7
Westwärts!

Im Vorzimmer warten mehrere junge Mädchen auf ihre Hinrichtung. Sie sitzen auf einer geschwungenen Bank, die den Konturen der Wand folgt (fast spürt man, wie die Kälte durch ihre durchsichtigen Hemdchen dringt). Ihre Augen richten sich voller böser Vorahnungen auf den Mann, der durch die Tür tritt. Plötzlich wird es hell, und Pupillen schrumpfen auf die Größe von Stecknadelköpfen; Lippen zittern, Ketten rasseln. Der Mann nimmt einen Kugelschreiber von seinem Klemmbrett, hakt rasch etwas ab und hilft dem ersten Opfer des Abends auf die Füße ...

»Es bringt nichts«, sagte Dad. Er war gerade auf dem Dach gewesen. »Ganz egal, wie ich die Schüssel ausrichte, wir bekommen immer nur BBC.«

Das Mädchen wird einen von Rollstühlen und Tragen gesäumten Korridor entlanggeführt. Das weiße Licht ist unerträglich ...

»Von A bis Z«, sagte Dad, »von Z bis A. So wird es immer weitergehen. Unaufhörlich.« Dad schaltete den Fernseher aus. Mir gerann vor Wut das Blut in den Adern; mein Herz verkrampfte sich. »Nichts für Kinderaugen.«

»Es ist sowieso schon spät«, sagte Mom. »Wer möchte eine Ovomaltine?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich geh nach oben.«

»Du hast noch kein Französisch geübt«, sagte Dad.

»Ich habe Kopfweh.«

Mom legte ihre Näharbeit beiseite. »Du solltest ihm wirklich beibringen, was es bedeutet. Ignatz findet das alles langweilig. Er kennt nur die Schimpfwörter, die er bei den anderen Jungen hört.« Sie verließ das Zimmer und ging in die Küche.

»Eine halbe Stunde«, sagte Dad. »Bis ich richtig drin bin.« Er ließ sich in den Traumgestalter sinken. Es war ein einfaches Modell, das einem großen Wassertank glich und im Wohnzimmer viel zu viel Platz einnahm. Dad hatte fünf Jahre gebraucht, um es abzubezahlen. Die Software konnte er sich immer noch nicht leisten. (Seine Schwarzmarktgläubiger setzten ihn ständig unter Druck; wieder einmal durften wir beim Konsum anstehen.)

Dad riegelte sich ein. »Bist du bereit?«, fragte er.

Ich wählte die Pléiade-Ausgabe von À la Recherche du Temps Perdu aus Dads autodidaktischem Regal. Bevor er mir beigebracht hatte, wie man geschriebenes Französisch ausspricht (für Grammatik und Semantik haben wir keine Zeit, hatte er erklärt), hatte ich Charles Dickens’ gesammelte Werke durchgelesen. Aber Dad hatte gesagt, er sehne sich nach der Vergangenheit; die Welt von Dickens gleiche zu sehr der Unsrigen. Die Engländer würden wieder zu ihren Anfängen zurückkehren; John Bull knurrte mit atavistischer Wildheit.

Was tat Dad denn nur? Er war so ruhig. Furchtbar ruhig. »Liegt der Katheter richtig«, fragte ich ihn. »Und das Autozerebroskop?«

»Warte fünf Minuten, und dann fang an zu lesen.«

Ich ließ den Blick über die unverständlichen Seiten schweifen. Das Buch hatte irgendetwas mit der Belle Époque zu tun (allerdings mit einer anderen als der, über die Dad sonst redete, wie ich später herausfand); es ging irgendwie darum, verlorene Zeit wiederzuerlangen. Meine Zeitmaschine, nannte Dad seinen Traumgestalter.

»Longtemps ...« murmelte ich.

»Warte. Ich bin noch nicht im REM-Schlaf. Behalte den Alphawellenmonitor im Auge.«

Zeit. Die Melancholie von Erinnerung und verlorener Zeit. Haben Sie diese Mädchen gesehen?, fragten die Plakate an den Straßenecken; Primaveras Gesicht befand sich unter den Gesuchten. Manchmal schlich ich mich nachts auf das Dach unseres Hochhauses und richtete mein Teleskop auf Straßen und Häuser, auf verlassene Lagerhäuser und Fabriken ‒ auf alles, was einer Puppe als Versteck dienen mochte. Aber ich bekam nur Drohnen zu sehen, die ‒ wie jede Nacht ‒ ihre Lieferungen über die verbotene Zone transportierten.

Jener Sommer hätte nicht schöner sein können. Ihre Augen. Ihr Haar. Ihre Lippen. Ihre Zähne. Die Ekstase, die ihr Gift auslöste. Aber nun war der Sommer vorbei. Alles war verloren, so wie Primavera verloren war: Die Welt war voller Niedertracht.

»Die Puppen, die davonlaufen«, sagte ich, »meinst Du, die kommen weit?«

»Was?«

»Die Puppen, die davonlaufen!«

»Nicht jetzt, Ignatz.«

Träume. Vielleicht waren sie der einzige Ausweg. Softwareträume, in denen man sich verlieren konnte wie in einem längeren Gedankenspiel (oder, in Dads Fall, Wordwareträume, schmerzlindernd und in Echtzeit). Ich sah nach Dads Alphawellen. Bald würde ich mit meinem Vortrag beginnen und Worte, die für mich ebenso gut Maschinensprache hätten sein können, für Dads traumhungrigen Kopf in einen Trog herunterladen. Auch ich hatte Hunger; Primavera wurde seit einer Woche vermisst; ich bekam allmählich Entzugserscheinungen.

»Longtemps ...«

Nach einer halben Stunde überließ ich Dad seinen oneironautischen Entdeckungsreisen und zog mich in mein Zimmer zurück.

Als ich in jener Nacht aufwachte, glaubte ich noch zu träumen. Primavera schwebte vor meinem Fenster, zwanzig Stockwerke über der Straße; ihr Nachthemd bauschte sich in der mitternächtlichen Brise. Sie klopfte an die Scheibe, und ich schlafwandelte durch das Zimmer und ließ sie herein.

