17. Kapitel
Liebste Jo!“ Lottie Cummings schlüpfte in Joannas Kajüte auf der Raison und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss. „Es tut mir ja so furchtbar leid! Bitte sag, dass du mir verzeihst!“
„Was denn, Lottie?“ Joanna war nicht in versöhnlicher Stimmung. „Dass du dich mit John Hagan verschworen hast, Davids sogenannten Schatz zu stehlen? Oder gibt es da noch etwas anderes, wovon ich nichts weiß?“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Hast du versucht, auf der Hinreise Alex zu verführen, als ich krank war? Ganz London wusste, dass du mit David geschlafen hast, als er das letzte Mal in London war, also wäre Alex wohl nur ein weiterer in deiner Sammlung meiner Ehemänner gewesen.“ Sie seufzte. „Es ist wirklich merkwürdig, Lottie – du besitzt so viel, und dennoch kommt es mir vor, als wolltest du immer auch noch das, was andere Leute haben.“
„So ist das nicht.“ Lottie zog einen Schmollmund. „Und ich war wirklich furchtbar diskret mit David.“ Sie fing Joannas verächtlichen Blick auf und wedelte mit den Händen. „Es tut mir leid, aber du weißt ja selbst, was für ein entsetzlicher Lüstling David war – ich war für ihn auch nur eine von vielen, also kannst du mir das kaum zum Vorwurf machen. Und was John Hagan betrifft … Wenn ich geahnt hätte, was er für ein schrecklich gewöhnlicher kleiner Mann er ist, hätte ich niemals eingewilligt, ihm zu helfen. Aber ich war so neugierig auf den Schatz, Liebste – das kam mir alles so romantisch vor, wenn du verstehst, was ich meine …“ Sie verstummte betreten, als sie Joannas skeptisch hochgezogene Augenbrauen sah. „Ich war unglücklich“, murmelte sie. „Ich wusste, dass Devlin nur mit mir gespielt hat, und prompt hat er gestern unsere Affäre beendet. Er sagte, er langweile sich.“ Sie klang empört. „Sich langweilen – mit mir! Kannst du dir das vorstellen? Und unser atemberaubender Owen Purchase ist in dich verliebt, liebste Jo, also gab es gar keinen anderen, mit dem ich mich hätte amüsieren können …“ So ganz gelang es Lottie nicht, den Neid aus ihrer Stimme herauszuhalten.
Joanna seufzte erneut. „Das Ganze erscheint mir wie eine Komödie von Shakespeare, in der jedermann in die falsche Person verliebt ist, nur dass die Geschichte leider überhaupt nicht lustig ist.“
Lottie hob die Hände. „Unsinn, Liebes! Du liebst Alex, und er liebt dich ebenfalls, und zwar schon lange, denn sonst hätte er mich nie zurückgewiesen. Ich habe in London einen Annäherungsversuch gewagt“, erklärte sie, „aber leider war er gar nicht an mir interessiert.“
Joanna betrachtete ihre frühere Freundin in ihrem adretten rosa und weiß gestreiften Morgenkleid. Die ersten Linien und Fältchen zeichneten sich bereits um ihre Augen und an ihren Wangen ab. Um das zu verbergen, hatte sie sich an diesem Tag gekonnt geschminkt. Nur der ungewohnt harte Ausdruck ihrer braunen Augen verriet, wie unglücklich sie war. Und dieses Unglück war echt, das erkannte Joanna. Vielleicht hatte sie doch aufrichtig etwas für Devlin empfunden, und als er ihre Affäre beendet hatte, war doch mehr verletzt worden als nur ihr Stolz. Vielleicht wusste Lottie auch, dass das Alter näher rückte und junge Männer nicht ewig um ihre Aufmerksamkeit buhlen würden. Vielleicht war sie aber auch einfach nicht glücklich in ihrem verhätschelten Leben mit Mr Cummings, ganz gleich, wie viel ihr materielle Dinge bedeuteten, und suchte insgeheim nach etwas anderem. Joanna war sich nicht sicher. Eines Tages können wir möglicherweise unsere Freundschaft kitten, und dann werde ich Lottie diese Fragen stellen und versuchen, ihr zu helfen. Aber nicht heute … Im Moment war sie noch zu dünnhäutig. Lotties Verrat war nichts, nur ein Nadelstich im Vergleich zu dem Schmerz, Alex verloren zu haben. Joanna fühlte sich so müde und leer, dass sie keine Kraftreserven mehr hatte.
