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Wein und Rosen
Wir saßen im Londoner, einem neu eröffneten Restaurant mitten im Weird, das die Morbidität der Nachtschwärmer Bangkoks zu befriedigen suchte. »Wenn das Kitos Vorstellung von einem Scherz ist«, sagte Primavera, »dann ...« Ein Aufschrei unterstrich, schrill und mädchenhaft, ihre empörten Worte, gefolgt von sanftem Applaus.
Die Tische waren um eine kreisförmige Arena herum angeordnet. In dem kleinen O in der Mitte wurde auf drei Seziertischen aus Marmor, die wie die Speichen eines Rades im selben Abstand voneinander platziert waren, Leben und Tod im England unserer Tage eindrücklich zur Schau gestellt. Auf jedem Tisch wand sich eine Gynoide in gespielter Pein nackt auf dem Bauch, die Handgelenke an einen Eisenring gefesselt; aus ihrem Rücken ragte eine funkelnde Nadel.
Ihr gedämpftes Seufzen verschmolz mit den leise geführten Gesprächen, dem Klappern des Bestecks, dem Knallen der Korken.
»Soll das heißen, dass du dich gar nicht geweigert hast zu arbeiten? Dass Kito gelogen hat, als sie sagte, dass sie dich nach England zurückschicken würde? Und dass du ebenfalls gelogen hast?« Verzeiht, meine Engel. Das nächste Mal höre ich auf euch.
Primavera rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und stocherte in ihrem Eisbecher, der so blond war wie ihre gefärbten Haare und ihre Haut. »Jetzt reg dich doch nicht so auf! Ich habe dich einfach gern in meiner Nähe. Das war nur eine kleine Notlüge. Und überhaupt hat es Madame mir befohlen. Und was Madame sagt ...«
Ich schaute mich in dem Restaurant um. Unter dieser scheußlichen Theatralik schwärte irgendetwas; etwas Reales, etwas noch Scheußlicheres; ein Schnitt, und der Eiter würde herausquellen.
Ich war heute Nachmittag am Nana Plaza eingetroffen. Kito hatte sich nicht herabgelassen, mich zu empfangen; stattdessen hatte mich Mr. Jinx instruiert, ihr Assistent. Nein, Kito sei nicht wütend; ein letzter Auftrag, hatte er gesagt, und dann wären wir frei von allen Verpflichtungen. Darauf folgte mein Wiedersehen mit Miss Blutsauger ’71. Ohne Worte, nur Sexspiele (Pflaster klebten mir auf Brust und Leisten); schließlich waren wir losgezogen, und alles war wieder in Ordnung gewesen. Unser intimes Dinner wurde nur von den vorgetäuschten Todesqualen Englands gestört, während ich kurz davor stand, Primavera zu gestehen, wie abhängig ich von bestimmten Küssen war, und ihr zu versprechen, dass ich sie nie wieder verschmähen würde. Sie hatte längst ihre Siegesbeute eingefordert: meine Würde und meinen Stolz.
