5. Kapitel
Natürlich will Lord Grant nicht, dass du dich auf die Reise in die Arktis begibst, liebste Jo“, meinte Lottie Cummings im Plauderton. „Er hat schreckliche Vorurteile gegen das Reisen von Frauen, und das hat alles nur mit dem Tod seiner armen Gattin zu tun.“ Sie schenkte Tee in die Tassen aus Sèvresporzellan, die Joanna so liebte. Sie saßen in Lotties Morgensalon, den Joanna dekoriert und möbliert hatte. Er wirkte so leicht und luftig wie Lottie selbst. „Sie ist bei irgendeinem schrecklichen Unfall gestorben“, fuhr diese fort und reichte Joanna eine Platte mit Petits Fours. „Oder an Scharlach, Windpocken oder einer anderen grässlichen Krankheit. Ganz genau weiß ich das nicht mehr, aber offenbar gibt Lord Grant sich die Schuld dafür, weil er darauf bestanden hatte, dass sie ihn ins Ausland begleitete.“
„Der arme Mann.“ Joanna war selbst überrascht über ihr unerwartetes Mitleid mit Alex Grant wegen des tragischen Todes seiner Frau. „Wie schrecklich für ihn.“ Der Verlust muss ihn tief getroffen haben, dachte sie. Bei all seiner Schroffheit und gnadenlosen Ehrlichkeit war Alex ein Mann von intensiver Leidenschaft. Das hatte sie bereits gespürt und erschauerte bei der Erinnerung daran.
„Nun ja …“ Lottie schwenkte die Hand, und das Törtchen darin gelangte gefährlich nahe an Max’ bereits erwartungsvoll geöffnete Schnauze. „Es ist sehr großherzig von dir, Mitgefühl mit ihm zu haben, liebste Jo, nachdem er dir gegenüber so wenig hilfsbereit war. Ich sage ja, du bist ein bei Weitem netterer Mensch als ich. Ich werde Julia Manbury fragen, was damals geschehen ist“, fügte sie hinzu. „Sie erinnert sich an sämtliche Skandale von früher.“
Joanna rührte langsam Milch in ihren Tee. „Hast du Lady Grant jemals kennengelernt?“ Ihr war klar, dass ihr Interesse nicht ganz uneigennützig war. In ihr regte sich etwas, das sich bemerkenswert nach Eifersucht anfühlte.
Lottie rümpfte die Nase. „Ich erinnere mich nur vage an sie. Sie war ein freundliches kleines Ding, soweit ich weiß. Nicht sehr klug, aber hübsch und fügsam.“
„Genau so, wie Lord Grant seine Frauen haben will“, erwiderte Joanna trocken. „Gehorsam und still. David war genauso“, ergänzte sie verbittert. „Diese Abenteurer sind doch alle aus dem gleichen Holz geschnitzt, sie wollen alle nur unterwürfige Frauen.“
„O je.“ Lotties dunkle Augen funkelten boshaft. „Du musst mit Lord Grant wirklich auf dem Kriegsfuß stehen, wenn du ihn mit David vergleichst.“
„Wie könnte es auch anders sein?“, fragte Joanna. „Lord Grant hat versprochen, dafür zu sorgen, dass mir niemand eine Passage nach Spitzbergen anbietet. Allerdings hoffe ich, dass ich doch noch jemanden überreden kann, mich mitzunehmen.“ Sie seufzte. „Ich habe das Gefühl, das alles wird ziemlich kostspielig werden.“
„Nun, ich kenne das perfekte Schiff für dich!“ Lottie schob sich eine glasierte Mandel in den Mund und zerbiss sie geräuschvoll. „Leider hat der gute Mr Cummings sich geweigert, Lord Grants reizenden jungen Cousin bei seinem hanebüchenen Plan zu unterstützen, Goldschätze in Mexiko zu suchen – was wiederum bedeutet, dass der arme Devlin bis zum Hals in Schulden steckt. Weißt du, dass er ein Schiff besitzt in Teilhaberschaft mit dem absolut hinreißenden amerikanischen Captain namens Owen Purchase, der bei Trafalgar gekämpft hat? Captain Purchase hat eine wirklich göttliche Stimme“, schweifte sie schwärmerisch ab. „Samtig und tief – ich schwöre, ich könnte dahinschmelzen, wenn ich ihm nur zuhöre. Aber Cummings ist für so etwas nicht so empfänglich wie ich und hat den beiden eine glatte Absage erteilt. Deshalb stecken sie gewaltig in der Bredouille, wenn sie nicht bald jemanden finden, der ihr Schiff mietet.“
Joanna wurde ganz schwindelig bei der Geschwindigkeit, mit der Lotties Verstand arbeitete. „Ich bin Captain Purchase schon einmal begegnet“, sagte sie. „Er hat David auf einer Expedition begleitet. Du sagst, er hat ein Schiff, das man mieten kann? Wie groß ist es denn?“