Lottie mit ihrem ausgeprägten gesellschaftlichen Feingefühl spürte, dass der Moment gekommen war, die Dinge lieber auf sich beruhen zu lassen. Mit raschelnden Röcken erhob sie sich. „Ich will dich jetzt nicht länger belästigen“, sagte sie, „aber ich bin froh, dass wir wieder Freundinnen sind, liebste Jo, und ich verspreche dir, von nun an werden wir keine Geheimnisse mehr voreinander haben. Und ich werde auch niemals wieder versuchen, einen deiner Ehemänner zu verführen.“
„Das weiß ich zu schätzen, Lottie“, versicherte Joanna müde, als Lottie sich anschickte, die Kajüte zu verlassen. „Wir sehen uns dann beim Abendessen.“ Da sie es ohnehin mehrere Wochen lang auf demselben Schiff miteinander aushalten mussten, war es nur vernünftig, wenn sie versuchten, sich wieder auszusöhnen. John Hagan gegenüber jedoch wollte sie sich nicht so großzügig zeigen. Das wäre zu viel verlangt. Er hatte seine Bediensteten die Marmorblöcke auf das Schiff schleppen und im Laderaum verstauen lassen. Er steckte voller Pläne, wie der Marmor abgebaut werden sollte; Pläne, die Joanna sich einfach nicht anhören mochte.
Die See war ruhig. Joanna saß mit Max in ihrer Kajüte – eine wesentlich luxuriösere Kajüte, als die Sea Witch zu bieten hatte – und fragte sich, wie sie die langen Tage der Reise verbringen sollte, nachdem es nicht so aussah, als würde sie wieder seekrank werden. Es stimmt, ich bin ein seichtes Geschöpf. Ich kann gar nichts mit dem Alleinsein anfangen. Ich werde hier nur einfach herumsitzen und mich selbst bemitleiden. Wie gespenstisch.
Kurz vor dem Abendessen hörte Joanna plötzlich Schritte auf dem Flur, und schon ertönte Lotties aufgeregte Stimme: „Liebste Jo, komm schnell! Beeil dich, das musst du dir ansehen!“ Die Kajütentür flog auf, und da stand Lottie. Ihr Gesicht strahlte vor Aufregung, als sie Joannas Hände ergriff. „Es ist die Sea Witch! Er ist gekommen, liebste Jo, ich wusste, dass er kommen würde!“
Joanna hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Sie wollte nicht hoffen, sie wagte es nicht. „Wer – er?“
„Alex natürlich.“ Lottie drückte begeistert ihre Hände. „Sie haben uns sehr schnell eingeholt, und ich glaube, sie wollen entern. Sie haben nicht einmal das Beiboot zu Wasser gelassen, sie haben ihr Schiff längsseits gebracht und werfen Taue aus wie echte Piraten! Captain Hallows ist wütend …“ Sie zog Joanna bereits ungeduldig mit sich. „Komm und sieh dir das an!“
An Deck herrschte ein Tumult wie bei einer Seeschlacht. Die Sea Witch lag so dicht neben der Raison, dass kaum noch eine Lücke zwischen den beiden Schiffen klaffte. Taue flogen von dem kleineren Schiff auf die Fregatte. Alex sprang hinterher, nahm sie auf und band die Schiffe aneinander. Dev half ihm dabei.
Captain Hallows war vor Wut ganz rot im Gesicht. „Sie sind ein verdammter Pirat, Purchase!“, brüllte er. „Sie sind gemeingefährlich, dafür werden Sie hängen!“ Er drehte sich zu Alex um. „Und Sie, Grant, Sie können nicht einfach mein Schiff entern. Die Admiralität wird davon erfahren und Ihnen nie wieder einen Auftrag erteilen. Man wird Sie vors Marinegericht bringen.“ Aufgebracht sah er Dev an, der so sehr lachte, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. „Das gilt auch für Sie, Devlin. Keinerlei Disziplin, das ist Ihr Problem. Sie sind alle eine Horde Piraten, und Sie werden alle hängen.“
„Dann sollte ich mir jetzt lieber holen, wofür ich gekommen bin, und Sie nicht weiter belästigen, Hallows.“ Alex drehte sich um und sah Joanna an. Ihr Herz klopfte plötzlich zum Zerspringen, als er zielstrebig auf sie zukam.