»Ich weiß, dass du mich nicht liebst, Primavera, aber warum musst du mich so demütigen?«
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht aufregen!« Sie schob ihren Eisbecher beiseite. »Eigentlich dürfte ich dir das gar nicht erzählen. Aber schließlich bist du ja zurückgekommen ... Na gut, es war ein Spiel, eins von Primaveras kleinen Spielen. Madame hat gesagt, dass du mich liebst; ich hab ihr widersprochen. Sie hat behauptet, sie kann es beweisen ‒ du würdest zurückkommen, wenn du glaubst, dass ich in Schwierigkeiten stecke. ›Wollen wir wetten?‹, hab ich da zu ihr gesagt.« Überraschung, Schmerz, Boshaftigkeit, ein schlechtes Gewissen ‒ Primavera konnte gleichzeitig die Betrogene spielen und wie eine Frau dreinblicken, die dabei ertappt wird, wie sie ihren Liebhaber vergiftet. »Iggy«, sagte sie mit gespielter Wehmütigkeit, »warum bist du weggelaufen? Bin ich wirklich so schlimm?«
»Dass Kito mich verfolgen lässt, kann ich ja verstehen«, erwiderte ich. »Ich kann auch verstehen, dass sie mir diese Killerinnen auf den Hals hetzt ‒ ich weiß einfach zu viel. Aber warum hat sie mich nach Bangkok zurückgeholt? Wenn du auch ohne mich arbeitest, braucht sie mich doch gar nicht!«
Primavera ‒ von jedem Drehbuch gelangweilt, in dem sie nicht die Hauptrolle spielte ‒ ließ ihren Blick von der Show zu der Galerie aus Zeitungsausschnitten an den Wänden schweifen: Schlagzeilen und Fotografien aus der englischen Regenbogenpresse. Unter Dutzenden unscharfer Pin-ups aufgespießter junger Mädchen standen Textzeilen wie: »Tatyana, 16, aus Brixton: Alle ihre Freundinnen sind mit der Reinheitsfront aneinandergeraten. Nach dem Wahlsieg der RF wurde auch sie ausgeweidet! Jetzt weiß sie, was es heißt, Bauchschmerzen zu haben! Verstanden, Tatyana? Wir wünschen einen schönen Tag auf dem Spieß!« Unter einem Entlüftungsgitter flatterte ein (seit der Auflösung des Königreichs einfarbiger) Union Jack wie auf dem Turm eines Außenpostens am Ende der Welt.
»Primavera ‒ ich rede mit dir!«
»Das war nicht nur geflunkert«, sagte sie, zwischen Verbitterung und Launenhaftigkeit hin und her gerissen. »Ich freue mich wirklich, wenn du da bist. Aber ich liebe dich eben nicht; ich bin eine Lilim ‒ wir ticken da anders. Aber manchmal vermisse ich dich schon.« Sie erschauderte. »Du stellst mir immer so interessante Jungs vor.«
»Irgendetwas riecht hier faul.«
»Und ich«, sagte sie und beugte sich über den Tisch, »rieche das Blut eines Engländers.« Ihre rote Zunge glitt über eine lange Reihe spitzer Zähne.
»Setz dich hin«, murmelte ich, »und mach den Mund zu. Möchtest du, dass das jemand sieht?«
»Aber es gefällt dir doch, Iggy! Und du weißt, dass es nur ein klein wenig wehtut.«
Wie hübsch sie war! Bevor sie jemanden tötete, war sie immer am großartigsten. Heute Abend trug sie ein schwarzes Cocktailkleid aus Dermaplast, das sich an sie schmiegte wie die abgeschürfte, aber noch immer lebendige Haut einer Schönheitskönigin aus Harlem. Mit ihren fünfzehn Jahren (sie war genauso alt wie ich, aber meine Anämie ließ mich älter erscheinen) und ihrer milchweißen Blässe war sie der Fleisch gewordene Traum femininer Sünde: verhasst, weil begehrt; begehrt, weil verhasst. Sie war der Traum unseres Zeitalters.
An einem benachbarten Tisch hatten japanische Geschäftsleute einen Kellner gerufen. »Die da ‒ sie tot ‒ wir bekommen neue, ja?« Der Kellner, der einen Operationskittel, Gummihandschuhe und Mundschutz trug, sorgte dafür, dass eine frische Gynoide ihre kataleptische Schwester ablöste. Ihre Programmierung simulierte die obligatorische Ängstlichkeit. Auf allen vieren, die Hände angekettet, die Stahlnadel auf die rituelle Stelle genau zwischen Schamhügel und Bauchnabel gerichtet, blieb der verurteilten Puppe nichts anderes übrig, als erwartungsvoll zu zittern, bis der Kellner sie an den Füßen packte und daran zog ... Die Geschäftsleute, die Augen in unterschiedlichen Stadien voyeuristischer Erleuchtung zusammengekniffen, klatschten und pfiffen in trunkener Schadenfreude.
