10. Kapitel
Begriffserklärung: Ein Abenteurer ist ein Mensch, der gern Risiken auf sich nimmt; einer, der in unbekannte Länder reist; einer, der sich auf gefährliche, aber möglicherweise lohnende Wagnisse einlässt. Andere Bezeichnungen: Draufgänger, Glücksritter, Hitzkopf, Getriebener.
Joanna war seekrank. Ihr war fürchterlich, abscheulich und unerträglich schlecht. Es war widerwärtig, viel schlimmer als in ihren schlimmsten Vorstellungen. Seit fast vier Wochen war ihr nun schon ununterbrochen übel, und sie wollte am liebsten sterben, aber leider schien der Tod kein Interesse an ihr zu haben.
Das Schiff schlingerte erneut. Joanna stöhnte. Ihre Hochzeit, die mit besonderer Genehmigung am Morgen ihrer Abreise zelebriert worden war, hatte so gut angefangen. Joanna fand, sie hatte geradezu göttlich ausgesehen in ihrem traumhaften rosafarbenen Kleid mit den Ballonärmeln und dem großen, farblich dazu passenden Hut. Alex hatte seine Marineuniform getragen, die ihm fantastisch stand. Lottie war Trauzeugin der Braut gewesen, Merryn Brautjungfer, und Dev und Owen Purchase hatten als Trauzeugen für Alex fungiert. Dann waren sie an Bord der Sea Witch gegangen, und der Albtraum hatte begonnen.
Joanna war felsenfest davon überzeugt gewesen – auch wenn sie keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet hatte –, eine gute Seefahrerin zu sein. Doch leider waren gerade erst drei Stunden seit ihrem Ablegen in Chatham vergangen, als das Wetter umgeschlagen war und sich ein Sturm auf der Nordsee zusammengebraut hatte, der die Sea Witch wie eine Nussschale auf den Wellen hatte tanzen lassen.
„Es könnte ein wenig ungemütlich werden“, hatte Captain Chase mit schleppendem südenglischem Akzent gesagt und mit seinen grünen Augen skeptisch zum Horizont geblickt, der plötzlich bleigrau und regenverhangen geworden war. „Ich schlage vor, Sie gehen lieber unter Deck, Madam.“
Joanna war gegangen und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Tage vergangen waren oder welche Strecke sie bereits auf ihrer Reise zurückgelegt hatten. Sie lag in ihrer Kajüte, während die Welt um sie herum schlingerte und rollte und ihr Magen gleich mit. Sobald Joanna sich bewegte, überfiel sie eine schwindelerregende Übelkeit. Also hatte sie sich hingelegt und gebetet, die Welt möge endlich zum Stillstand kommen. Ihr Gebet war nicht erhört worden. Stattdessen hatte ihre Welt sich reduziert auf das Knarren und Ächzen der Schiffsplanken, den Geruch von Teer und Öl und das Gefühl erbärmlichen Elends.
Sie drehte sich um und starrte an die Wand. Sie fühlte sich jämmerlich und einsam. Alex hatte schon seit Tagen nicht mehr nach ihr gesehen. Das hatte wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass sie ihm verboten hatte, ihr nahezukommen, solange sie so abstoßend aussah. In der ersten Nacht war er ausgesprochen freundlich gewesen, was sie ihm gar nicht zugetraut hatte. Er hatte ihr das Haar aus der schweißnassen Stirn gestrichen, ihr den Eimer hingehalten, wenn sie ihn brauchte, und versucht, sie zum Essen zu bewegen, damit ihr Magen sich beruhigte. Es war ihr schrecklich peinlich gewesen, dass er sie so gesehen hatte – bleich wie ein Gespenst und mit verfilztem Haar. Dadurch fühlte sie sich verwundbar und schutzlos. Sie war immer stolz auf ihre Haltung und Würde gewesen. Ohne sie kam Joanna sich beinahe nackt vor, vor allem unter Alex’ aufmerksamem Blick. Um ihren Stolz zu wahren, hatte sie ihn fortgeschickt. Daher konnte sie es ihm wohl kaum zum Vorwurf machen, wenn er sich nicht mehr bei ihr blicken ließ, außer um ihr Teller mit fettiger Brühe hinzustellen, die sie aber nicht anrührte.