»Verdammte Scheiße, war das eine Kletterei ‒ schau dir mal meine Fingernägel an!« Sie versetzte mir eine Ohrfeige. »Wach auf, du Dummkopf!« Ich überquerte die Trennlinie zwischen Schlaf und Bewusstsein ‒ und stellte fest, dass sich nichts verändert hatte. »Ich verwandle mich mit jedem Tag mehr in eine Puppe.«

Ich wollte das Licht anmachen; sie packte mich am Handgelenk. Die amoralische Frivolität, die ihrem spröden Gesicht Glanz verliehen hatte, war dahin; sie war wieder ein Kind geworden, eine Zwölfjährige, deren Verletzlichkeit sehr menschlich wirkte. »Mir ist kalt«, sagte sie. Ich nahm sie in die Arme. »Ich bin mitten in der Nacht davongelaufen. Ohne Kleider.«

In ihrem weißen Nachthemd schien Primavera die Inkarnation jener Kaugummisammelkarten zu sein, die wir in der Schule untereinander tauschten: Nr. 52, Carmilla. Eine minderjährige Carmilla. Carmillas kleine Schwester vielleicht. Ich ließ meine Hand ihr Rückgrat hinuntergleiten und strich über ihr Kreuzbein, das trepaniert worden war, damit der Tzepa eindringen konnte.

»Wo hast du denn gesteckt?«

»Im Cricket-Pavillon.«

»Die ganze Woche?« Durch die Haut konnte ich ihre Knochen spüren; was hatte sie bloß gegessen? »Du hättest zu mir kommen sollen. Ich kann dich verstecken!«

»Verstecken nützt mir nichts. Ich muss von hier verschwinden. Du hilfst mir doch, Iggy, oder?« Ich packte sie etwas fester und wollte sie küssen; sie wandte sich ab und fixierte den Fernseher mit ihrem kalten Schlangenblick. »An«, sagte sie. Der Fernseher erwachte. »Toller Trick, was?« Ein abgebrochener Fingernagel blieb in meinem Schlafanzug hängen. »Wie können sie das nur tun?«

Ein großer runder Raum; drei Seziertische aus Marmor; auf jedem Tisch ... Das Bild flackerte über die Wände meines Schlafzimmers wie Projektionen einer infernalischen Laterna Magica.

»O mein Gott«, sagte Primavera, als die Kamera ein blasses Mädchengesicht heranzoomte, um den zarten Schmerz einzufangen. »Das ist Anna Belushi! Die kenne ich!« Die Herren von der englischen Presse bedrängten das sterbende Mädchen: Der Star in der Revue des Todes wurde zum Schluss noch einmal ausgiebig gefeiert.

»Miss Belushi, was halten Sie vom Erfolg der RF

»Schauen Ihre Eltern heute Abend zu, Miss Belushi?«

»Miss Belushi, wie wäre es mit einem Schrei für die Zuschauer zu Hause?«

Blitzlichter explodierten, und Anna Belushi tat ihnen den Gefallen.

»Sie hat nicht mal mehr einen Dad«, sagte Primavera. »Ihre Mutter hat sie bekommen, als sie vierzehn war. Ihr Dad ist ein paar Jahre später dem Zauber einer Puppe erlegen.« Ich drückte meinen Finger in die kleine Vertiefung am unteren Ende ihres Rückgrats. »Bitte«, flüstere sie. »Nicht.« Ich schaltete den Fernseher aus.

»Du kannst nirgendwohin fliehen«, sagte ich.

»Aber es muss doch eine Möglichkeit geben!« Ihre Stimme war ein ernstes Tremolo. »Viele Puppen laufen davon. Und nicht alle werden gefangen!«

»Da bleibt nur die Stadt. London. Und da kriegen sie uns.«

Sie ließ das Nachthemd von den Schultern gleiten und auf den Boden fallen. Dann schmiegte sie sich an mich, und die Kälte ihres Körpers sickerte durch meinen Schlafanzug und meine Muskeln in meinen Blutkreislauf. Sie nahm meine Hand und legte sie sich auf den Unterleib.

»Das gehört alles dir, Iggy. Erstklassiges Filet. Ich schenke es dir.« Ich konnte das zarte Pochen ihrer Bauchaorta spüren, die unter ihrem mutierenden Fleisch sicher verborgen war. »Wirf es nicht einfach weg, sondern halte es in Ehren. Ein Zauberkasten. Eine Trickkiste! Alles ist darin enthalten. Das ganze Universum. Alles, was geschieht. Alles, was geschehen kann! Pass darauf auf, und du wirst es nicht bereuen.« Sie rieb ihre Wange an meiner Brust. »Und jetzt wünsch dir was«, sagte sie.

»Uns soll die Flucht gelingen!«, sagte ich.

»Das war doch einfach, nicht wahr? Und du hast noch immer zwei Wünsche übrig.«

»Du weißt, dass ich dich liebe.«

»Du hasst mich«, flüsterte sie. Ich spürte das Kratzen ihrer Eckzähne. »Möchtest du, dass ich deine Gene ein wenig beschmutze?«

»Nicht hier«, erwiderte ich. »Mom und Dad ...«

Als sie fertig war, brachte ich sie aufs Dach und ließ sie in einem alten Taubenverschlag unter einer Daunendecke schlafen. Dann kehrte ich in mein Zimmer zurück und schaltete den Fernseher ein. Der einzige Weg, einen Vampir zu töten, sagte die RP. Warum rannten sie nicht davon? Sie waren Lilim! Sie konnten es mit jedem aufnehmen. Warum wehrten sie sich nicht? Stattdessen ließen sie sich als Pornodarstellerinnen missbrauchen, die sich mit einer Nebenrolle in der Verfilmung ihres eigenen obszönen Todes zufriedengaben. Ihre Darbietungen ließen mich nicht kalt ‒ das schlüpfrige Beben ihrer Oberschenkel, die ekstatische Raserei ihres durchstochenen Unterleibs. Ich sah zu, wie die roten Pfützen unter ihren bloßen Hüften immer größer wurden, lauschte den Klagen, der Tod ließe sich zu viel Zeit. Allmählich wurde ich ein Connaisseur, ein Genießer, der in der Lage war, das konspirative Geheimnis dieser Sendungen zu erfassen (wenn auch nicht zu durchdringen) ‒ etwas, das Jungen wie Myshkin nie gelingen würde. Wie auch? Angesichts der geschändeten Anmut auf unseren Bildschirmen konnten sie nur kreischen, spucken und in der Nase bohren, womit sie ihre eigenen Schmerzen ebenso schmähten und herabsetzten wie die Qualen ihrer gefügigen Schwestern.

O ihr armen Schwestern, warum wart ihr nicht alle so wie Primavera?

Von Montag bis Freitag hatte ich hinter einer leeren Schulbank gesessen; am Freitag, jenem Tag, an dem Primavera später die Solaris Mansions erklimmen und mich um Hilfe anflehen sollte, drehte sich eine von der Hyperästhesie des Entzugs heraufbeschworene Halluzination zu mir um und sagte: »Schaut euch diesen Ignatz Zwakh an ‒ der hört gar nicht mehr auf zu glotzen!« Das noch menschliche Mädchen, das an dem Tisch vor Primavera saß, hatte sich ebenfalls umgedreht und musterte mich neugierig, verärgert. Das Gespenst löste sich auf; ich senkte den Blick und versuchte mich auf mein Lehrbuch zu konzentrieren.