„Ach, von mittlerer Größe.“ Lottie wedelte mit der Hand. „Aber mit Kanonen. Ist das nicht schrecklich aufregend?“ Sie tätschelte Joannas Knie. „Überlass alles mir, Liebes. Du weißt ja, in so etwas bin ich richtig gut! Ich liebe es, deine Reise zu organisieren. Wir brauchen jede Menge warme Kleidung. Du musst mich in die Oxford Street begleiten – bei Sneider’s habe ich reizende kleine Pelzmäntel gesehen. Wir nehmen Max mit zum Nordpol und meinen Butler Hanson und meine Zofe Lester, ohne die ich verloren wäre, und …“
„Warte!“ Joanna presste sich benommen eine Hand an die Schläfe. „Du kommst ebenfalls mit?“
Lottie machte ein gequältes Gesicht. „Aber selbstverständlich, Liebes! Ich organisiere das doch nicht alles für dich und bleibe dann hier, oder?“
„Und du meinst, wir sollen Max auf eine Reise zum Nordpol mitnehmen?“, fragte Joanna matt. „Und deinen Butler und deine Zofe?“
„Wir werden Bedienstete brauchen“, erklärte Lottie ruhig, „denn wie sollen wir sonst zurechtkommen? Und Max wäre furchtbar unglücklich, wenn du ihn in London zurücklassen würdest. Außerdem hat er bereits seinen eigenen, natürlichen Pelzmantel, obwohl wir ihm vielleicht kleine Stiefeletten besorgen sollten, damit er mit den Pfoten nicht auf dem Eis festfriert.“
„Aber warum um alles in der Welt willst du nach Spitzbergen?“, rief Joanna aus. „Mir wurde gesagt, dass es der unwirtlichste Ort der Welt ist.“
„O ja, das glaube ich auch“, stimmte Lottie zu, „aber welch fantastisches Abenteuer, liebste Jo! Ich habe schon immer reisen wollen, hatte jedoch nie eine Ausrede dafür. Wir werden einen ganz neuen Modetrend einführen.“
Joanna betrachtete sie misstrauisch. Es musste mehr als nur Langeweile dahinterstecken, wenn Lottie ihren häuslichen Komfort aufgeben wollte – auch wenn sie offenbar ihren gesamten Hausstand mitzunehmen gedachte. Konnte James Devlin der Grund sein? Lottie schien überraschend vertraut mit ihm zu sein. „Aber was wird bloß Mr Cummings dazu sagen?“, fragte sie laut. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er glücklich darüber wäre, wenn seine Frau für Monate in die Arktis entschwindet.“
„Ach, Mr Cummings wird mir keine Schwierigkeiten machen.“ Unbeschwert winkte Lottie ab. „Er hat hier keine Verwendung für mich, außer dass ich sein Geld ausgebe. Und das kann ich genauso gut für eine gute Sache tun. Ich werde nicht zulassen, dass dir der hinreißende Lord Grant zuvorkommt. Ihm muss eine Lektion erteilt werden.“ Sie nahm sich ein Bonbon von dem silbernen Teller. „Auch wenn ich deinen erschreckenden Wunsch nicht nachvollziehen kann, Davids kleinen Bastard zu dir zu holen und dir ein Kind aufzubürden – ausgerechnet! Das finde ich wirklich außergewöhnlich.“
„Bitte, Lottie!“, tadelte Joanna. „Es ist doch wohl kaum Ninas Schuld, dass ihr Vater sie außerehelich gezeugt hat. Bitte rede nicht von ihr, als wäre sie irgendein exotisches Tier, das ich mir ins Haus holen will.“
Die Worte ließen Lottie gänzlich unbeeindruckt. Zu ihren merkwürdigen, aber durchaus liebenswerten Eigenschaften gehörte es, sich niemals aus der Fassung bringen zu lassen. „Also schön“, meinte sie achselzuckend, „Ich werde sie nicht mehr Davids Bastard nennen, wenn du es nicht willst. Aber du musst zugeben, es ist schon wirklich äußerst befremdlich, dass du sie zu dir nehmen willst.“
Ihr kluger, forschender Blick ruhte auf Joannas Zügen, und einen Moment lang war Joanna nahe daran, ihr den Grund zu verraten. Doch dann machte sie einen Rückzieher. Merryn hätte sie ihre Träume und ihre Sehnsüchte anvertrauen und ihr gestehen können, wie der Wunsch nach einem Kind sie mit unerwartet leidenschaftlicher Heftigkeit übermannt hatte. Aber Lottie … Die Freundschaft zwischen ihnen hatte nie besonders viel Tiefgang gehabt. Lottie war freundlich und großzügig, aber auch haarsträubend indiskret und völlig unfähig, jemandem die Treue zu halten, geschweige denn ein Geheimnis zu bewahren. Joanna wusste, es würde schon genug Klatsch über Davids skandalöses Vermächtnis geben, ohne dass Lottie ihren Teil dazu beitrug.
