlich geglaubt, ich könnte die Welt verbessern. Scheint ewig her zu sein. Die Aube du millénaire. Herrgott, das waren Zeiten! Meine Frau und ich haben unsere Flitterwochen in Europa verbracht. Wenn ich dran denke, was Europa zur Zeit durchmacht ...«

»Primavera macht das Töten Spaß«, sagte ich. »Und Ihnen? Essen Sie oft im Londoner? Was tun Sie denn sonst so, wenn Sie nicht gerade kleine Mädchen in den Tod schicken?«

»Von einem käuflichen Killer muss ich mir keine Vorhaltungen machen lassen, Zwakh. Vielleicht können wir uns später noch mal unterhalten. Ich bin mir dessen sogar ziemlich sicher! Wenn Sie etwas Zeit hatten nachzudenken. Und vergessen Sie nicht, was ich über Aphrodisiaka gesagt habe. Und darüber, wie überzeugend wir sein können. Vergessen Sie nicht, dass wir Ihre kleine Freundin haben. Niemand muss sterben. Glauben Sie mir ‒ ich kann Ihnen helfen!«

Er rief nach dem Wachmann.

Ich wurde wieder zu Primavera in unsere Liebesgruft gebracht. Ein Marine bezog Stellung neben der Tür, sein Gesicht so ausdruckslos wie eine Friedhofsstatue.

Ich konnte nur an Flucht denken. Ich wollte Pläne schmieden, rennen, lügen! Manchmal musste man auch kämpfen. (Ich tat das nur ungern ‒ ich war nicht besonders gut darin; dafür war eher Primavera zuständig.) Warum konnten sie uns nicht in Ruhe lassen? Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber flackernde Bilder störten meine Gedanken. Jack Morgenstern in Kitos Penthouse; und Kito, die nervös mit der Titankette an ihrem Hals spielte, mit ihren Armbändern aus abgebranntem Uran.

»Kito hat mich reingelegt«, hörte ich Primaveras Stimme in meinem Kopf. Ich stieß einen Schrei aus.

»Versuchen Sie etwas zu schlafen, Sir«, sagte der Marine.

»Hast du das gehört, Iggy? Scheiße ‒ ich wusste nicht, dass ich das kann!«

Ich krallte mich an den Seiten der Liege fest; dann entspannte ich mich wieder. Ich lebte jetzt schon zu lange mit Primavera zusammen, um mich von ihrer Quantenmagie in Panik versetzen zu lassen, so beispiellos ihre Fähigkeiten auch sein mochten. »Primavera?«

»Ja-haa?« Hey, ich konnte auch in Gedanken zu ihr sprechen. Clever, diese Cartier-Puppen!

»Sie wollen uns nach London zurückschicken«, flüsterte ich mit tödlichem Unterton. »Zufrieden?« ‒ Ich drehte das Messer weiter in der Wunde. »Warum auch nicht? Jetzt haben deine ganzen Spielchen ein Ende.«

»Es tut mir leid, Iggy.« Sie hatte Tränen in den Gedanken.

»Kannst du dich bewegen?«

»Mein ganzer Körper ist völlig gefühllos. Wenn ich nur diese gusseiserne Hose ausziehen könnte, dann ...«

»Ich kann mich ein kleines bisschen bewegen. Irgendwelche Ideen?«

»Rühr dich nicht. Wenn ich in dein Gehirn reinkomme, schaff ich das auch bei GI Joe.«

»Und dann?«

»Schließ einfach die Augen. Tu so, als würdest du schlafen.«

Primavera meldete sich ab und ließ in meinem Kopf nichts als statisches Rauschen zurück. Nach ein paar Minuten hörte ich das Knarren eines Stuhls und ein verstohlenes Schlurfen. Ich blinzelte unter halbgeöffneten Augenlidern hervor und sah zu, wie sich der Wachmann vor Primaveras Liege hinkniete, eine Schlüsselkarte aus der Brieftasche holte und sie irgendwo zwischen Taille und Hüfte einführte. Die Vorrichtung öffnete sich, und der Wachmann legte sie vorsichtig auf den Boden. Schwer atmend ließ er eine Hand unter den Hauch schwarzer Spitze gleiten, der kaum ihren Schamhügel bedeckte. Zähne schnappten zu; ein Keuchen. Der Wachmann zog die Hand zurück und starrte sie verwirrt an. Das oberste Glied seines Mittelfingers fehlte. Er rang nach Luft ‒ gleich würde er ein jämmerliches Geheul anstimmen. Bevor er auch nur einen Ton von sich geben konnte, verpasste ihm Primavera einen Kinnhaken, der es in sich hatte. Er wurde durch den Raum geschleudert, überschlug sich und krachte kopfüber gegen die Wand.