»Von mir wird verlangt«, sagte Mr. Spink, »dass ich eine Unterrichtsstunde einem ganz bestimmten Thema widme...« Er zögerte, hustete und schrieb dann Vox Humana an die Tafel. Vox war der Schulfunk der BBC, dem die RP einen neuen Namen gegeben hatte. »Ich muss allerdings vorausschicken, dass ich dem nur ... nur unter Protest nachkomme.« Hier und dort trampelte einer der Schüler mit den Füßen. »Hört auf!« Unterdrücktes Gelächter, dann plötzliche Stille; ich konnte den Druck auf meinen Ohren spüren. Sie hatten gewonnen, und sie wussten es auch, meine Komplizen ‒ die pubertäre Vorhut, die Höllenhunde von morgen. Sie hatten gewonnen, und die spöttische Ruhe, die auf allem lastete, schien Mr. Spink mehr zu verstören, als irgendein Trommelfeuer aus Gekicher und Gejohle es vermocht hätte. »Ähu, ähu, ähu ‒ alle Mädchen, die in einer Klinik registriert sind, dürfen gehen.« Zoe, Zika und Zarzuela (die meisten Puppen waren zu Hause oder interniert) schlurften in den Korridor hinaus, ganz dem Fatalismus derjenigen erlegen, die von allen im Stich gelassen worden waren, sogar von sich selbst, hielten sie sich doch weder für Märtyrer oder Verbrecher, sondern für Dinge. Ihre Gesichter waren so ruhig wie meine Nächte unruhig, wenn ich im Bett lag und an Primavera dachte. Zoe, Zika und Zarzuela ‒ Zzz! Sie geisterten durch Traumpaläste und Traumgefängnisse, durch Ausgeburten meines fragmentierten Lebens: Schule, Park, Straßen, Hochhäuser: ein zerstreutes Puzzle, das zu etwas angeordnet worden war, das wirklicher war als das Original, ein Weltgebilde, in dem sich endlose Korridore erstreckten und immerfort Blut unter einer verschlossenen Schlafzimmertür hervorrann.

»Die Integrität, die Integrität unserer Gefühle ... Zuneigung, Abscheu ... wird zersetzt, korrumpiert ...« Mr. Spink hatte sich an seinen Schreibtisch zurückgezogen und versteckte sich hinter einem Stapel von Schulheften. Der Monitor über der Tafel knisterte; Orgelmusik schwoll an; und Vlad Constantinescu, unser Conducător, blickte mit den stahlgrauen Augen eines strengen, aber gerechten Patriarchen auf uns herab.

»Als der Vernichtungsbefehl letzte Woche das Oberhaus passierte und die Zustimmung des Königshauses erhielt, hat England nach Jahren der Verdunklung und des Wirrsals endlich das Böse in unserer Mitte zur Kenntnis genommen und sich auf den Weg der Genesung begeben. Dieser Weg wird ein langer sein, aber ...«

Aber. Der Nachmittag war lang. Lang und heiß. Ich legte meinen Kopf auf den Tisch und blickte schläfrig zum Fenster hinaus. Wahlkampfflugblätter flatterten wie geteerte, verkrüppelte Vögel über den Pausenhof ‒ sie hatten ihre Aufgabe vollbracht. Dämoninnen, sagte Vlad. Hexen. Huren. Und er erzählte von seinen Vorfahren, dem Volk der Geister, von denen er seine Anweisungen und seine Macht erhielt. Draußen hatten sich kleine Jungen ‒ auf dem Weg von einer Unterrichtsstunde zur nächsten ‒ mit Treibholz bewaffnet und spielten Krieg. »SSSS!«, sagte einer von ihnen. Sein Gegner ging zu Boden, zuckte noch ein wenig und blieb dann still liegen. »RRRM!«, sagte ein anderer, dem vergessenen Zauber des Bleis verfallen. Körper krümmten sich in Zeitlupe, eine »Poesie der Gewalt«, wie Hollywood sie zelebrierte. Vampire, sagte Vlad. Säuberung.

Unruhige Nächte. Du lagst im Bett (wie auch Vlad im Bett liegen musste) und ordnetest die Puzzleteile des Nimmerlands immer wieder neu an, bis sie deine grausigsten Gelüste sanktionierten. Aber von allen denkbaren Universen ‒ warum dieses? Dieses schäbige, banale und unvollständige Puzzle? Ein Weltgebilde, das von einem Zygodiddly-Video inspiriert zu sein schien? Ich wandte den Kopf. Myshkin starrte mich an ‒ verschlagen, argwöhnisch. Kanake, dachte ich bei mir. Rainham-Kanake. Geschlechtsloser, elender Slawe. Métèque ... Bis London sauber ist. Bis England sauber ist. Bis der ganze Planet sauber ist! Hinter der Milchglasscheibe der Tür turnten weiße Kniestrümpfe vorbei: Primaveras Dienerinnen übten Handstand gegen die Wand. Ich schloss die Augen. Der Nachmittag war lang. Lang und heiß.

Das Läuten der Glocke, erst leise und tief in meinem Schädel, wurde lauter, schriller, hallte schließlich über meinen Schultisch. Kreischende Stühle und das grausame Lachen der Kinder folgten ihm. Ich setzte mich auf. Das Klassenzimmer hatte sich geleert. Nur Mr. Spink war noch da, völlig im Bann der hypnotischen Macht unkorrigierter Schulhefte. Der Monitor summte. Zoe, Zika und Zarzuela standen zögernd in der Tür. »Können wir unsere Sachen holen, Sir?« Mr. Spink nickte gleichgültig. Ohne mich anzuschauen griffen die drei Mädchen nach ihren Büchern; Zoe und Zika gingen hinaus, aber Zarzuela hatte den Kopf in ihrem Schreibtisch vergraben, einem Katastrophengebiet aus Comics und ausrangierten Kosmetika. Mit ihren schwarzglänzenden Locken war ihre Metamorphose weiter fortgeschritten als Primaveras, obschon ihre zweifarbigen Augen darauf hindeuteten, dass sie noch lange nicht vorbei war.

»Ignatz?«, flüsterte sie. Mr. Spink rührte sich nicht. Ich stand auf und ging zu ihr hinüber, wobei ich so tat, als würde ich einen Aushang an der Wand betrachten.