„David hat mich gebeten, mich um Nina zu kümmern“, wich sie etwas unbeholfen aus. Das stimmte zwar, war aber nicht der wahre Grund.
„Ja, ich weiß, Liebes“, erwiderte Lottie, wie immer völlig unsensibel für mitschwingende Untertöne, „aber David ist tot. Er kann alles Mögliche von dir verlangen, du brauchst seinen Wünschen nicht mehr nachzukommen. Du könntest das Kind einfach in Spitzbergen lassen und es vergessen. Ich würde das tun. Denk doch nur an das Getuschel, wenn sich diese Neuigkeit herumspricht!“ Sie runzelte die Stirn. „Du bist der Liebling der Gesellschaft, aber ich frage mich, ob man selbst dir so etwas durchgehen lassen wird. Dein Cousin John Hagan wird nicht begeistert sein …“
Joanna machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ich kann den Mann nicht ausstehen! Glaubst du, ich lasse mich von seiner Meinung beeinflussen?“
„Vielleicht nicht“, gab Lottie bedächtig zurück, „aber er verfügt über einigen Einfluss. Manchmal glaube ich, du hast vergessen, dass das Haus in der Half Moon Street ihm gehört. Wenn er wollte, könnte er dir das Leben ziemlich schwer machen, liebste Jo. Und du bist alleinstehend, ohne jeden Schutz und hast nur sehr wenig Geld.“
„Ich verdiene mehrere Tausend Pfund im Jahr!“, protestierte Joanna. „Außerdem habe ich noch mein Witwenerbe und das Vermächtnis …“
„Ich weiß“, unterbrach Lottie sie kauend. „Wie ich schon sagte, sehr wenig Geld. Dafür könnte ich mir kaum meine Hüte leisten!“ Sie musterte ihre Freundin kritisch. „Es ist ein Wunder, dass du trotzdem immer so stilvoll und elegant gekleidet bist.“
Joanna schwieg. Sie wusste, in dem, was Lottie gesagt hatte, steckte ein Körnchen Wahrheit. Manchmal vergaß sie, wie unsicher ihre gesellschaftliche Position war. Die Londoner Gesellschaft hatte sie gehätschelt, aber sie konnte sie auch vernichten.
Als sie von Nina Wares Existenz erfahren hatte, war ihr nicht eine Sekunde lang in den Sinn gekommen, das Kind seinem Schicksal zu überlassen. Sowohl ihr Herz als auch ihr Verstand sträubten sich heftig gegen diesen Gedanken. Es war einfach unmöglich. Alex mochte seine Vormundschaft für Nina nur aus Verantwortungsgefühl übernehmen, sie aber handelte allein aus Anstand und Liebe. Dennoch war ihr auch bewusst, dass David viel mehr von ihr verlangte, als nur sein uneheliches Kind aufzuziehen. Er forderte einen hohen Preis von ihr. Er wollte, dass sie sein Kind vor den Vorurteilen und der Grausamkeit einer Gesellschaft schützte, die Nina unweigerlich als Bastard abstempeln würde, für den auf dieser Welt kein Platz war. Wenn Joanna diese Herausforderung annahm, konnte sie sehr gut ebenfalls verurteilt und ausgestoßen werden. Die Londoner Gesellschaft liebte ihre Günstlinge, aber sie war eine wankelmütige Geliebte und konnte ebenso mühelos erschaffen wie vernichten. Joannas Position war ohnehin unsicher. Sie hatte kein anderes Zuhause als das Haus in der Half Moon Street, das – wie sie tatsächlich fast vergessen hatte – seit Davids Tod John Hagan gehörte. Hagan hatte ihr großzügig gestattet, darin zu wohnen. Würde er jedoch auch in Zukunft so großzügig sein, nachdem sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte? Außerdem hatte sie kein anderes Einkommen als ihr Erbe und das Geld, das sie mit ihren Aufträgen verdiente. Wenn nach ihrer Rückkehr niemand sie mehr beschäftigen wollte, wenn die Gesellschaft sie tatsächlich verstoßen sollte, war sie ruiniert.