Joanna drehte sich abermals um, als eine neue Welle der Übelkeit sie überfiel. Lord und Lady Ayres hatten anscheinend doch recht gehabt. Es war wirklich unmöglich, auf Reisen seinen gewohnten Lebensstandard beizubehalten.
Sie dachte an die Berge von Gepäck am Kai an jenem Nachmittag in London – Lottie hatte eine Sitzbadewanne mitgenommen, unzählige Schachteln duftender Kräuterseife, ihr Teeservice, eine Kiste Tee, zwanzig Pfund Bonbons, einen kleinen Schreibtisch, eine Fußbank, sieben Reisekoffer, einen Butler und eine Zofe.
Joanna hatte versucht, vernünftiger und praktischer zu denken. Zu ihrem Gepäck hatte eine Kiste mit Äpfeln und Apfelsinen gehört, ein paar Säcke Feuerholz, ein mit Pelz ausgelegtes Körbchen für Max, eine Kiste mit Spielzeug für Nina und nur fünf Reisekoffer. Nie würde sie Alex’ fassungslosen Gesichtsausdruck vergessen, als er die Unmengen Gepäck gesehen hatte. Dev und Owen Purchase hatten schallend gelacht, aber Alex hatte vom Gepäck zu Joanna und Lottie gesehen – beide mit Umhängen aus Seehundfell und Eskimostiefeln ausstaffiert – und den Kopf geschüttelt.
„Du siehst aus wie ein Bär“, hatte er zu Joanna gesagt.
„Nicht unbedingt das charmanteste Kompliment, das man mir je für mein Stilgefühl gemacht hat“, hatte Joanna spitz zurückgegeben, „aber von dir hätte ich auch nichts anderes erwartet.“
„Die Lebensmittel werden innerhalb weniger Tage verderben, und wenn Sturm aufkommt, schwimmen wir alle in Tee“, fuhr Alex ungerührt fort. „Der Schreibtisch könnte aber als Feuerholz nützlich sein. Ich hätte die Admiralität um zwei zusätzliche Begleitschiffe für all euer Gepäck bitten sollen, anstatt nur um eins.“
Genau in diesem Moment hatte das von der Admiralität geschickte Orchester einen Tusch gespielt. Die Menge hatte gejubelt, und Lord Yorke zu einer Rede angesetzt. Alex nahm Joannas Arm und zog sie mit sich unter Deck zu ihrer Kajüte, einem winzigen, dunklen und engen Raum, den Joanna im ersten Moment für einen Schrank hielt.
„Hier sollen wir zu zweit unterkommen?“, fragte sie ungläubig. „Die Kajüte ist kleiner als einer meiner Kleiderschränke zu Hause!“
„Das überrascht mich nicht“, stellte Alex fest.
„Und die Koje sieht aus wie ein Sarg“, beklagte sie sich. Sie sah, wie Resignation sich in Alex’ Züge eingrub. Er hatte prophezeit, dass diese Reise nichts für sie sein würde, und sie erkannte, dass sie seine Vorurteile bestätigte, noch ehe sie überhaupt in See gestochen waren.
„Sei froh, dass du nicht in einer Hängematte schlafen musst wie die meisten anderen an Bord“, hatte er ihr kühl mitgeteilt und sie allein gelassen.
Was Joanna betraf, so war das die bisherige Krönung der Reise gewesen.
Sie vermisste Merryn, die es vorgezogen hatte, bei ihrer Blaustrumpf-Freundin Miss Drayton in London zu bleiben. Als Abschiedsgeschenk hatte Merryn ihr Abschriften von Dr. von Buchs Reisememoiren und Constantine Phipps’ Bericht von seiner Nordpolreise von 1774 mitgegeben. „Sie sind wahnsinnig interessant“, hatte sie ernsthaft versichert. „Ich weiß, sie werden dir gefallen.“
„Ganz bestimmt“, hatte Joanna erwidert und die Bücher ganz unten in ihrer Truhe verstaut.