Gott, hat Einstein einmal gesagt, würfelt nicht; Primavera dagegen schon. Ihre grünen Augen wurden größer, strahlender, während sie sich auf etwas jenseits der Wände des Restaurants konzentrierten, jenseits des Big Weird, jenseits der Welt. Einen Moment lang hielt das Universum den Atem an, und die Realität existierte nur noch in diesen Augen, hinter denen sich grenzenlose Möglichkeiten verbargen. Für Primavera war das Universum ein abgekartetes Spiel. Wenn die Würfel fielen, richteten sie sich nach ihrem Willen.
Gläser explodierten, Singha-Bier und geborstenes Glas regneten auf die Japaner herab. Kellner tupften ängstlich besudelte Anzüge ab und zupften Splitter aus mit Bier durchtränktem Haar. Das Feuer in Primaveras Augen erlosch, zurück blieb eine schwelende Glut. Newton und Einstein regten sich unruhig in ihren Gräbern.
»Mitten durch ihr Uhrwerk, Iggy. Mitten durch ihre Matrix! Darüber hätten sie nicht lachen dürfen.«
Der Bauch einer Puppe (sagen die Lilim) ist heilig; er ist die Wiege der Ungewissheit; der Quell der Unvernunft; der quantenmechanische Sitz des Bewusstseins.
»Manchmal«, sagte Primavera, »manchmal sind mir Jungs zuwider.«
»Tja, morgen Abend werden sie sich wohl mit der Soi Ginza zufriedengeben. Jetzt aber Schluss mit den Spielchen ‒ er ist gerade hereingekommen.« Ein hochgewachsener Farang in einem maßgeschneiderten Anzug wurde an einen Tisch ganz vorne geführt.
»Ist das der Junge, den ich töten darf? Solche mag ich ganz besonders.«
»Antoine Sabatier. Ein Pariser Modeflittchen. Er ist sauer auf Kito, weil sie seine Designs geklaut hat. Er hat bei der ASEAN Klage gegen sie eingereicht.«
»Soll ich es hier tun?«
»Wenn es dir nichts ausmacht, dein neues Kleid mit Blut zu besudeln?«
»Meine Tischmanieren sind tadellos. Aber kann ein Mädchen nicht einmal mehr in Ruhe zu Abend essen?«
»Ich suche uns später einen netten Imbiss.«
»Aber Iggy, du hast das Töten doch so satt, schon vergessen?«
Ich klopfte ganz leicht mit einem Löffel gegen ein Glas, damit das Herumgekaspere endlich aufhörte. »Wir müssen nur warten, bis der maître de ... Da. Er wird ans Telefon gerufen. In ein Hinterzimmer. Genau wie Mr. Jinx gesagt hat. Komm, los ... okay, er geht hinaus.«
Primavera ließ ihre blondierte Mähne fliegen ‒ sie war bereits aufgestanden. Hastig nahm sie einen Spiegel aus ihrer Handtasche und zog ihren Lippenstift nach. Dann tupfte sie sich ein wenig von ihrem Lieblingsparfum Virgin Martyr hinter die Ohren.
»Für dich, Titania, reizende Königin der Puppen«, flüsterte sie und berührte die Brosche an ihrer linken Brust ‒ ein Pentagramm aus Smaragden, das Symbol wiedergewonnenen Stolzes und vielleicht das Einzige, was sie besaß, an dem sie wirklich hing. Ich schaute ihr nach und verfolgte, wie sich die beiden vertikalen Strumpfnähte an ihren Waden wie die exotischen Zeichnungen eines seltenen und tödlichen Reptils zwischen den Tischen und Stühlen hindurchschlängelten. Die Türen, die zur Küche und zu den Toiletten führten, schlossen sich hinter ihr. Bon appétit, kleine Hexe, dachte ich bei mir.