Sie erschauerte bei dieser Vorstellung und versuchte, sie zu verdrängen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das kleine Mädchen, das verwaist und ganz allein in einem weit entfernten Kloster leben musste. Wieder sehnte ihr Herz sich verzweifelt nach einem Menschen, den sie lieben konnte, und sie war entschlossener denn je, Nina Ware zu retten und zu sich nach Hause zu holen, allen Widrigkeiten zum Trotz.
„Ich werde als Anstandsdame mitkommen und dir beistehen“, tröstete Lottie und vergaß dabei, dass sie im besten Fall flatterhaft und im schlimmsten absolut unzuverlässig war. Sie wartete Joannas Antwort gar nicht ab, ihre Gedanken waren bereits weitergeeilt. „Ich frage mich, ob Merryn uns auf unserer Reise begleiten möchte. Es täte ihr vielleicht gut. Wir könnten sie ein wenig aus sich herausholen und sie mit ein paar jungen Offizieren bekannt machen. Sie verbringt viel zu viel Zeit damit, Trübsal zu blasen.“
„Sie ist nur sehr zurückhaltend“, sagte Joanna. „Mir ist klar, dass du das nicht nachvollziehen kannst, Lottie, aber Merryn ist glücklich mit ihrem Leben, wirklich.“
„Aber sie kann doch unmöglich hierbleiben!“, rief Lottie aus, als wäre Merryn ein hilfloses Kind. „Sie hat keine Freunde, und wo soll sie wohnen? Und wir müssen schon sehr bald aufbrechen, wenn wir diese Expedition noch diesen Sommer machen wollen.“
„Ich werde Merryn fragen, was sie am liebsten tun möchte“, erwiderte Joanna. „In der Zwischenzeit stellt sich uns das praktische Problem, ein Schiff zu mieten.“
„Und Kleider zu kaufen“, erinnerte Lottie sie.
„Natürlich. Obwohl das Schiff wahrscheinlich wichtiger ist.“
„Liebes, wie kann etwas wichtiger sein als neue Kleider?“ Lottie lehnte sich auf dem Sofa zurück, hob die Füße hoch und bewunderte die scharlachroten Pantoletten, die unter dem Saum ihres Kleides hervorlugten. „Ich frage mich, ob Mr Jackman mir vielleicht elegante Überschuhe dafür entwerfen könnte, damit ich sie auch im Schnee tragen kann.“
„Du wirst Stiefel tragen müssen“, gab Joanna zu bedenken.
„Liebes, aber nur, wenn sie elegant aussehen! Ich will keine von diesen klobigen Dingern, die arme Leute tragen!“ Lottie streckte die Hand wieder nach dem Bonbonteller aus und lächelte zufrieden wie eine Katze. „Wie dem auch sei, wegen des Schiffs brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Captain Purchase wird begeistert sein, dass du die Sea Witch mieten und ihn somit vor dem Gefängnis bewahren willst. Und noch besser – er und Devlin könnten uns gemeinsam dorthin segeln, oder wie immer man das korrekt nennt. Ich werde Dev sofort eine Nachricht schicken.“
Alex Grant wird außer sich vor Wut sein, dachte Joanna. Nicht nur hatte sie sich über seine Warnung hinweggesetzt, ja nicht selbst nach Spitzbergen zu reisen – jetzt heuerte sie tatsächlich auch noch einen Freund von ihm und, schlimmer noch, seinen Cousin an, um sie dorthin zu bringen. Er kann mich nicht aufhalten, sprach sie sich selbst Mut zu. Dennoch durchzuckte sie ein verräterisches Gefühl; der Wunsch, Alex lieber auf ihrer Seite zu haben als zum Gegner.