»Was ist?«

»Hast du Primavera gesehen?«

»Nein ‒ sollte ich?«

»Komm schon! Ich weiß doch, dass ihr immer zusammen rumhängt.«

»Ich hab schon die ganze Woche nichts mehr von ihr gehört.«

»Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit wir alle in die Klinik mussten, um uns operieren zu lassen. Savez-vous? Sie haben uns ein kleines Knochenstück aus dem Rückgrat entfernt.«

»Ich habe sie nicht gesehen.«

»Wenn du sie siehst ...« Ich hielt den Blick auf den Aushang gerichtet, der ›Aufstieg und Untergang des Empire de Luxe‹. Mit Cartoons wurde die Erschaffung der Puppen dargestellt, ihr glorreiches Leben, ihr Sturz. Die Geschichte begann damit, wie Europa auf dem Höhepunkt ihrer Macht ihre Kinder mit joaillerie, objets und couture überhäufte. Die folgenden Bilder handelten von den ultimativen Statussymbolen, den Automaten. Eine Puppe wurde gezeigt, wie sie gleich einer Uhrwerk-Venus, die aus einem chemischen Ozean auftaucht, ihrem Bottich entstieg. Die Bildunterschrift zitierte Christian Blanckaert, den Geschäftsführer des Comité Colbert: »Luxus ist für Frankreich, was Elektronik für Japan ist ...« Die letzten Bilder der Reihe schilderten den Untergang Europas: Europa, der die Sinne schwanden, dem ökonomischen Chaos ausgeliefert, von jeglichem guten Geschmack im Stich gelassen, von Technobanditen aus der Dritten Welt vergewaltigt, musste schließlich den Ausbruch der Puppenplage hilflos mit ansehen. »Ich weiß, dass sie nach ihr suchen ... Ich weiß, dass sie bestimmt furchtbare Angst hat, aber ...« Zarzuela erhob sich, ihre Bücher an die Brust gedrückt. »Sag ihr, sie soll nach Hause kommen. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren. Wir müssen unsere Medikamente nehmen. Ich hoffe nur, dass ich, wenn ich an der Reihe bin ... Sag ihr ... Sie war meine Freundin. Ich möchte nicht alleine sterben ...« Sie wandte sich zum Gehen. »Nadia war gestern Abend im Fernsehen. Nadia Polanski? Sie war ‒ sie war entzückend.«

Ich stellte den Ton ab; die Schreie waren zu laut geworden. Nur die bösen Mädchen, hatte Vlad gesagt. Die Durstigen. Die Flittchen. Die provocateurs. Aber sie internierten immer mehr von ihnen; und alle, die sie einsperrten, pfählten sie auch. Alle. Es hieß, sie gingen alphabetisch vor, nach Namen; andere wiederum behaupteten, der Computer träfe eine willkürliche Auswahl. Wie bei der Lotterie. Bitte stellen Sie sich an. Nicht drängeln! Sie da hinten ‒ rücken Sie nach! Nur ganz wenige versuchten zu fliehen; die meisten warteten einfach ab. Typisch Engländer! Das dunkle Herz der Insel gehörte dem Tod. Eine wächserne Gestalt, schweißbedeckt und das Gesicht unter einem Schleier aus strähnigem schwarzem Haar verborgen, ruhte auf dem Seziertisch, die Zähne von den Gliedern einer Kette gehalten, die über den blutigen Mund gespannt war. Das weiße Licht ... Im ganzen Land, in Wohnzimmern und Kneipen, an Straßenecken und in Bahnhöfen, nährte Anna Belushis missbrauchte Unschuld den sexuellen Zorn der Nation.

Mir blieb das Wochenende, um Vorbereitungen für unsere Flucht zu treffen.

Wir flohen durch die stillgelegten U-Bahn-Tunnel, die zum West End führten. In Stratford stiegen wir unter die Erde (wir waren mit einem gestohlenen Motorrad über Land gefahren) und glitten in einer kleinen Jolle durch die überfluteten Tunnel. Das Boot war wenig mehr als ein Kinderspielzeug, das ich gegen mein Teleskop eingetauscht hatte. Hier unten war es heiß und stickig. Ratten trippelten unter dem forschenden Auge meiner Taschenlampe davon.

Was würden meine Klassenkameraden dazu sagen? Die Gerüchte, ich sei mit einer Puppe befreundet, hatten mir bereits ihre Verachtung eingebracht; die Bestätigung dieser Gerüchte (bei der morgendlichen Versammlung in der Schule würde ich gebrandmarkt werden) würde zu meiner lebenslangen Ächtung führen. Dem Puppenzauber erlegen, würden sie sagen. Ich war ein Ausgestoßener geworden. Aber was hatte ich außer der Jugendstrafanstalt schon zu befürchten, wenn sie mich schnappten? Vielleicht sterilisierten sie mich. Und Medicine Heads wie Myshkin würden mir täglich eine Abreibung verpassen. Aber wenn sie Primavera schnappten ... Nein. Nein. Ich stieß mein Paddel in den unterirdischen Strom und konzentrierte mich darauf, in der brutalen Intimität der Finsternis die Namen der Stationen zu entziffern.

Bond Street. Ich richtete meine Taschenlampe auf den Bahnsteig und erhaschte einen Blick auf die wässrigen Grabstätten von Süßigkeitsautomaten, schimmligen U-Bahnplänen und Reklametafeln. Ein Plakat warb für ›Skin II‹, ein Prêt-à-porter-Derivat von Dermaplast; jemand hatte das Symbol der Reinheitsfront darauf gesprüht. Hastig versenkten wir unser Schlauchboot und wateten durch die knietiefe Brühe.

»Wir können nie wieder zurück«, sagte ich.

»Versprechungen, Versprechungen«, erwiderte Primavera. Sie klammerte sich an meinen Ärmel; noch waren ihre Augen nicht ganz grün und somit noch nicht in der Lage, im Dunkeln zu sehen. Die Taschenlampe erleuchtete eine Treppe. Froh darüber, unsere Füße aus dem Abwasser zu ziehen, begannen wir mit dem Aufstieg.

»Schalte die Lampe aus«, sagte Primavera.

»Aber ...«

»Dort oben lauert uns vielleicht etwas auf, du Dummkopf!«

Ich knipste die Lampe aus, hängte sie an meinen Gürtel und zog mein Skalpell hervor. Wir kletterten durch die Finsternis, bis ich den Fuß hob und nichts weiter vorfand als eine horizontale Stahlfläche.

»Ich brauche Licht. Ich sehe rein gar nichts!« Ich schwenkte die Taschenlampe in einem Halbkreis und sah, dass wir den Rand einer von den Fluten zerstörten Bahnhofshalle erreicht hatten, aus der erstarrte Rolltreppen hinausführten.

»Mach aus«, sagte Primavera. »Bitte.«

Wir tasteten uns zur Oberfläche hinauf.

»Riechst du das?«, fragte Primavera. »Das ist die Wildnis.«

»Der Wilde Westen«, sagte ich. Eine Windbö strich mir übers Gesicht und brachte den Geruch von Regen und Verfall. Hinter verbogenen Stahlschranken warteten verlassene Straßen auf uns. Sterne funkelten.