„Was machst du hier?“, fragte sie mit bebender Stimme. „Ich laufe vor dir weg, du kannst nicht so einfach hinterherkommen!“
„Das kann ich, und das habe ich.“ Alex lächelte unvermittelt, und ein winziger Hoffnungsfunke glomm in ihr auf. „Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du mich noch liebst“, sagte er.
Alle, die um sie herumstanden, hielten gleichzeitig den Atem an.
„Du kannst von mir nicht erwarten, dass ich dir vor all diesen Leuten eine Liebeserklärung mache“, wandte sie schwach ein. „Das gehört sich nicht.“
„O doch, das erwarte ich.“ Er wartete. Alle sahen Joanna an. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. „Joanna“, sprach Alex weiter, „Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Ich würde für dich bis ans Ende der Welt gehen.“ Er lächelte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Nur damit das geklärt ist.“
Donnernder Applaus brandete auf.
„Gut gemacht, Alex!“, rief Dev.
„Vielen Dank.“ Wieder lächelte er dieses sorglose Abenteurerlächeln, an das Joanna sich so gut erinnerte, und ihr Herz geriet erneut ins Stolpern. „So, und nun komm mit mir, ehe Hallows uns alle erschießt.“
Er hob sie auf die Arme. Joanna spürte die Wärme seines Körpers, hörte den Schlag seines Herzens. Sie klammerte sich an ihn und konnte immer noch nicht recht glauben, dass er wirklich da war, dass er ihretwegen gekommen war. „Warte!“ Sie legte eine Hand auf seine Brust. „Mein Gepäck! Meine Kleider! Alex …“
„Die brauchst du nicht.“
„Ich kann doch nicht ohne mein Gepäck reisen“, widersprach sie.
„Joanna.“ Seine Stimme klang so fest, dass sie jeden Widerstand aufgab. „Ich warte jetzt nicht zwei Stunden, bis du deinen Reisekoffer gepackt hast. Bis dahin hat mich Hallows längst in Ketten gelegt.“
„Also gut.“ Joanna fügte sich ins Unvermeidliche. „Max!“, fiel ihr plötzlich ein, als Alex sie gerade über die Reling in Purchases Arme heben wollte. „Alex, ich kann Max doch nicht zurücklassen.“
Alex fluchte. „Hol den verdammten Hund, Dev!“, brüllte er, doch Max hatte längst den Weg an Deck gefunden und sprang mit einem Satz hinüber auf die Sea Witch.
„Siehst du“, sagte Joanna lachend, „Ich sagte dir doch, in ihm steckt jede Menge Energie. Er übernimmt sich einfach nur nicht gern unnötig.“
Ein seltsam unwirkliches Heulen und Wehklagen ertönte hinter ihnen, und zum zweiten Mal hielt Alex inne. Eine Gestalt kam den Niedergang herauf; ein Mann, dem der Aufruhr an Deck scheinbar völlig entgangen war. Er war bedeckt von Staub und hielt etwas in der Hand, das wie ein kleiner Stein aussah.
„Cousin John!“, rief Joanna aus. „Was um alles in der Welt …“
Noch während sie ihn ansahen, schien der Stein in John Hagans Hand zu zerbröckeln und wie Staub durch seine Finger zu rinnen. Alex warf einen Blick auf den weißen Staub und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, Mr Hagan hat soeben herausgefunden, dass sein sogenannter Schatz wertlos ist“, stellte er fest.
„Du wusstest, dass das passieren würde?“, fragte Joanna ihn vorwurfsvoll. „Du wusstest, dass Davids Schatz nichts wert ist?“
„Sobald ich erfuhr, dass es sich um Marmor handelt. Er gefriert im Boden, und wenn er dann erwärmt wird, zerfällt er zu Staub.“
Der Wind fegte über das Deck und blies den weißen Staub fort, bis nichts mehr davon übrig war.
„Wie typisch für David“, sagte Joanna seufzend, „seiner Tochter ein wertloses Erbe zu hinterlassen.“
„Ein Erbe, das sein Cousin dann auch noch gestohlen hat“, fügte Alex hinzu, „und das alles vergebens.“ Er lächelte sie an. „Und jetzt, meine Liebste, haben wir beide sehr viel miteinander zu bereden.“ Er trat an die Reling und hob Joanna in Owen Purchases Arme.