„Mussten wir uns ausgerechnet hier treffen?“ Alex schaute sich mit deutlichem Missfallen in der Schenke um. Der kleine Raum war dunkel, überheizt und verraucht; das Stimmengewirr war ohrenbetäubend, und die Luft stank nach Ale und billigem Parfüm. Sie befanden sich in einer Nebenstraße in Holborn, und es war eindeutig, dass die „Erfrischungen“, die diese Schenke anbot, mehr umfassten als nur Getränke. Die außergewöhnlich hübsche Blondine, die Alex bei seiner Ankunft begrüßt hatte, war sichtlich enttäuscht gewesen, als er ihre Gesellschaft abgelehnt hatte. Verstimmt hatte sie sich auf die Suche nach einem willigeren und großzügigeren Gönner gemacht; vernehmlich vor sich hin murmelnd, dass dies schließlich kein Kaffeehaus war, wo man einfach so kommen und gehen konnte. Alex hatte ihr schmunzelnd ein Ale spendiert, an mehr war er nach wie vor nicht interessiert. Er wollte keinen schnellen Liebesakt mit einer Dirne. So etwas brachte nur oberflächliche Befriedigung – und möglicherweise auch noch irgendeine Krankheit. Er war zu abgespannt, um diese Vorstellung auch nur im Entferntesten reizvoll zu finden. Er wollte Joanna Ware. Joanna mit ihrem wunderschönen, geschmeidigen Körper, den er – zugegeben – zwar noch nie gesehen, aber sich in äußerst lustvollen Einzelheiten vorgestellt hatte … Joanna, der er misstraute und die er dennoch so leidenschaftlich und heiß begehrte. Joanna, die er am liebsten geschüttelt hätte wegen ihres hartnäckigen Beharrens darauf, selbst in die Arktis zu reisen und die kleine Nina Ware abzuholen. Sah sie denn nicht ein, wie gefährlich das war?
Er würde ihren Plan jedoch mühelos durchkreuzen, deswegen war er an diesem Abend schließlich hier.
„Du hast schlechte Laune“, stellte Owen Purchase mit seiner tiefen, volltönenden Stimme fest. Er kippelte auf seinem Stuhl nach hinten und hob den Bierkrug an die Lippen. „In letzter Zeit ein Dauerzustand bei dir, wie ich hörte.“
„Wahrscheinlich hat Dev dir das erzählt.“ Alex machte es sich auf der Bank an dem groben Holztisch bequem. „Und ich vermute, er ist ebenfalls hier, oben, mit irgendeinem Mädchen, oder?“
Purchase grinste. „Was bist du neuerdings – sein Vater?“
„Manchmal fühle ich mich tatsächlich so“, stöhnte Alex. „Am liebsten würde ich ihn von hier fortzerren, ihn ermahnen, vorsichtig zu sein, damit er sich keine Krankheit einfängt …“
„Er ist jung, Grant“, fiel Purchase ihm ins Wort. „Die Jungen machen ihre eigenen Fehler. Sie wollen nie auf einen hören.“ Er stellte den Krug ab, legte die Unterarme auf den Tisch und sah Alex aus seinen hellgrünen Augen belustigt an. „Die Älteren wohl auch nicht, wie ich gehört habe. David Ware?“
„Du hast die Neuigkeiten also schon erfahren.“
„Ich habe gehört, dass er dich zusammen mit seiner Witwe zum Vormund für sein uneheliches Kind gemacht hat“, berichtete Purchase und neigte den Kopf zur Seite. „Und dass du versuchst, sie daran zu hindern, nach Spitzbergen zu reisen und das Mädchen nach Hause zu holen.“
„Es heißt, du seist pleite, weil Cummings und seine Bankkollegen sich geweigert haben, deine verrückte Reise nach Mexiko finanziell zu unterstützen“, konterte Alex. „Daher willst du dein Schiff an Lady Joanna vermieten, damit sie ihre verrückte Reise nach Spitzbergen antreten kann.“
Purchase lachte, seine weißen Zähne blitzten in dem gebräunten Gesicht auf. „Schlechte Neuigkeiten sprechen sich schnell herum. Aber ich werde mein Vermögen in Mexiko machen und dich eines Besseren belehren, Grant.“
„Vielleicht. Kann ich dich bis dahin überreden, nicht mit Lady Joanna ins Geschäft zu kommen?“
Purchase schwieg einen Moment und schüttelte dann langsam den Kopf. „Zu spät. Ich habe den Vertrag heute Nachmittag unterschrieben.“
Alex zuckte zusammen, doch seine Überraschung wich rasch unbändigem Zorn. Wie es aussah, hatte Joanna keine Zeit verloren. „Zur Hölle mit ihr!“, stieß er gepresst hervor. „Dummheit gepaart mit Geld ist eine verhängnisvolle Kombination.“
Purchase zog die Augenbrauen hoch. „Du bist ziemlich aufgebracht. Warum?“
Alex spürte einen ebenso rasenden Zorn wie im Park von Lincoln’s Inn Fields, als Joanna ihm deutlich gesagt hatte, dass sie seinen Rat ignorieren und nach Spitzbergen reisen würde. „Die Arktis ist kein Ort für eine Frau“, sagte er schroff und versuchte, seinen Zorn zu bändigen. „Das weißt du, Purchase.“
Purchase zuckte die Achseln. „Ich gebe zu, das Klima dort ist rau.“
„Rau!“, brauste Alex auf. „Es ist tödlich! Und sie ist eine Frau, die ohne Luxus nicht leben kann. Sie macht sich keine Vorstellung von Entbehrungen, Hunger und erbarmungsloser Kälte …“
„Das wird sie schnell lernen“, erwiderte Purchase ungerührt.