Ich nahm meinen Rucksack ab und reichte Primavera ein Handtuch und frische Kleider. Wir zogen uns beide aus und zogen statt unserer Schuluniformen (Primavera hatte meinen zu klein gewordenen Kinderanzug getragen) Jeans, Pullover und Anoraks an. Die alten Kleider versteckte ich hinter einem Fahrscheinautomaten.

»Komm«, sagte Primavera und schritt in die Nacht hinaus, »lass uns einen Schlafplatz suchen.«

Ich folgte ihr nicht gleich, sondern blickte zurück in die dunklen Tunnel. Mom und Dad, dachte ich, was werdet ihr morgen früh wohl sagen? Werdet ihr mir jemals verzeihen? Werde ich euch je wiedersehen? Ich musste an die Nachricht denken, die ich zurückgelassen hatte ‒ zusammengestoppelte Rechtfertigungsversuche, pubertäre Rhetorik, jedes zweite Wort durchgestrichen.

»Jetzt komm schon, Iggy!« Ich wandte mich um und ließ meine menschliche Vergangenheit hinter mir. Und gab mir alle Mühe, froh darüber zu sein, dass ich sie los war.

Bond Street war eine Wüste aus zersplittertem Glas und ausgebrannten Ladenzeilen, eine entweihte Gedenkstätte zu Ehren der Belle Époque. Primavera rettete ein zerfleddertes Designerkleid aus dem Rinnstein. Sie hielt es hoch und betrachtete es sachkundig.

»Hey, das Teil ist wirklich schick! Damit lässt sich etwas anfangen.« Sie schaute sich staunend um. »All diese Läden! S Laurent. Gaultier. Ungaro ...«

Ich stellte mir eine wieder hergerichtete Bond Street vor: ein Handelsplatz prächtiger Haute Couture ‒ eine Garderobe, in der ich meine Puppe einkleiden konnte, die fetischistische Miss P. Ich würde sie in Tutus und Trenchcoats stecken, sie mit schräg geschnittenem Leder, Unterwäsche aus Krokoimitat und Netzstrümpfen herausputzen. Außerdem würde ich ihr oberschenkellange Stiefel kaufen, eine pinkfarbene Nerzstola, Kettchen und neurotische Nuttenröckchen. Eine gefährliche Lady mit gefährlich viel Geld, die durch die Straßen streunte ...

Ich holte den Stadtplan hervor. Dies war das andere London, eine Stadt mitternächtlicher Nocturnen; der Ort, an den unsere Schatten fliehen, wenn sie unser überdrüssig sind. »Wenn das stimmt, führt die Bond Street zur Piccadilly.«

»Lass uns hier bleiben«, sagte sie und legte ihr Aschenputtelkleid zusammen. »Hier ist es irgendwie ... romantisch.«

Glas splitterte.

»Was war das?«

»Passt!«, zischte ich. Alles schien ruhig. Ein Hund, dachte ich. Eine Katze. Eine Ratte. »Wir gehen besser irgendwo rein.«

Wir traten durch die von Scherben übersäte Auslage des Ungaro und stiegen die verkohlte Treppe hinauf. Ungaro, so hatte mein Vater erzählt, war der erste Modeschöpfer gewesen, der Automaten auf den Laufsteg geschickt hatte, und in dem Büro im ersten Stock fanden wir mehrere zergliederte, geschändete Exemplare dieser frühen KIs.

»Das sind also meine Vorfahren«, sagte Primavera.

»Genauso wenig, wie meine Affen sind.«

Sie hob den Kopf eines männlichen Models auf. »Nicht schlecht«, sagte sie.

»Pass auf wegen der Batteriesäure.« Sie warf den Kopf zurück in das Beinhaus zu den anderen Ersatzteilen.

»Nicht mehr viel übrig, was?«, sagte sie. Vergilbte, zerknautschte Dermaplastkleider lagen überall verstreut wie die abgestreifte Haut uralter Frauen; dazwischen verblasste Polaroids (mit Edelsteinen geschmückte Bauchnabel in Nahaufnahme) und Poster, die für Virgin Martyr warben (unter einer gekreuzigten Negerin würfelten Männer in Abendanzügen um eine Parfumflasche; die Inschrift auf dem Kreuz lautete La Reine des Parfums).

»Morgen früh suchen wir uns etwas anderes«, sagte ich.

»Wenigstens werde ich so diese entsetzlichen Klamotten los.« Sie zog Jeans und Pullover aus. »Das ist von hier«, sagte sie und betrachtete das Etikett des Kleids, das sie auf der Straße aufgelesen hatte. »Ungaro.« Sie zog es sich über den Kopf. Es war schwarz und scharlachrot, mit Ganovenstreifen wie aus einem Comicstrip auf dem Oberteil, in der Taille gerafft und von der Hüfte bis zum Saum geschlitzt (mit Absicht oder mit Gewalt?) und hing sehr locker um Primaveras knospende Kurven. Diesen Look hatte ich schon in einigen von Moms alten Modemagazinen gesehen. Er wurde Apache genannt.

»Es ist tot«, sagte Primavera.

»Mach dir nichts draus. Irgendwann kaufe ich dir ein Dermaplastkleid, das es wirklich in sich hat.«

Ich ging zu dem vorhanglosen Fenster hinüber; der Mond war kaum mehr als eine Sichel, die Straßen dunkel. »Mein Dad hat früher hier gearbeitet.«

»Dein Dad?«

»Als Hausmeister. Er hat sich um eine ganze Reihe der Läden hier gekümmert. Bevor ich geboren wurde, jedenfalls. Während der Aube du millénaire. Dad behauptet, damals sei die Welt noch einigermaßen anständig gewesen. Anständig! ›Du weißt bestimmt nicht, was das bedeutet, Iggy, aber dafür kannst du nichts. Es ist unsere Schuld; genauso wie es unsere Schuld ist, dass unsere Kinder keine Zukunft haben. Gott sei Dank haben wir nur dich!‹ Dad hat immer solches Zeug geredet. Früher seien die Leute anständiger gewesen, hätten einander geliebt und die Wahrheit gesagt ‒ du weißt schon. Aber in den letzten Jahren ... inzwischen redet er nur noch, wenn er muss. Er träumt und überlässt alles andere Mom. Aber wenn er erzählt ...« Ich wischte über die Scheibe und betrachtete den Schmutz auf meiner Hand. »Ich hätte nie gedacht, dass die Reinheitsfront gewinnt. Ich kann nicht fassen, was da jetzt passiert. Aber Dad hat gesagt, dass das nichts Neues ist: die Bösartigkeit, die Verdorbenheit, das Grauen unter der Oberfläche. Selbst während der Aube du millénaire hätte es nur darauf gewartet, uns aufzufressen.«