Purchase stellte sie auf die Decksplanken. „So gern ich Sie weiter im Arm halten würde, Lady Grant, aber ich fürchte, ich habe auf meine Ansprüche verzichtet.“
„Ehe Sie mich ganz loslassen“, erwiderte Joanna, „bin ich Ihnen wohl meinen Dank schuldig.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Sie waren derjenige, der Jem Brooke zu mir geschickt hat, damit er mich vor David beschützt, nicht wahr?“, flüsterte sie. „Ich habe lange gerätselt, bis mir einfiel, dass Sie in jenem Winter mit David zusammen auf einer Expedition gewesen sind. Sie müssen erfahren haben, was geschehen war, auch wenn David immer versucht hat, es geheim zu halten.“
Eine ganze Weile sah Owen Purchase ihr stumm in die Augen, dann lächelte er. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, entgegnete er und ging davon, zurück zu Mr Davy ans Steuerrad.
Alex sprang zu ihr aufs Deck. Devlin löste die Taue, und die Sea Witch schien einen solchen Satz nach vorn zu machen, dass die größere Fregatte in ihrem Fahrwasser zu schaukeln begann. „Wenn ich Hallows wäre, würde ich Purchase auch hassen“, bemerkte Alex mit einem Blick zurück auf die Raison.
Und dann sahen sie sich an. Plötzlich wurde alles ganz still. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten.
„Du hast mir die Sea Witch geschenkt“, sagte Alex nach einer Weile. „Und die Freiheit, zu gehen, wohin ich will.“ Er lächelte auf einmal. „Das war sehr großzügig von dir, Joanna, aber ich will dein Geschenk nicht. Ich will dich.“
Joanna schluckte. „Ich liebe dich“, flüsterte sie, „aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass du mir verzeihen würdest.“
Alex nahm ihre Hände. „Joanna, ich liebe dich ebenfalls“, wiederholte er. „Ich verstehe, warum du so gehandelt hast. Ich war sehr wütend, aber ich kann dich verstehen. Und daher – ja, ich habe dir längst verziehen, und ich schwöre dir, was ich eben gesagt habe, sind keine leeren Worte und Versprechungen.“
Joanna zitterte. „Aber ich habe dich angelogen, Alex“, stammelte sie. „Ich habe dich getäuscht und betrogen.“
„Und anschließend hast du mir die Wahrheit gesagt.“ Er sah sie eindringlich an. „Es gibt vieles, was ich dir sagen möchte, Joanna“, fuhr er mit rauer Stimme fort, „doch zuerst sollst du wissen, dass ich über Ware Bescheid weiß.“ Sie hörte ihn tief durchatmen. „Ich weiß, was er dir angetan hat.“
Joanna zuckte zusammen, denn der Ausdruck in seinen Augen erschreckte sie. Er machte ihr Angst, obwohl sie wusste, dass Alex‘ Zorn nicht gegen sie gerichtet war. Wenn David nicht längst tot wäre, dachte sie, dann hätte seine letzte Stunde sicherlich jetzt geschlagen. „Wer hat es dir gesagt?“ Sie seufzte leise. „Ich nehme an, Owen. Es war ein Geheimnis, nicht viele Menschen wussten davon.“
„Warum?“, fragte er leidenschaftlich und drückte fest ihre Hände. „Warum hast du mir das nie erzählt, Joanna? Hattest du nicht genug Vertrauen zu mir?“
„Nein, jedenfalls nicht am Anfang.“ Mit ihrem Blick flehte sie ihn an, sie zu verstehen. „Ich wusste, du würdest mir nicht glauben. Wie auch, nachdem David dich gegen mich aufgehetzt hatte?“ Wieder seufzte sie. „Später wollte ich es dir sagen, aber für dich war David immer noch ein Held.“ Sie blickte hinab auf ihre ineinander verflochtenen Hände. „Ich hätte deinen Glauben an ihn in den Grundfesten erschüttert.“
„Er war ein verdammter Schurke“, stieß Alex heftig hervor.