»Meine erste telepathische Eroberung«, sagte Primavera, nachdem sie sich den Maulkorb vom Gesicht gerissen hatte. »Da soll noch mal jemand an meinen Verführungskünsten zweifeln!« Der Marine lag in einer Ecke wie ein zertrampeltes Insekt. Die volle Punktzahl, ganz ohne Frage.

Primavera rollte sich von ihrer Liege und stand auf, wobei ihre schlanken Teenagerbeine zitterten wie die eines neugeborenen Fohlens. Ich starrte den toten Marine an.

»Du weißt, dass mir außer dir niemand an die Wäsche darf, Iggy.«

»Bring uns nur hier raus.«

»Oh Entschuldigung! Es tut mir ja sooo leid. Ich vergesse immer, wie sensibel du bist.«

Sie legte ein Ohr gegen die Wand; dann zog sie einen Seidenhandschuh aus, fuhr mit der Hand über den Verputz und ... Enttäuschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Was auch immer hätte geschehen sollen ‒ Ereignisse in der Quantenwelt fanden keine Schnittstelle zur uns vertrauten Welt –, war nicht geschehen. Sie versetzte dem Keuschheitsgürtel einen Tritt, und er segelte über den Boden.

»Magischer Staub. Das Ding war voller winziger Mikroben; anscheinend sind noch welche in mir drin.« Sie legte sich eine Hand auf den Bauch. »Yeah, ich kann sie spüren ‒ haufenweise kleine Nanobots. Die versauen mir meine Matrix.« Wieder legte sie ein Ohr an die Wand. »Ich kann meinen Hokuspokus nicht einsetzen, Iggy. Bleibt uns nichts anderes übrig, als etwas Lärm zu machen.«

Sie kratzte mit dem Fingernagel ein kleines Kreuz in den Verputz, schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und rammte die Stirn gegen die Wand. Das Gebäude erbebte, und Primavera verschwand hinter einem Schleier aus zerstäubtem Stahlbeton. »Scheiße!«, schrie sie. »Mein verdammter Schädel!« Im Korridor wurden Befehle gebrüllt, Funkgeräte winselten, und Waffen wurden entsichert. Der Staub legte sich; im Mauerwerk der Botschaft klaffte ein mannsgroßes Loch.

Ich erhob mich, meine Beine steif und schwerfällig.

»Hilf mir aus dem Kleid!«, sagte Primavera. Ich öffnete den Reißverschluss; in Filetstücke zerteilt wand es sich, fiel zu Boden und machte dabei ein Geräusch wie ein rohes Steak, das auf einen Bratrost klatscht.

»Du bist verletzt«, sagte ich. Auf ihrer Stirn war eine bläuliche Schwiele erblüht.

»Dummkopf! Ich bin eine Puppe. Alle meine wichtigen Teile sind da unten.« Die Tür begann zu schmelzen. »Möchtest du noch länger hier rumhängen, oder verschwinden wir jetzt?«

Sie nahm meine Hand und sprang.

Wir fielen durch die heiße Nacht und tauchten in das trübe Wasser eines Khlong. Ich strampelte mit den Füßen, um an die Oberfläche zurückzugelangen; aber Primavera, die sich an mich klammerte wie eine böse Meerjungfrau, schien genau das verhindern zu wollen. Ich öffnete die Augen, doch das Wasser brannte; also schloss ich sie wieder und ergab mich der Blindheit. Ich hatte nur Primaveras Gesicht gesehen, von zwei grünen Laternen erleuchtet; schwacher Fackelschein tanzte durch die Tiefe. Ich wehrte mich; Primavera legte mir die Arme um den Nacken, küsste mich und blies mir ihren heißen Atem in die Lungen. Als wir den Grund erreichten, löste sie ihren Griff und führte mich über den Altmetalldschungel, wobei sie nur stehen blieb, um meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen ‒ ein Kuss, der sich für so viele als de luxe und äußerst giftig erwiesen hatte.

Als unsere Köpfe die Wasseroberfläche durchstießen, fanden wir uns in einer schmalen Gasse wieder, die zur Sukhumvit Road führte. Der grüne Schein eines aus Millionen von Pixeln bestehenden Coca-Cola-Schilds beleuchtete das Wasser; in der Nähe schwamm ein Taxi. Primavera schleppte mich am Kragen zu dem kleinen Boot. Es war leer. Wir zogen uns an Bord und blieben erschöpft liegen, den Blick starr auf die von der Dämmerung zerklüfteten Wolken gerichtet. Es regnete noch immer, aber das Gewitter war vorübergezogen.

»Ich glaube«, sagte Primavera, »ich glaube, ich weiß, warum sie es getan hat.«

»Kito? Wegen des Geldes natürlich. Puppen kennen keine Ehre.«

Primavera schüttelte den Kopf. »Die Amerikaner haben etwas gegen sie in der Hand. Jedenfalls glaubt sie das, aber ...« Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, krümmte sich vornüber und hielt sich den Bauch. »Sie ist die Einzige, die mir helfen kann, Iggy.« Sie sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Diese Nanomaschinen: Sie ... sie nehmen mich auseinander!« Sie hielt die Luft an und atmete dann sichtlich erleichtert aus. Ich legte die Hand auf die bleiche Haut unter dem Hüftgürtel.