»Du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, was wir essen sollen.«

Unter uns lagen die sagenhaften Ruinen von Londontown, ein Knochensack, ausgehungert und verlassen ‒ eine mehr als zweifelhafte Zuflucht. Die Straßen sahen aus, als hätte Dickens den Punk erfunden. Fast hätten wir uns in ihren Schatten verloren. Aber die noch unerprobte Magie einer Puppe (Primaveras Orientierungssinn war geradezu unheimlich) hatte uns vor vielem bewahrt, als wir auf dem Motorrad nach Westen gefahren waren. Das Klirren von splitterndem Glas kam jetzt näher, gefolgt von einem dumpfen, unmenschlichen Schmerzensgeheul. Irgendwo plünderten die Bewohner des Nimmerlands das Herz ihres Gefängnisses. Drohnen schwebten über den Dächern. Das Militär überwachte alles; eingreifen würde es nicht. Was kümmerten sie die Enteigneten? Proleten, Hinterwäldler, Morlocks: Ausgestoßene, deren einzige Hoffnung der anthropozentrische Chauvinismus der Reinheitsfront zu sein schien. Was kümmerte die da draußen unser Todestanz? Wieder ertönte das Geheul.

»Hund?«

»Ich werde keinen Hund essen!«

»Mich?«

»Schon besser.«

»Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Wie in Der schweizerische Robinson. Wir müssen ...«

»Hund kommt nicht infrage.«

»Aber ...« Sie legte die Arme von hinten um mich; ich spürte ihre Nase, ihre Lippen zwischen meinen Schulterblättern, wie ein gescholtenes Haustier, das sich einschmeicheln möchte. »Na gut«, sagte ich. »Kein Hund.« Sie schob den Kopf unter meine Achseln.

»Die Sterne«, sagte sie. »Allein unter den Sternen. Arme Primavera. Armer Iggy.«

»Die Sterne können uns nicht helfen.«

»Früher haben die Leute geglaubt, da draußen gäbe es Leben. Wir sind nicht allein, haben sie gesagt.«

Ich musste lachen. »Die Sterne sind tot.« Sie schlüpfte mit lautem elektrostatischem Knistern (ihr lebloses Kleid funkte auf ihrer Haut wie geladenes Nylon) zwischen meinen Rippen und meinem Arm hindurch und drehte sich so, dass wir ein Tier mit einem Rücken bildeten. Ihren Hintern drückte sie mir nachlässig gegen die Leisten. Ich legte meine Hände auf die halbe Portion ihrer Brüste.

»Wenn die Welt zu Porzellan erstarrt und alles ausgelöscht ist«, sagte sie, »werden die Sterne noch immer da sein. Aber weinen werden sie nicht.«

»Nicht alles muss ausgelöscht werden. Schließlich gibt es Verhütung. Sterilisierung. Abtreibung. So handhaben sie die Sache jedenfalls in Frankreich. Die ›verlorene Generation‹ haben sie das genannt. Ich habe nie verstanden, warum die Nimmerländer ...«

»Sie sind verliebt, Iggy. Verliebt in den Schmerz und den Tod. So wie du auch. Nur dass sie es nicht wissen.«

»Sie wollen es gar nicht wissen.«

»Genau! Sie wollen nur in der Puppenfabrik arbeiten. Sie wollen uns produzieren. Das Ende der Welt ‒ was für ein Jux! Was für ein tolles Spiel!«

»Ein Kriegsspiel. Wie ich es früher mit Myshkin und Beria gespielt habe.«

»SSSS! PAFF!«

»Vergessene Kriege. Imaginäre Kriege.«

»Der Golf. Die Antarktis. Oroonoko. Mars.«

»Liegen alle im Sterben ...«

»RRRM!«

»Es hat ihnen gefallen. Es hat uns allen gefallen ‒ ein Heldentod nach dem anderen ...«

»Ah, Iggy, ich bin getroffen!«

»Ich auch ‒ Arrgh!«

Primavera schüttelte sich wie in einem epileptischen Anfall, und die tote Haut ihres Bustiers wurde zähflüssig. »Ach Iggy«, sagte sie, »du böser, böser Junge!« Ich dachte an das letzte Mal, als wir das Sexspiel gespielt hatten ‒ damals hatte ich geglaubt, sie würde meine Zunge hinunterschlucken (bist du jemals barfuß durch den Needle Park gejoggt?); vor meinem geistigen Auge überlagerten die Gesichter von Myshkin und Beria Primaveras Gesicht ‒ die Augen weit aufgerissen und vor Schreck gelähmt kreischten sie begeistert, während ich aus meinem Spielzeugkarabiner Salve um Salve auf sie abfeuerte (mit Lasern gaben wir uns nicht ab; in den alten Videos, die wir von Myshkins Dad ausgeliehen hatten, benutzte die niemand); meine Freunde gingen zuckend zu Boden. Primavera entspannte sich und entglitt mir ganz langsam. »Ich will nicht mehr reden«, sagte sie. »Okay?« Sie zog mich auf das weiche Bett aus abgestorbenen Kleidern hinunter, nicht weil sie Hunger hatte (ihr Appetit war der Erschöpfung gewichen), sondern weil sie schlafen wollte. Sie rollte sich zusammen, die Wange an meinem Oberschenkel. Nicht mal ein kleiner Biss? Wie kannst du mich nur so enttäuschen? Meine Begierde machte mich so ruhelos, dass ich lange Zeit nicht einschlafen konnte. Ich musste an Moms Märchen denken. Der transsylvanische Prinz. Der böse König Wenzel. Die Katzenmenschen von Prag. Martina von Kleinkunst wird sterilisiert. Nein, nein; das stimmte nicht. Offenbar hatte ich mich in einen Traum verirrt, denn ich befand mich auf einer Art Modeschau, wo mich alle mit »Monsieur, Monsieur! Monsieur Ungaro!« ansprachen. Primavera trug das Haar in einer aufwändigen Frisur; sie führte ein blutrotes Abendkleid vor. Auch ihr marsianischer Schmuck, ihre Handschuhe und ihre Sandaletten waren rot. All das wirkte wie ein Film, der durch eine mit blutrotem Glyzerin verschmierte Linse aufgenommen worden war.

»Iggy?« Ich schreckte aus dem Schlaf. »Da unten ist jemand.«

»Wahrscheinlich ein Hund«, sagte ich. »Schlaf weiter.«

»Aber was ist, wenn ... Da! Hast du das gehört?«

Damals, bevor ich es besser wusste, spielte ich manchmal den starken Mann. »Ich schau mal nach.« Mit dem Arm eines gevierteilten Automaten bewaffnet stieg ich in die Finsternis hinunter. Ich zog die Taschenlampe aus dem Gürtel; hob den Arm und schaltete sie ein. Ein Gummiband sirrte; ein entsetzlicher Schmerz; irgendjemand (so schien es) öffnete mir eine Tür (vielen Dank); dann wurde die Finsternis absolut.