Joanna hob die Hand und presste die Finger an seine Lippen. „Nein, Alex, er war einfach ein Mann. Er konnte sehr hart sein – er hatte seine Fehler, aber auch seine guten Seiten …“ Sie verstummte, als Alex verächtlich auflachte, und brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. „Es waren nur wenige gute Seiten“, gab sie zu, „aber eine davon war die, den Mut gehabt zu haben, dir das Leben zu retten.“
„Es erstaunt mich, dass du den Großmut aufbringen kannst, das zu sagen“, bemerkte Alex grimmig. Er schlang die Arme um sie und schmiegte seine Wange an ihre.
Joanna wollte am liebsten ganz in dieser warmen, vertrauten Umarmung versinken, aber sie wagte es nicht. Alex kannte jetzt zwar die Wahrheit, doch die Situation änderte sich dadurch nicht. Er mochte ihr ihren Betrug verziehen haben, trotzdem brauchte er immer noch einen Erben.
„Das war der Grund, warum du glaubtest, du könntest keine Kinder bekommen.“ Alex’ Stimme klang unverändert hart, sein Zorn war fast greifbar. „Du hast mit Ware gestritten, weil er dir vorwarf, unfruchtbar zu sein, und dann hat dich dieser unerträgliche Bastard körperlich angegriffen und deine Befürchtungen wahr werden lassen. Allein dafür könnte ich ihn umbringen.“
Joanna fing erneut an zu zittern. „Als die ersten Monate unserer Ehe vergangen waren und ich noch immer nicht empfangen hatte, wurde er zunehmend wütender“, flüsterte sie. „Es gab keinen Grund, keine Erklärung dafür, aber ich fing an zu glauben, dass es meine Schuld sei. Dann gerieten wir in Streit, er verletzte mich und …“ Sie konnte nicht weitersprechen, Tränen rannen ihr über die Wangen.
Alex zog sie fester an sich. „Joanna, wir brauchen nie wieder über Ware zu sprechen, nur eins noch …“ Er zögerte. „Nachdem er dich verletzt hatte, haben dir die Ärzte da gesagt, du könntest niemals ein Kind bekommen?“
Joanna schmiegte die Wange an seine Brust. Sie hatte Angst, sich diesen Erinnerungen erneut zu stellen, aber sie wusste, es ging nicht anders. Sie musste nur einfach darauf vertrauen, dass dieses Mal Alex bei ihr sein und ihr beistehen würde. „Nein“, murmelte sie. „Du weißt ja, wie Ärzte sind. Sie wollten sich nicht festlegen. Es war nur einfach so, dass ich es gefühlt habe.“ Sie hob den Kopf. „Ich fühlte mich – verändert. Leer. Es ist schwer zu beschreiben. Ich vermute, ich hatte alle Hoffnungen und jeden Glauben daran verloren, dass es vielleicht doch anders kommen könnte.“
„Aber könntest du jetzt wieder anfangen zu hoffen und abwarten, was passiert?“, fragte er mit einer solchen Zärtlichkeit in der Stimme, dass ihr warm ums Herz wurde.
Sie sah hinaus auf das blaue Meer. „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie ehrlich. „Alex, ich habe Angst zu hoffen, Angst, diese Träume und Sehnsüchte wieder in mein Leben zu lassen. Sie sollen nie wieder die Macht haben, mich erneut zu verletzen.“
„Ja, das verstehe ich.“ Alex küsste sie aufs Haar. „Aber wenn du mich so liebst wie ich dich, dann haben wir immer noch uns. Mir reicht das. Aber reicht es auch für dich?“
Joanna lächelte. „Noch vor Kurzem dachte ich, ich hätte dich ebenfalls verloren, dich und alle meine Hoffnungen.“ Sie seufzte. „Trotzdem habe ich Angst, Alex. Du bist ein Abenteurer, ein Forscher. Deine größte Liebe wird immer das Reisen sein.“