„Sie wird schnell sterben.“ Alex verstummte, schockiert über die Heftigkeit seiner Gefühle.
Owen Purchase sah ihn mit beherrschter Miene an. „Ich wusste gar nicht, dass du sie magst, Grant.“
„Das tue ich auch nicht!“, fuhr Alex ihn an.
Purchase zuckte erneut die Achseln. „Wenn Sorge um Lady Joanna also nicht der Grund für deine Gefühle ist, was dann? Schuldgefühle wegen deiner Frau?“
Alex fühlte sich, als hätte er einen Fausthieb in den Magen erhalten.
Schuld.
Nicht einmal seinen engsten Freunden gegenüber hatte er je die Selbstvorwürfe erwähnt, die er sich wegen Amelias Tod machte, und doch ließ ihn die Scham keinen Tag los. Er war derjenige gewesen, der Amelia gezwungen hatte, mit ihm zu reisen. Er war verantwortlich für ihren Tod.
Anfangs hatten ihn seine Schuldgefühle förmlich aufgefressen, wie eine wilde Bestie hatten sie ihn beinahe vollständig verschlungen und vernichtet. Im Lauf der Zeit hatte er einen Weg gefunden, mit diesem Untier zu leben, es zu bändigen, ja beinahe, es in den Schlaf zu lullen. Und dann hatte Joanna Ware in ihrer Naivität den Entschluss gefasst, in die Arktis zu reisen, und die Bestie war wieder aufgewacht, mit genauso verheerenden Klauen wie früher. Alle seine Erinnerungen waren zurückgekehrt, um ihn heimzusuchen. Amelia war gereist – und deswegen gestorben. Und irgendwie, er wusste nicht warum und wollte es auch gar nicht wissen, schürte das seine Wut auf Joanna.
„Du liest zu viele Gedichte, Purchase“, sagte er kurz angebunden und verdrängte die geheimen Gedanken und sich daraus womöglich ergebende Schlussfolgerungen. „Du hast zu viel Fantasie.“
Purchase lachte. „Wenn du es sagst.“ Er beugte sich nach vorn. „Lady Joanna hat die gesamte Summe bar im Voraus bezahlt.“ Er machte eine vielsagende Handbewegung. „Was soll ich sagen? Ich bin Abenteurer, Grant, und solche Angebote schlage ich nicht aus. Dev und ich sind von ihr angeheuert worden. In einer Woche setzen wir die Segel.“
„In einer Woche?“, rief Alex. „Das schaffst du niemals. Allein die Beschaffung der Vorräte nimmt viel mehr Zeit in Anspruch.“
„Geld spricht eine klare Sprache“, erwiderte Purchase, „und das von Lady Joanna sprach sehr überzeugend.“
„Das ist Wahnsinn.“ Alex sank gegen die Rückenlehne der Bank und verspürte eine Mischung aus Verzweiflung, Enttäuschung und widerwilliger Bewunderung, weil Lady Joanna bewiesen hatte, dass Beharrlichkeit zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften zählte. „Ich vermute, dein Schiff ist noch nicht einmal so ausgerüstet, dass es mit dem Eis fertigwerden kann.“
„Die Sea Witch ist kein Eisbrecher“, gab Purchase zu. „Ihre Außenwände sind nicht zusätzlich verstärkt, aber sie ist trotzdem ein widerstandsfähiges kleines Schiff.“
„Sea Witch“, wiederholte Alex. „Ein ausgefallener Name.“
„Ich hielt ihn für passend“, erwiderte Purchase schmunzelnd. „Manchmal benimmt sie sich wie eine launische Frau.“ Er lachte. „Sie ist eine echte Herausforderung.“
Alex drehte seinen Krug langsam auf dem Tisch herum. „Du willst dir das mit dem Auftrag nicht noch einmal überlegen?“
Purchase schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Grant.“
„Dann nimm mich mit auf die Reise“, verlangte Alex.