Ein philippinisches Quartett hatte eine Coverversion von »Oh doctor, doctor, I wish you wouldn’t do that« angestimmt, dem neusten Hit der englischen Zygodiddly-Band Imps of the Perverse. Die Kellner hatten ihren Mundschutz hochgezogen und waren in die Rollen verrückter Gynäkologen geschlüpft. Sie führten zwischen den Tischen unsägliche Pantomimen auf. Ich versteckte mich hinter der Speisekarte ‒ Fish ’n’ Chips, Pie ’n’ Eel, Steak ’n’ Kidney Pudding (Blei hat die Römer in den Wahnsinn getrieben) ‒ und setzte den Kopfhörer auf, der an meinem Stuhl hing. »... die wundervollen sorglosen Tage der Aube du millénaire waren vorbei: England machte sich auf das gefasst, was ihm bevorstand ...« All die Filme, die sie uns in der Schule gezeigt hatten: Hamlet, Richard III., Henry V.! Der Sprachgenerator war auf Olivier eingestellt. Ich wählte etwas anderes und drückte auf Play.
»Europa während der Aube du millénaire, ein historischer Zeitabschnitt, der gelegentlich mit der Belle Époque unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg verglichen wird, verleibte sich das sterbende Sowjetreich ein und wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Weltwirtschaft. Ohne zu versuchen, mit dem rein auf Produktion ausgerichteten pazifischen Block zu konkurrieren, den Japan und sein Juniorpartner Amerika dominierten, bestimmte Europa künftig, was als elegant galt und was nicht. Es wurde zu einem Modeimperium, zu einem Luxusgüterkonglomerat, das sich ganz der Aufgabe widmete, das narzisstische Streben der Reichen nach Gesundheit, Schönheit und Langlebigkeit zu befriedigen. Das Ziel lautete grenzenlose Miniaturisierung: die Schöpfung von Dingen, die die entwurzelten Neureichen, die Karrieristen des Informationszeitalters, bei oder in sich tragen konnten, um ihren gesellschaftlichen Wert und Status zu definieren. Diese Dinge verloren zunehmend jegliche Funktion und wurden zu objets, und das Empire de luxe wurde zu einem magischen Spielzeugladen, wo die Wunschträume der Erwachsenen erfüllt wurden. Und unter all diesem Kitsch war nichts so begehrt wie die Automata.
Der Cartier-Automat wurde von dem Mann entwickelt, den wir heute nur als ›Dr. Toxicophilous‹ kennen, und gehörte zu einer Baureihe, die den Namen L’Eve Future trug. Von 2034 bis 2043 in Paris und London produziert, war diese Serie der Versuch, eine Synthese zwischen der Welt der klassischen Physik und der submikroskopischen Quantenwelt herzustellen. Wie auch damals schon lange bekannt war, unterscheidet sich das menschliche Gehirn grundlegend von jeder künstlichen Intelligenz, weil es gelernt hat, sich Quanteneffekte nutzbar zu machen. Mithilfe von Nanotechnologie setzte Toxicophilous seine Maschine aus immer kleineren Komponenten zusammen; er manipulierte Partikel und Wellen. Dieser Vorgang, den Toxicophilous als ›fraktale Programmierung‹ bezeichnete und bei dem Hardware und Software nicht mehr voneinander zu trennen waren, brachte zwar keine menschliche Intelligenz hervor, dafür aber ein Gehirn, ein Automatenbewusstsein, das als Brücke zwischen klassischen und mikrophysikalischen Welten diente, ein Bewusstsein, das ›Quantenmagie‹ manifestierte.
›Kunststücke‹, sagte der Erfinder von L’Eve Futur, ›das ist alles, was sie zustande bringen: Kabinettstückchen. Feux d’artifice!‹ Aber schon damals waren ihre Programme vor allem von Mühen und Macken bestimmt ...«
Nichts Neues. Dasselbe Zeug, das sie uns auch in der Schule eingetrichtert hatten. Ich drückte auf Schnellvorlauf.
»Die Lebensdauer von ... Für die Puppen ist es unumgänglich, sich über einen menschlichen Wirt fortzupflanzen ... infiziert Männer durch ...«
Ein Farang hatte sich auf Primaveras Stuhl niedergelassen. »Da ist besetzt«, sagte ich und nahm den Kopfhörer ab.