»Tut es so weh?«

»Das Zeug ist fäkal, Iggy. Wirklich fäkal!« Sie rollte sich zu mir herum. Wimperntusche lief ihr über die Wangen und bildete ein schwarzes Delta aus Tränen. »Einige der besten Nanotechniker arbeiten für Kito. Und sie hat diese ganzen Laboratorien, all das Zeug

»Du bist verrückt. Sie hat uns verraten!«

»Sie haben sie erpresst, Iggy, und ich glaube, ich weiß auch, wie. Ich hab da was gehört. In der Botschaft. In meinem Kopf. Ich habe es geträumt. Wenn ich Kito beweisen kann, dass sie nichts zu befürchten hat ...«

Ich beugte mich über den Bootsrand und erbrach, was noch von dem Bier übrig war. Die Straßen erwachten allmählich zu neuem Leben. Garküchen machten auf. Eine Gruppe von Mönchen defilierte vorbei und sammelte Almosen. Ich sah nach meinem Geldgürtel; meine elektrischen Baht waren noch intakt.

»Wir müssen uns verstecken«, sagte ich. »Uns waschen und frische Kleider besorgen. Dann reden wir. Vernünftig.« Ich kroch zum Heck und ließ den langen Propellerarm des Bootes ins Wasser gleiten. Der Außenborder war umgerüstet worden, damit er synthetisches Benzin schluckte (dass schmutziger war als das ‒ vom Westen verbotene ‒ Original, sagten diejenigen, die sich daran erinnern konnten; eines von vielen Produkten, die auf dem Schwarzmarkt Bangkoks verkauft wurden). Ich gönnte dem Motor ein kleines mechanisches Vorspiel, bis er endlich aufheulte. Wir fuhren davon, in unserem Kielwasser schwarzer Rauch und schwarze Gischt.

Als wir den breiten Sukhumvit-Kanal erreichten, lag der Nana hinter uns, und die Lichter entlang des Platzes erloschen eines nach dem anderen, als es heller wurde. Der Geruch ermatteter Leidenschaft, der strenge Duft von Sex hing in der Luft, und der Gestank von tausend Bars mischte sich mit dem von tausend Fahrzeugen. Die Rushhour von Bangkok erreichte ihren ersten Höhepunkt. Meine Kleider fingen an zu dampfen; Primavera verbarg ihr Gesicht vor der Sonne. Die Stadt begann wie jeden Tag vor Smog zu brodeln ‒ noch hatte er nicht den Siedepunkt erreicht. Aber er umspielte bereits meine Waden wie ein Spezialeffekt aus einem schlechten Horrorfilm. Um das Europäische Parlament zu besänftigen, hatte die Regierung Thailands ökologische Nanoware verboten. Für die internationalen Beziehungen war das nur von Vorteil: Es beschwichtigte einige der Ängste des Westens (in Europa war nach dem Ausbruch der Puppenplage alle Nanoware geächtet worden); es schadete nur den Armen (die Reichen des Königreichs lebten in Hochhäusern mit klimatisierten Wohnungen); und die gewaltige Untergrundnanoindustrie, auf der ein Großteil des Reichtums von Bangkok beruhte, blieb davon unberührt.

Die Soi Cowboy, eine von den Triaden kontrollierte Pornokratie und schärfster Konkurrent des Nana Plaza ‒ Primavera hatte letztes Jahr ihren Totschläger Terminal Wipes umgelegt ‒ blieb in der schwarzen Wolke unserer Abgase zurück. An einer Fußgängerbrücke verkündete ein Transparent: Willkommen in Fun City. Kriege gab es keine mehr. Nur größere und kleinere Scharmützel um die Frage, wer das Revier der künstlichen Realität beherrschte. Spaß war eine Währung, die auf der ganzen Welt galt. Primavera hatte dafür getötet. Wer hätte das nicht? So ist das Leben. (So ist der Tod.) Unterhaltung ist alles.

Ich bog in eine Gasse, wobei ich nur knapp einem Toyota Duck auswich, und dann in ein Stundenhotel namens Lucky. Die Parkwächter sahen uns näher kommen und zogen die Vorhänge beiseite, die einen von mehreren Stellplätzen abtrennte; wir fuhren hinein, und die Vorhänge wurden hinter uns zugezogen. Wir hielten an einem kleinen Kai; in einer Ecke befand sich die Tür zu unserem Zimmer. Ich fütterte einen Kassenautomaten mit einigen Baht. In einem Stundenhotel, einem Unterschlupf für Ehebrecher, wurde Wert auf Diskretion und Anonymität gelegt, und damit war es, zumindest für einige Zeit, das ideale Versteck für uns. Wir gingen von Bord.