„Als Mitglied der Mannschaft?“ Purchase lächelte.
„Als Gast. Ich bezahle auch dafür.“
„Warum?“
„Weil ich ebenfalls Nina Wares Vormund bin und mich verpflichtet fühle, für ihre Sicherheit zu sorgen.“
Purchase betrachtete ihn nachdenklich. „Es sieht so aus, als wäre es eine kluge Entscheidung von Ware gewesen, dich mit zum Vormund zu bestimmen, Grant. Du magst ihn hassen, weil er dir diese Last aufgebürdet hat, aber du wirst trotzdem immer deine Pflicht erfüllen.“
„Durchaus“, stimmte Alex zu. Verbittert dachte er, dass er am vergangenen Tag mehr als je zuvor zwischen seinem Ehrenkodex und seinen Neigungen geschwankt hatte. „Also?“
„Du musst Lady Joanna fragen, ob du mitkommen darfst“, erklärte Purchase grinsend; er genoss diese Situation sichtlich. „Sie hat das letzte Wort.“
Alex fluchte. „Purchase!“
„Keine Sorge, du kannst dir die Passage immer noch als Schiffsjunge verdienen, falls sie Nein sagt.“ Er grinste noch breiter, bis Alex schließlich widerwillig ebenfalls lächeln musste. „So ist es schon viel besser. Was zum Teufel ist eigentlich passiert, das du eine Laune hast wie ein Bär mit Kopfschmerzen?“
„Lady Joanna stellt meine Geduld auf eine harte Probe“, erwiderte Alex knapp. Er dachte daran, wie sie trotzig erklärt hatte, Obst nach Spitzbergen mitnehmen zu wollen, um Skorbut vorzubeugen, und wie sie darauf beharrt hatte, ihre Kleidung würde warm genug für die arktische Kälte sein. Wieder befiel ihn äußerste Gereiztheit. Er hatte nicht gewusst, ob er sie schütteln oder küssen sollte, und die Tatsache, dass er sie überhaupt küssen wollte, war genau sein Problem.
„Aha.“ Purchase richtete sich wieder auf. „Lady Joanna ist eine schöne Frau …“
Alex sah ihn aufgebracht an. „Aus dir spricht nur die Lust, Purchase!“
Purchase lachte. „Dafür könnte ich dich zum Duell fordern, Grant, aber ich mag dich viel zu sehr, um dich töten zu wollen. Ich räume allerdings eine gewisse Sympathie für Lady Joanna ein.“ Er schlug seine langen Beine übereinander.
„Du willst sie für dich selbst“, sagte Alex mit scharfer Stimme.
Purchase widersprach nicht. „Sie war viel zu gut für Ware.“
„Ich bin überrascht, das von dir zu hören“, meinte Alex steif. „Du hast Ware genauso bewundert wie ich.“ Er war wirklich überrascht. Niemand kritisierte David Ware. Ware war ein Held gewesen, jeder wusste das.
„Ach, komm schon, Grant. Ware war ein verdammt guter Kapitän, aber ein verdammt schlechter Ehemann.“ Er presste die Lippen aufeinander. „Du musst es schließlich wissen – du warst ja immer derjenige, der ihn aus den Freudenhäusern zerren musste, damit er sein Schiff nicht verpasste.“
„Und zum Dank dafür hat er mir das Leben gerettet, Purchase“, gab Alex grimmig zurück. „Kein schlechter Handel.“
Purchases kühler Blick ruhte nachdenklich auf ihm. „Nun ja, dann verstehe ich, dass du dich ihm verpflichtet fühlst.“
„Das bezweifle ich.“ Alex rieb sich sein schmerzendes Bein, das ihn stets daran erinnerte, wie tief er in Wares Schuld stand. „Ware hätte mich in dieser Gletscherspalte sterben lassen können, Purchase. Das hätte er tun sollen, weil er sein Leben für mich aufs Spiel setzte, anstatt dafür zu sorgen, dass wenigstens einer von uns beiden am Leben blieb, der unsere Männer in Sicherheit bringen konnte. Also erzähl mir nichts von seinen Schwächen.“
„Ich habe nie bestritten, dass Ware Mut hatte“, beharrte Purchase. „Aber siehst du denn nicht ein, dass er damals nur so gehandelt hat, um seinen eigenen Ruhm aufzupolieren? Du hast recht – er hätte dich zurücklassen sollen. Das wäre wirklich verantwortungsbewusst gewesen, aber stattdessen musste er unbedingt den Helden spielen.“
„Genug!“, stieß Alex zähneknirschend hervor. Ihm war klar, dass Purchases Verlangen nach Joanna sein Urteilsvermögen getrübt hatte. Vielleicht waren sie ja einmal ein Liebespaar gewesen, und sie hatte Purchase gegen ihren Mann aufgehetzt. Vielleicht waren sie noch immer ein Paar. Sein Zorn flammte auf.