Kurz nach Beginn der Fahrt hatte Lottie sie besucht. Sie hatte frisch und munter ausgesehen und geschwärmt, wie reizend Captain Purchase wäre, wie komfortabel ihre Unterkunft und was für eine herrliche Zeit sie an Bord hätte. Joanna hatte sich gefragt, ob sie sich beide auf demselben Schiff befanden.
„Du hast die Shetlandinseln verpasst“, sagte Lottie, „aber ehrlich gesagt hast du nicht viel versäumt. Sie sahen trostlos aus, und es hat geregnet. Im Sturm haben wir übrigens auch Captain Hallows’ Schiff aus den Augen verloren, obwohl Captain Purchase sicher ist, dass er uns wieder einholen wird.“ Ihre Miene hellte sich auf. „Das wahre Vergnügen auf dieser Reise ist für mich allerdings die Gesellschaft so vieler gut aussehender junger Offiziere. Da hat man wirklich die Qual der Wahl.“ Sie sah Joanna kritisch an. „Ein Glück, dass sie mich ablenken, denn du wirst langsam furchtbar langweilig, meine Liebe, weil du nur hier unten im Dunklen liegst. Könntest du dich nicht etwas zusammennehmen, liebste Jo? Ich bin mir sicher, du bildest dir diese Seekrankheit nur ein!“
In dem Moment hatte Joanna nach dem Eimer gegriffen, und Lottie war mit einem spitzen Aufschrei geflüchtet und seither nicht zurückgekommen. Tatsächlich war Max der Einzige, der ihr während der Reise treu Gesellschaft leistete. Er lag zusammengerollt in der Koje, leise schnarchend und von allem unberührt. Damit bestätigte er wieder einmal, dass Hunde unkomplizierter und verlässlicher waren als jeder Mensch.
Joanna schlug die Augen auf und starrte auf die Petroleumlampe, die an einer Kette von der hölzernen Kajütendecke herabhing und im Rhythmus der Wellen hin und her schwang. Sprenkel von Sonnenlicht tanzten auf den Holzwänden. Plötzlich wollte sie nicht länger in der stickigen dunklen Kajüte liegen, sondern nach draußen an die frische Luft gehen. Sie war es leid, sich ständig krank zu fühlen.
Es klopfte an der Kajütentür. Joanna drehte sich um, und ihr Magen reagierte auf die Bewegung prompt mit der mittlerweile vertrauten Übelkeit. Sie hoffte nur, dass das nicht Lottie war, die ihr etwas von ihrer neuesten Eroberung in der Mannschaft vorplappern wollte.
„Du hast mir zwar nicht erlaubt einzutreten, aber ich tue es trotzdem.“
Alex.
Ihr erstes Gefühl war eine merkwürdige Befangenheit, ihn wiederzusehen, als wäre ein Fremder in ihr Schlafzimmer eingedrungen. Das zweite war blankes Entsetzen. Sie hatte sich seit zwei Tagen nicht gewaschen – oder waren es sogar drei? Ihr Nachthemd war fleckig, ihr Haar verfilzt, und wahrscheinlich roch sie nicht angenehm. Nicht wahrscheinlich, ganz sicher sogar.
„Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht hereinkommen.“ Ihre Stimme klang wie ein Krächzen. „Ich sehe schrecklich aus, so darf mich niemand sehen.“
Er lachte. Zum Teufel mit ihm. „Ja, das stimmt allerdings, du siehst schlimm aus. Ehrlich gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass du so aussehen kannst.“
Joanna blinzelte ihn missgelaunt an. Im Gegensatz zu ihr sah er äußerst gut aus, gesund, lebendig, mit vom Wind geröteten Wangen und zerzaustem dunklem Haar. Mit sich brachte er den Duft von Meer, frischer Luft, Sonne und Salz. Sie verbarg das Gesicht in ihrem Kopfkissen. „Du hättest auch lügen und sagen können, dass ich einigermaßen passabel aussehe“, murmelte sie erstickt.