Die Tür ging erneut auf. Die ganze Welt war rot geworden. Aber eine Modenschau war das nicht. Und auch kein Traum. Vor mir loderte ein großes Lagerfeuer; über den Flammen schwebte ein geflügelter Junge mit Pfeil und Bogen. Jungen ‒ von der sterblichen Sorte (und auch ein paar Mädchen), die Köpfe rasiert und in Medicine-Head-Montur ‒ tanzten um einen dröhnenden Ghettoblaster, Bierflaschen in der Hand. Ich lehnte an einem Straßengeländer, die Hände an die Eisenstangen gefesselt. Ich blinzelte, um das Blut aus den Augen zu bekommen; aber die rote Tinte, in die die Welt getaucht worden war, war unauslöschlich.

»So viel zu deinem genialen Plan«, sagte Primavera. Ich drehte den Kopf in die Richtung ihrer Stimme. »Hier unten!«, sagte sie. Primavera lag in einem Kellerhof und war ebenfalls gefesselt, allerdings nicht mit einem Strick, sondern mit Ketten, die jedem Entfesselungskünstler Albträume bereitet hätten. »Siehst du die Bettgestelle?«

Um das Lagerfeuer standen, in vertrauter Anordnung, die verbogenen Rahmen improvisierter Todesmaschinen für das nächtliche Ritual bereit; schmale Metallstachel ragten aus dem Asphalt und zwischen den verrosteten Federn empor.

»Ich schaff es nicht. Ich bin nur eine kleine Puppe. Ich kann diese Ketten nicht zerbrechen.« Ich glaube, ich fing an zu weinen. »Reiß dich zusammen, Iggy, und überleg dir was!«

»Captain!«, rief einer der Medicine Heads. »Captain Vailant! O Retter Londons! Hier drüben, hier drüben!«

Eine von einem Fahrrad gezogene Seifenkiste tauchte aus der blutroten Stadtlandschaft auf. In meinem späteren Leben hätte sie mich an eine Rikscha erinnert.

»Wir haben eine!«, brüllte jemand über das ganze Tamtam hinweg. »Wir haben einen Bauch! Seht doch!«

Der Karren blieb stehen, und ein hochgewachsener Mann in Chirurgenkluft aus zweiter Hand trat auf die Straße. Sein Chauffeur stieg ab und reichte ihm einen Gehstock. Der Stock kratzte über den Bordstein. Der Captain war blind.

»Einen?«, sagte Captain Vailant gereizt, wobei er sich anstrengen musste, um sich über das Tosen des Feuers verständlich zu machen. Er war älter als seine Kumpane; Mitte zwanzig vielleicht; ein Anachronismus in einer Stadt, in der es immer weniger Menschen gelang, die Hürde zwischen Pubertät und Erwachsenenalter zu nehmen. »London ist voller Bäuche, und ihr findet nur einen?«

Die Medicine Heads blickten betreten zu Boden und kickten herumliegende Holzreste über den Asphalt. »Himmel, Captain, die Bäuche sind gefährlich. Letzte Woche haben sie Bobbo erwischt. Und Danny hat einen Arm verloren.«

»Wo«, sagte der Captain, in dessen dunkler Brille sich die Flammen spiegelten, »ist der Bauch?« Er sah aus wie ein verkaterter Schakal.

Ein Junge trat vor (an seinem Gürtel hing eine Schleuder mit einem Infrarotzielfernrohr), nahm den Captain am Arm und führte ihn über die Straße.

»Bauch?«, fragte der Captain und fuhr mit seinem Stock über das Geländer.

»Lasst sie in Ruhe«, sagte ich. »Dazu habt ihr kein Recht. Ihr seid gar nicht von der Klinik. Ich werde ...«

»Wer ist dieser mickrige Junge?«

»Er war bei ihr«, sagten die Augen des Captains. »Ein Puppenjunkie. Ein Süchtiger.«

»Ah«, erwiderte der Captain. Er streckte die Hand aus, und nachdem er einen Moment mit der Luft gerungen hatte, bekam er mich am Hals zu fassen. »Weißt du, was du bist? Ein Verräter! Ein mieser kleiner Verräter an deiner Rasse. Sie ist in dir drin. Spürst du es nicht? Sie kriecht in jede einzelne deiner Zellen. Schmutzig, schmutzig, schmutzig.«

»Wenn ihr ihm was tut, reiß ich euch den Kopf ab!«, schrie Primavera und fluchte auf Serbokroatisch.

Der Captain stieß ein Fauchen aus. »Ich kann sie bis hierher riechen. Den Bauch. Verdorben. Bösartig. Er muss gesäubert werden. Gepfählt! Ihr Augenblick der Wahrheit steht kurz bevor.« Er spuckte durch das Geländer. »Wie habt ihr sie zu fassen bekommen?«

»Sie ist noch jung«, erwiderten die Augen. »Ihre Metamorphose ist noch nicht abgeschlossen. Den magischen Staub brauchten wir gar nicht. Sie ... sie ist noch ein Kind.«

»Hör auf«, sagte der Captain, »mir kommen gleich die Tränen.« Er fuhr mit seinem Stock über das Geländer ‒ ein grässliches Glissando. »Was seid ihr doch für tapfere Soldaten! Ich habe es euch schon früher gesagt: Ich will Puppen, echte Puppen. Drei grünäugige Schlampen pro Nacht. Sie müssen lernen, ihre Medizin zu nehmen. Aber vor allem will ich die Große Schwester. Ich will, dass Titania vor mir kniend gepfählt wird!«

Der Captain erstarrte und fuhr herum. Sein Stock fiel zu Boden. »Mein Gott ‒ schaut doch!« Er deutete auf einen großen schwarzen Wagen, der, halb im Dunkeln verborgen, in einer Nebenstraße angehalten hatte. Plötzlich hob er die Hände vors Gesicht; bedeckte seine Augen; ließ die Hände wieder sinken. »Ich kann sehen!«, rief er. Er riss sich die Brille herunter und lächelte einfältig. »Möge sich eine Fellatrix mit Haifischzähnen meiner Lenden bemächtigen ‒ ich kann sehen!«

Und dann ging Captain Vailant in Flammen auf.