„Ja, das habe ich dir gesagt, nicht wahr? Ich war unzumutbar egoistisch und habe weder dir noch Devlin oder Chessie irgendetwas von mir gegeben.“ Er holte tief Luft. „Es stimmt, ich werde immer gern reisen wollen. Das ist eine Leidenschaft von mir, aber ich glaube, es ist nicht mehr meine größte Liebe. Du hast das bewirkt an dem Tag, als du zur Rabenvilla gekommen bist, um mit mir zu reden.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Schon da war ich verliebt in dich – eigentlich sogar schon damals in London, aber da habe ich mir noch eingeredet, es wäre reines Begehren und keine Liebe.“ Er berührte ihre Wange. „Es wäre unaufrichtig von mir zu behaupten, mich bis ans Ende meines Lebens nie mehr von der Stelle wegbewegen zu wollen. Aber ich habe mir gedacht, wir könnten jetzt erst einmal nach London zurückkehren – ich muss Frieden mit der Admiralität schließen – und danach nach Balvenie und nach Edinburgh reisen. Dann kann ich dir meine Heimat zeigen.“
Er ließ sie los und machte keine Anstalten mehr, sie zu berühren. Joanna wusste, er wartete darauf, dass sie eine Entscheidung fällte. Sie sah in sein Gesicht; in das dunkle, ernste Gesicht des Mannes, den sie einst für ihren Feind gehalten hatte, und plötzlich wurde sie geradezu überwältigt von ihrer Liebe zu ihm. „Ich habe gehört, Edinburgh soll eine sehr schöne Stadt sein“, sagte sie. „Ich glaube, die Geschäfte dort sind genauso gut wie die in London.“ Wieder regte sich ihre Angst, Joanna kam nicht dagegen an. „Ach, Alex, wir sind einfach nicht die Richtigen füreinander“, fügte sie unsicher hinzu.
„Das stimmt nicht. Wir sind ziemlich verschieden, das ist alles. Hab keine Angst, unsere Ehe ist einen Versuch wert.“
Joanna lehnte sich an die Reling, spürte die Gischt auf ihrem Gesicht und den salzigen Geschmack des Meeres auf ihren Lippen. Eigentlich konnte es nicht gut gehen, natürlich nicht. Sie war der Liebling der Londoner Gesellschaft und brauchte die Lichter und die Zerstreuungen der Großstadt. Alex liebte es, die Welt zu bereisen. Und doch war keiner von ihnen beiden unnachgiebig. Alex hatte ihr neue Horizonte gezeigt und sie gelehrt, wie es war, sich voller Leben zu fühlen. Er hatte ihr gezeigt, dass es weitaus mehr zu sehen und zu erleben gab, als sie je gedacht hätte. Alex wiederum war ihr zuliebe bereit, nach England zurückzukehren und sich dort häuslich niederzulassen. Das bewies in der Tat, wie groß seine Liebe zu ihr war.
„Nun“, meinte sie schließlich, „ich bin nicht sicher, ob ich bereit bin, mit dir bis ans Ende der Welt zu reisen, aber ich komme mit dir nach Schottland.“ Zart berührte sie seine Wange und spürte die rauen Bartstoppeln unter ihren Fingern. „Ich komme langsam auf den Geschmack, was das Reisen betrifft“, gestand sie scheu. „Vielleicht würde ich gern andere Länder kennenlernen, wenn du bei mir bist. Wir könnten aber auch im Winter in die Arktis zurückkehren. Dann wird unser Schiff vom Eis eingeschlossen, und wir könnten im Schnee liegen und das Polarlicht bewundern, liebster Alex.“ Lächelnd fügte sie hinzu: „Und dieses Mal meine ich es wirklich ernst.“
Alex zog sie sanft in seine Arme, und sie konnte den starken, gleichmäßigen Schlag seines Herzens hören. „Das Hemd, das sie dir als Glücksbringer für unser erstes Kind geschenkt haben – hast du das noch?“, fragte er sanft.
Joanna schmiegte sich enger an ihn. „Ja. Ich konnte es nicht wegwerfen oder dort lassen. Es fühlte sie an, wie …“ Sie zögerte. „Wie ein winziger Hoffnungsstrahl.“
Alex hob ihr Gesicht an. „Dann lass uns von nun an unsere Zukunft in Angriff nehmen.“ Er küsste sie zärtlich und voller Verheißung. Neue Hoffnung breitete sich in Joannas Herz aus, ein Funke, der ständig kräftiger wurde und nie wieder verlöschen würde.
„Da du deine gesamte Kleidung auf dem anderen Schiff zurückgelassen hast“, raunte Alex an ihren Lippen, „gibt es wohl nur eine Möglichkeit, womit wir uns die Zeit auf der Heimreise vertreiben können.“
– Ende–