„Ich lüge nie.“ Die Matratze gab nach, als Alex sich zu ihr setzte.
Joanna erstarrte. Warum blieb er? Sie wollte nicht, dass er blieb. Er sollte fortgehen und sich mit Devlin über Frachtraumkapazitäten unterhalten oder mit Owen Purchase über Navigation oder worüber Seeleute während einer Reise eben so sprachen. All diese Themen interessierten sie absolut nicht.
„Ich habe dir Haferbrei mitgebracht.“
Haferbrei. Wie abscheulich. Ihr drehte sich der Magen um. „Bitte, nimm ihn wieder mit.“
„Nein.“ Er verlagerte sein Gewicht. „Du wirst ihn essen. Es reicht. Frazer hat dir immer wieder Brühe gekocht, und du hast seine Gefühle verletzt, indem du nichts davon gegessen hast. Wenn du nicht bald etwas isst, wirst du tatsächlich krank.“
„Tatsächlich krank?“ Ohne nachzudenken, setzte Joanna sich ruckartig auf, und die muffige Decke rutschte von ihren Schultern. „Glaubst du, ich tue nur so, als wäre ich krank?“
Sie sah, wie er schmunzelte, und hasste ihn beinahe dafür. „Nein, natürlich nicht. Viele Menschen leiden unter Seekrankheit, und das ist sehr kräftezehrend. Aber sobald du wieder festen Boden unter den Füßen hast, verfliegt sie wie durch Zauberei.“
Joanna lehnte sich zurück. „Dann weck mich bitte erst wieder auf, wenn Land in Sicht ist.“
„Nein.“ Fassungslos merkte sie, dass Alex ihr die Decke wegzog, und versuchte verzweifelt, ihn daran zu hindern. „Ich bin es leid“, fuhr er fort. „Du wirst jetzt etwas essen und dann aufstehen. Wir segeln an der Westküste Spitzbergens entlang. Langsam musst du anfangen, dich auf unsere Ankunft vorzubereiten. Außerdem“, ein neuer Unterton stahl sich in seine Stimme, der sich anhörte wie Stolz oder Begeisterung oder beides, „solltest du die Aussicht genießen. Sie ist herrlich.“
„Die einzige Aussicht, die ich genießen will, ist die auf festen Boden, kurz bevor ich ihn betrete“, gab sie mürrisch zurück.
„Hör auf, dich selber zu bemitleiden“, sagte Alex streng. „Du benimmst dich wie ein verwöhntes Kind.“
Joanna warf das Kopfkissen nach ihm. Er lachte und fing es auf, ohne den Teller mit dem Haferbrei fallen zu lassen.
„Steh auf, Joanna.“ Um seine Mundwinkel zuckte noch immer ein Lächeln. „Soll ich dir vielleicht einen Spiegel bringen, damit du siehst, wie dringend nötig es ist, dass du dich frisch machst?“
„Nein!“ Joanna wusste, dass sie eitel war, aber sie hatte immer geglaubt, es gäbe schlimmere Sünden als den Wunsch, möglichst gut auszusehen. Jetzt jedoch fühlte sie sich nicht nur verwahrlost, sondern beinahe schmerzhaft verlegen. Unter seinem Blick, mit dem er sie in diesem desolaten Zustand sah, wurde ihr plötzlich heiß. Sie musste an die Nacht denken, die sie zusammen im Grillon’s Hotel verbracht hatten. Seltsam, dachte Joanna. Jetzt, da sie rechtmäßig mit ihm verheiratet war, fühlte sie sich auf einmal befangen in seiner Gegenwart. In jener Nacht waren sie einander so nah und so vertraut gewesen, doch die anschließend getrennt verbrachten Tage hatten sie wieder daran erinnert, dass sie sich im Grunde fast fremd waren. Sie fühlte sich unbeholfen und hatte das Gefühl, ihn kaum zu kennen.