»Iggy, was passiert da?«

Der Captain rannte auf die Straße, zerrte an seinen Kleidern, stürzte auf den Asphalt und wälzte sich hin und her, während er schrie: »Sie ist es! Packt sie! Sie ist es! Sie ist es!« Doch seine Pfähler hatten sich zerstreut und waren in der Nacht verschwunden; und bald war es auch mit ihm vorbei, seine Leiche eine schwelende Ruine unter dem Scheiterhaufen des geflügelten Gottes der Liebe.

»Iggy!«

»Ich weiß es nicht ‒ ich weiß nicht, was da geschieht!«

Der schwarze Wagen. Die Marke kannte ich. Ein uraltes Modell. Ein Bentley. Eine ganz in Leder gekleidete junge Frau mit Schirmmütze stieg aus und kam auf uns zu. Ihre Augen loderten grün, und ihre schillernde Haut reflektierte wie ein auf Hochglanz polierter Spiegel die Feuersäule, sodass sie einer durchsichtigen Gipsform glich, aus der geschmolzene Bronze schäumte. Vor mir blieb sie stehen, das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Ein Fingerschnippen, und ich hörte Ketten zu Boden fallen.

Katzengleich erklomm Primavera die Wände ihres Gefängnisses und zog sich auf den Gehsteig hoch. Sofort machte sie sich daran mich loszubinden, wobei sie unsere Retterin im Blick behielt.

»Wer ist dieser menschliche Abschaum?«, fragte die junge Frau.

»Das ist Iggy. Mein Freund. Sprich nicht so über ihn!«

Die Puppe gähnte. »Auweia! Du bist wirklich noch ein kleines, naives Püppchen! Dein Freund findet seinen Heimweg schon allein. Unsere Herrin möchte dich sehen, sonst niemanden.« Die Puppe drehte sich um und stolzierte zum Wagen zurück.

»Entweder kommen wir beide«, sagte Primavera, »oder keiner von uns.«

»Hm. Wahrscheinlich glaubt ein Teil von dir noch, er sei menschlich. Daran kann ich mich ganz vage erinnern. Na schön, Schätzchen. Nimm ihn mit. Fürs Erste, jedenfalls. Vielleicht belustigt sie das.«

»Und wer ist ›sie‹?«, fragte ich.

»Die Königin natürlich«, erwiderte unsere Retterin. »Die Königin der Puppen.«

Als wir uns dem Wagen näherten, öffnete sich eine Tür. Auf der Rückbank saß ein Mädchen; sie mochte elf oder zwölf Jahre alt sein und hatte sich einen Mantel aus grauem Fuchspelz um die Schultern gelegt ‒ unsere Anstandsdame vermutlich. In ihrem Schoß lag eine Schachtel Pralinen.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Josephine. Ihr könnt Jo zu mir sagen.« Primavera und ich stiegen zu ihr nach hinten. »Keine Angst«, sagte Jo, »bei uns seid ihr sicher.« Der Motor sprang stotternd an; dann vollführte der Wagen eine Folge von Kängurusprüngen und schlingerte in die Nacht hinein.

»Wohin fahren wir?«, wollte ich wissen.

»Ins East End«, erwiderte Jo. »Zum Puppenpalast. Bitte...« Sie hielt Primavera die Schachtel hin. Primavera biss in eine Praline; eine dunkelrote Flüssigkeit rann ihr über die Hand, zwischen den Fingern hindurch und das Handgelenk hinunter.

»Blut?«, flüsterte Primavera.

»Aber ja«, sagte Jo. »Wo wir hinfahren, leben alle glücklich bis an ihr Lebensende.« Jo sah mich schief an und tupfte sich mit einem Taschentuch die Lippen ab. »Nun ja, fast alle.«

Primavera leckte sich die Finger und ließ das Fenster herunter. »Das ist der Strand«, sagte Jo. »Bald sind wir in der City. Seht ihr das Feuer dort drüben?« Sie deutete in eine Nebenstraße. »Noch mehr Medicine-Head-Abschaum. Titania schickt jede Nacht eine von uns los, damit wir die Ausreißer auflesen, bevor denen das gelingt.«

»Hast du den Mann in Brand gesteckt?«, fragte Primavera.

»Klar. So was kannst du auch bald.«

»Bisher«, entgegnete Primavera, »kann ich gerade mal einen Fernseher anschalten. Indem ich An sage.«

»Wenn deine Haare erst mal schwarz und deine Augen grün sind, dann kannst du alles, was du willst.«

»Nur Titania«, sagte die Fahrerin, »kann alles. Wir übrigen müssen uns mit ein paar Zaubertricks zufriedengeben.«

Jo schien angesichts ihrer Majestätsbeleidigung ein wenig verlegen. »Das habe ich ja auch gemeint«, sagte sie. »Du wirst ein wenig zaubern können. Natürlich kann nur Titania alles

Wir rasten durch die stillen Straßen der Innenstadt; auch meine Sitznachbarinnen waren still, ganz davon in Anspruch genommen, ihre Süßigkeiten zu verschlingen.

»Titania«, sagte ich, nachdem sie ihr blutiges Festmahl beendet hatten. »Ist sie eine Puppe?«

»Natürlich ist sie eine Puppe«, erwiderte Jo. »Aber keine wie wir. Sie ist nicht geboren worden, sondern erschaffen. Sie ist ein Original-Cartier-Automat. Die letzte der Großen Schwestern. Sie ist ...«

»Sie ist meine Mutter«, fiel ihr Primavera ins Wort, bestürzt angesichts dieser plötzlichen Erkenntnis, aber auch grenzenlos glücklich. »Meine wirkliche Mutter.«

»Nur Lilith«, sagte Jo, »ist das.«

Wir fuhren durch die ausgestorbene Betonwildnis, die ein Ebenbild von Troja, Karthago oder Pompeji hätte sein können ‒ überall um uns herum die Spuren vergangener Größe, allesamt dem Untergang geweiht.

»Whitechapel«, erklärte uns die Frau am Steuer. »Brick Lane.«

Whitechapel. Da hatten Mom und Dad gewohnt, als sie gerade nach England gekommen waren. Der Bentley fuhr über den Bordstein, um einem ausgebrannten Wagen auszuweichen, und bog in eine Lagerhalle ein.

Wir stiegen aus, und Jo führte uns über eine riesige, mit Ölflecken übersäte Betonfläche, auf der überall Ersatzteile herumlagen ‒ ein Ort, wie sich Mechaniker den Himmel vorstellen. In der Mitte stand ein verrosteter Samowar. Sie bückte sich, packte einen Eisenring, der in den Boden eingelassen war, und zog daran. Eine Falltür öffnete sich.

Unter uns verlor sich eine Wendeltreppe in der Unendlichkeit; aus der Tiefe drang ein blauer Lichtschimmer zu uns herauf und warf einen fahlen Strahlenkranz an die Decke der Lagerhalle.

»Dann mal los«, sagte unsere Begleiterin.