»Sie müssen mir verzeihen.« Ein Amerikaner, der schleppende Akzent der Konföderierten; ein Nobodaddy-Somatotyp mit weißen Haaren und Bart. »Ich wollte schon immer einmal einen Engländer kennenlernen, und der Kellner hat gesagt ...« Ich war ein Slowake der zweiten Generation: Welcher Thai wäre in der Lage gewesen, die mitteleuropäische Verfälschung meiner Ostlondoner Vokale zu erkennen? Mein Akzent war so unerforschlich wie Primaveras balkanisierter Cockney.
»Ich bin kein Engländer«, sagte ich.
»Aber der Kellner war sich völlig sicher!«
»Ich stamme aus der Slowakei.«
»Da lebt noch jemand?« Er unterdrückte ein Lachen und verzog angewidert das Gesicht, als hätte er einen Schleimklumpen verschluckt. »Tut mir leid, das war nicht komisch.«
»Meine Schwester kommt jeden Moment ...«
»Arme Mädels.« Er hatte sich der Theateraufführung zugewandt. »Ich weiß, dass das nur Maschinen sind, aber was ist mit den jungen Frauen drüben in England? Wie heißen die noch mal? Ach ja, Lilim.« Er deutete auf eine Gynoide, die einen Todesorgasmus vortäuschte, wobei sie eher einer Gymnastin, einem Schlangenmenschen oder einer Tänzerin ähnelte als einem grausam misshandelten Mädchen. »Herrschaftszeiten, die ist doch nicht älter als meine Tochter!« Er streckte den Arm aus und zeichnete Kringel in eine Bierlache auf dem Tisch.
Ich blickte auf die Uhr. Primavera war jetzt zehn Minuten fort. Das war lange für sie. Nach wochenlanger Abstinenz würde sie ihren Freier in aller Ruhe abmurksen. Mit ihm spielen. Das Flittchen bis auf den letzten Tropfen aussaugen. Ich beschloss, den Störenfried bei Laune zu halten; irgendwie musste ich mich von meiner Eifersucht ablenken.
»Er ist äußerst sparsam«, sagte ich.
»Verzeihung?«
»Der Inhaber: Er achtet darauf, für seine Gynoiden nicht zu viel Geld auszugeben. Diese Mädchen gehören zu einer ganzen Charge von Gigoletten aus zweiter Hand ‒ sie stammen aus den Diskotheken des Big Weird. Seiko-Imitationen, würde ich sagen. Sie sind hergerichtet worden, damit sie wie Lilim aussehen, aber man kann die Münzeinwurfschlitze zwischen ihren Brüsten sehen.«
»Ja, das stimmt.«
»Zehn Baht pro Boogie«, sagte ich. »Das waren noch glückliche Zeiten.«
»Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe, Mr. ...« Ich ging nicht darauf ein. »Ich darf Ihnen doch noch einen Drink spendieren, bevor ich gehe.« Er rief nach einem Kellner. »Junge, Junge, das wäre wirklich toll, wenn Sie Engländer wären. Immerhin sind es jetzt fünf Jahre, seit mein Land wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen hat. Vielleicht kann ich der Insel ja irgendwann mal einen Besuch abstatten!« Zwei Biere wurden serviert. »Jack Morgenstern«, sagte er und streckte die Hand aus, während er mit der anderen ordentlich Trinkgeld gab. »Prost! Hoffen wir, dass es mit diesem traurigen kleinen Land unter der Reinheitsfront wieder etwas aufwärtsgeht.«
Ich trank einen Schluck Bier. »Die Führer der Reinheitsfront«, sagte ich, »sind Abschaum.« Morgenstern strich nervös an seinem Glas auf und ab.