„Ach, dann gib mir eben den Teller“, brauste sie resignierend auf. Unter Alex’ zufriedenem Blick begann sie hastig, ein paar Löffel Brei zu essen. Er schmeckte überraschend gut. Ihr Magen beruhigte sich, und plötzlich merkte sie, wie hungrig sie war.
Sie leerte den Teller mit großem Appetit, und als sie den Kopf hob, merkte sie, dass Alex die Augen fest auf sie gerichtet hatte. „Das war gut“, gab sie widerstrebend zu. „Vielen Dank.“ Sie seufzte. „Es tut mir leid, dass ich Frazer beleidigt habe.“
Alex nickte. „Ich bin sicher, er verzeiht dir, wenn du seinen Eintopf aus gekochten Basstölpeln probierst.“ Er sah, dass sie blass wurde, und fügte hastig hinzu: „Obwohl ich derjenige war, der heute den Haferbrei gekocht hat.“
Joanna starrte ihn an. „Du?“
„Natürlich. Seeleute müssen lernen, kreativ zu sein.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Ich nehme an, du kannst nicht kochen?“
Joanna ärgerte sich über den Tonfall, mit dem er die Frage gestellt hatte – so als rechnete er mit einem Nein. „Natürlich nicht“, erwiderte sie. „Warum sollte ich auch kochen wollen? Ich bin die Tochter eines Earl.“ Ihre Tante hatte versucht, ihr die hausfraulichen Fähigkeiten beizubringen, die sie als Nichte eines Vikars beherrschen sollte – backen, Obst einkochen und etwas, das ihrer Erinnerung nach mit Essig zu tun hatte und dazu diente, Gemüse einzulegen. Leider hatte sie nur lernen wollen, wie sie ihr Aussehen dazu nutzen konnte, dem Pfarrhaus zu entfliehen. „Das ist kein Grund, mich so anzusehen“, verteidigte sie sich. „Hast du wirklich erwartet, dass ich solche Dinge beherrsche? Du wusstest, wie ich bin, als du mich geheiratet hast.“
Einen Moment lang herrschte Stille. Aus einem unerfindlichen Grund fühlte Joanna sich klein und elend. Noch nie zuvor hatte sie bereut, sich in der Küche nicht auszukennen.
„Das stimmt, ich wusste es.“ Alex’ Worte schenkten ihr kaum den Trost, nach dem sie sich so sehnte. Er stand auf.
Joanna seufzte erleichtert auf, als ob plötzlich wieder mehr Platz in der Kajüte wäre und es wieder genug Luft zum Atmen für sie gab. Alex so nah bei sich zu haben, wirkte sich nicht unbedingt günstig auf ihr inneres Gleichgewicht aus.
„Ich schicke dir Frazer mit heißem Wasser“, sagte er. „Du wirst dich besser fühlen, nachdem du dich gewaschen hast.“ In der Kajütentür blieb er noch einmal stehen. „Joanna …“
Ein Schauer überlief sie beim Klang seiner Stimme. „Ja?“, fragte sie bemüht gelassen.
„Wenn du nicht aufstehst, komme ich und ziehe dich eigenhändig an“, fuhr Alex freundlich fort, aber seine Augen funkelten. „Und ich glaube nicht, dass dir das gefallen würde. Ich bin nicht so geschickt wie eine Zofe.“
Wieder bekam Joanna eine Gänsehaut. In jener Nacht im Grillon’s hatte er sich als durchaus geschickt beim Ausziehen ihrer Kleidung erwiesen.