Purchase leerte seinen Krug. „Nur eins noch, dann höre ich auf, dich zu ärgern. Hast du nie darüber nachgedacht, dass Wares Disziplin manchmal fast zu streng war?“ Über den Rand seines Kruges sah Alex, dass Purchases Augen vor Verachtung funkelten. „Sicher, seine Männer haben ihm gehorcht, aber sie liebten ihn nicht so, wie deine Männer dich lieben – wenn es nicht zu unangebracht ist, mit einem Engländer überhaupt über so etwas wie Liebe zu sprechen.“
„Mit einem Schotten“, verbesserte Alex, und seine Mundwinkel zuckten leicht.
„Noch schlimmer“, knurrte Purchase. „Kein Wunder, dass du immer so mürrisch bist. Das kommt von dem Eisen in deiner Seele.“
„Dev sagt, das kommt von meiner calvinistischen Erziehung.“ Alex hielt inne und schüttelte den Kopf. „Lass uns nicht mehr darüber reden, Purchase. Wir geraten nur in Streit, und ich will nicht mit dir streiten.“
Einen Moment lang hing die Spannung noch fast greifbar in der Luft, dann hellte sich die Miene des anderen Mannes auf, und er nickte. „Noch eins?“, fragte er und hielt seinen Krug hoch.
Wieder schüttelte Alex den Kopf. „Ich muss Lady Joanna suchen und sie dazu überreden, dass ich sie auf ihrer Reise begleiten darf. Dem Kind zuliebe.“
„Versuch es mal mit Charme, falls du so etwas überhaupt besitzt, Grant“, riet Purchase. Er neigte den Kopf zur Seite. „Wie dem auch sei, du hast Glück. Lady Joanna befindet sich zurzeit gleich hier um die Ecke in der Castle Tavern.“
Alex blickte durch die schmutzige Fensterscheibe. Draußen wurde es allmählich Abend, der Himmel färbte sich bereits rötlich. Die ersten Fackeln brannten an der Straße, und die Lichter der Schenken, Kaffeehäuser und Spielsalons fielen auf das Kopfsteinpflaster. Die ersten Nachtschwärmer drängten durch die schmale Straße, übermütig, ausgelassen und schon trunken von Ale und Gin. Holborn bei Nacht war der letzte Ort, an dem Alex Lady Joanna Ware erwartet hätte. „Was zum Teufel macht sie dort?“, fragte er.
Purchase winkte eins der bildhübschen Mädchen herbei, um sich seinen Krug nachfüllen zu lassen. „Sie ist Ehrendame.“
„Sie ist … was?“
„Sie unterstützt den Boxverein“, erklärte Purchase, „als dessen Maskottchen. Ich glaube, heute Abend findet ein Kampf statt.“
„Ein Maskottchen? Lady Joanna sieht sich Boxkämpfe an?“ Alex merkte selbst, dass er vor Fassungslosigkeit immer lauter gesprochen hatte.
„Der Sport ist sehr beliebt bei der Londoner Gesellschaft“, erklärte Purchase. „Der Duke of York ist heute Abend auch anwesend.“
„Und wenn der König selbst anwesend wäre!“, protestierte Alex. „So etwas schickt sich einfach nicht für eine Dame.“
„Das musst du Lady Joanna unbedingt sagen, wenn du sie siehst“, meinte Purchase freundlich und zwinkerte dem Schankmädchen zu, das sich auf Alex’ frei gewordenen Platz gesetzt hatte. „Dann wird sie sich bestimmt noch viel leichter überreden lassen, dass du sie nach Spitzbergen begleiten darfst.“ Er seufzte und griff wieder nach seinem Krug. „Viel Glück, Grant“, wünschte er. „Du wirst es brauchen.“