»Glauben Sie mir«, sagte er, »ich bin kein Fan von denen. Wer zu so was fähig ist ...« Er deutete auf den Blutzirkus und seine artistes. »Aber Sie müssen zugeben, dass diese Typen immerhin wieder so etwas wie Ordnung hergestellt haben. Weiß Gott, wenn diese Lilim jemals entwischen ‒ und manche sagen, dass das längst passiert ist, dass sie auf dem europäischen Festland gesehen wurden ‒ wenn da irgendjemand entwischt und die Puppenplage verbreitet ...«
»Dann ist es ja nur gut, dass ich kein Engländer bin.«
»Himmel, nicht jeder ist infiziert! Ich bin da nicht voreingenommen. Nur die Londoner haben den Virus, und London ist abgeriegelt. Unter Quarantäne gestellt. Wirklich traurig, dass die Engländer die Sache nicht so gut in den Griff bekommen haben wie die Franzosen vor Jahren, als die Seuche zum ersten Mal ausgebrochen ist. Jedenfalls, aus London kommt niemand raus.«
»Tatsächlich?«
»Ja klar! Aber mein Kumpel, der Kellner, hat mir gesagt, in Südostasien gäbe es jede Menge saubere Engländer ...«
Meinte er das ironisch, oder war er einfach nur naiv? Die Engländer, die in Thailand Zuflucht gesucht hatten, verfügten notgedrungen über gefälschte Papiere; und obwohl die Regierung Ihrer Majestät das Gegenteil behauptete, war es ein offenes Geheimnis, dass die Seuche den Londoner cordon sanitaire längst durchbrochen hatte. Aus diesem Club exklusiver Exilanten waren wiederum Primavera und ich verbannt worden. Uns hatten die Deutschmark gefehlt, um die zuständigen Beamten in diesem bestechungsfreundlichsten aller Länder zu schmieren. Außerdem schlossen die Clubregeln nichtmenschliche Flüchtlinge aus. Wir waren ganz auf die bittere Barmherzigkeit von Madame K angewiesen.
»Warum interessieren Sie sich überhaupt für die Lilim?«, versuchte ich zu fragen. Ich wollte wissen, warum Morgenstern den arglosen Amerikaner im Ausland spielte. Aber meine Lippen hatten sich nicht bewegt. Sie waren so taub, als hätte ich an einem Kokain-Lolli gelutscht! Wie viele Biere hatte ich getrunken? Mein Kopf hielt einiges aus, aber der Raum begann sich zu drehen, und Jack Morgensterns Stimme war so leise, als würde er mich vom Mars aus anfunken.
»Immerhin ist es möglich, dass Sie Engländer sind! Theoretisch, meine ich ...« Ich stocherte mit einem Finger im Ohr ‒ in meinem Schädel summte ein Insekt herum. »Sie könnten zum Beispiel aus Madchester stammen. So nennen doch jetzt alle die Hauptstadt, oder?« Meine Haut war schweißbedeckt und so kalt wie das Kondenswasser an meinem Bierglas. »Das wäre wirklich der Hammer«, sagte er, »wenn Sie aus London kämen.«
Ich stand auf. Mir war speiübel. Wo war die Toilette? Und Primavera, wo warst du? Wo warst du, wenn ich dich brauchte? Wenn Mom mich ins Bett brachte, hatte sie mir oft Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt. Über den Bauernhof in der Nähe von Bratislava. Über Sommerspaziergänge durch die Karpaten ... Ich schlug so plötzlich auf dem Boden auf, als hätte mich einer von Primaveras Zaubersprüchen erwischt: eine von der einheitlichen Feldtheorie nicht vorausgesehene Dimension, etwas, das es gar nicht hätte geben dürfen! Teppichborsten drangen mir in den Mund. Meine Adern waren voller Eis ‒ wie beim Anblick einer geliebten Frau, nur dass ich kein Vergnügen empfand ‒, und meine Muskeln waren erstarrt. Ich war zu einer Statue geworden, die von ihrem Sockel gefallen war. Tik-tik-atikka, machte der Drumcomputer. She did the hula-hula. Tik-tik-atikka. And then I had to shoot her. Tik-tik-atikka. C-cos she’d stolen my computer.
Ich erblickte mein paralysiertes Gesicht in einer Schuhspitze aus Lackleder.
»Sir, Sir?«
»Alles in Ordnung«, sagte Morgenstern. »Das ist ein Freund von mir. Unser Wagen steht draußen. Sind Sie so nett und helfen mir?«