„Und noch etwas, Joanna …“ Er hatte immer noch dieses beunruhigende Funkeln in seinen Augen. „Heute Nacht schlafe ich wieder mit in dieser Kajüte.“ Er nickte in Max’ Richtung. „Der Hund wird sich ein anderes Quartier suchen müssen. Ich weigere mich, deine Koje mit diesem Fellbündel zu teilen.“
Er ging hinaus, und Joanna starrte reglos auf die geschlossene Tür. Sie war sich nicht sicher, was sie mehr erschreckte – Max’ Verbannung oder die Vorstellung, dass Alex mit ihr in dieser lächerlich kleinen und engen Kajüte wohnen würde, auch wenn es nur für eine Woche war, bis sie Land erreichten. Eine Woche konnte schrecklich lang sein. Alex würde sie im Negligé sehen, bevor sie sich ein Kleid ausgesucht, ihr Haar frisiert und sich zurechtgemacht hatte. Sie fand es furchtbar genug, dass er sie seekrank gesehen hatte, aber da hatte sie wenigstens eine Entschuldigung für ihr entsetzliches Äußeres gehabt. Sie hatte nie daran gedacht, dass Alex in ihre Kajüte einziehen und sie so zu einer Nähe zwingen könnte, die sie gar nicht wünschte.
Sie zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Nein, sie wollte diese Nähe nicht. Jedes Mal, wenn er sie berührte, würde es sie daran erinnern, dass er sich einen Erben wünschte, den sie ihm nicht schenken konnte. Es würde sie an ihren Verrat und ihre leeren Versprechungen erinnern. Sie legte die Stirn auf die Knie. Was für eine furchtbare Täuschung, aber was hätte sie sonst tun sollen? Nina, einsam und ungeliebt, brauchte sie. Joanna wiederum wollte das Kind unbedingt haben. Sie hatte das Notwendige getan, um die Zukunft für sie beide zu sichern, doch die Schuldgefühle lasteten wie Blei auf ihr.
Wieder dachte sie an die Nacht, die sie mit Alex verbracht hatte. Es schien schon so lange her zu sein, so weit entrückt, dass sie mittlerweile nicht mehr war als ein leidenschaftlicher Traum. In dieser Nacht waren alle ihre Sinne geweckt worden, und Joanna hatte eine Ahnung davon bekommen, wie es zwischen Mann und Frau sein konnte. Es war verlockend, aber auch gefährlich, denn es hatte sie dazu verleitet, mehr zu wollen, als Alex zu geben bereit war. Und schmerzhaft war es ebenfalls, denn sie hatte erkannt, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie sich nicht in David verliebt und diesen falschen Weg eingeschlagen hätte. Sie hatte sich nichts als einen liebevollen Ehemann und eine Familie gewünscht. Dieses Ziel war ihr einst so leicht erreichbar vorgekommen, und doch war sie so schmerzhaft gescheitert. Jetzt war auch ihre zweite Ehe vergiftet, aufgebaut auf einer schrecklichen Lüge.
Joanna schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Besser, sie grübelte nicht darüber nach. Alex würde die Wahrheit nie erfahren. Sie musste nur ihre Rolle spielen, sich ihm im Ehebett hingeben und darauf hoffen, dass seine Reiselust ihn bald und für lange Zeit in die Ferne trieb. Schließlich war Alex ein Abenteurer. Er lebte für seine Reisen und Erkundungen. Wie David wollte auch er wahrscheinlich nicht viel Zeit in ihrer Gesellschaft verbringen. Dann würde sie Nina, Merryn und Chessie haben, eine Familie, die sie sich immer gewünscht hatte. Der Gedanke hätte sie aufmuntern sollen. Stattdessen erfüllte er sie mit Kälte und einem Gefühl der Einsamkeit.
Joanna erhob sich von ihrer Koje. Wie durch ein Wunder geriet die Welt dabei nicht ins Schwanken. Mit heißem Wasser, sauberen Kleidern und der Hilfe einer Zofe würde bald alles gut werden. Das musste es einfach. Sie musste weitermachen, mit dieser Reise und dieser Ehe; sie musste sich weiter ins Ungewisse vorwagen, denn ihr blieb keine andere Wahl.