7. Kapitel
Der Raum war stickig und überheizt. Es roch nach Bienenwachspolitur und Staub. Einen größeren Gegensatz zu der frischen Salzluft und dem weiten Horizont des Meeres hätte Alex sich nicht vorstellen können. Schon beim Eintreten fühlte er sich wie in eine Falle geraten und gereizt. Obwohl er ein Seemann war und somit zu der abergläubischsten Sorte Mensch gehörte, hatte Alex sich immer für einen Mann des Verstandes gehalten. Jetzt jedoch hatte er das ungute Gefühl, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde, und als er die Männer ansah, die um den Tisch herum saßen, wurde ihm vor Anspannung flau im Magen.
Die Woche war ohnehin schon äußerst kräftezehrend gewesen wegen David Wares unerklärlicher Rücksichtslosigkeit, mit der er ihm die Vormundschaft über seine Tochter aufgezwungen hatte. Alex wollte Ware gern verzeihen und verstehen, warum sein Freund so gehandelt hatte. Die einzige vernünftige Erklärung, die ihm dazu einfiel, war die, dass Ware nur das Beste für sein Kind gewollt und ihn, Alex, für einen vertrauenswürdigen Vormund gehalten hatte. Das wiederum passte nicht zu den Tatsachen. Es blieben zu viele offene Fragen, die Alex in seinen schlaflosen Nächten allmählich zu verfolgen schienen. Wenn Ware nur das Beste für Nina gewollt hatte, warum hatte er sie dann nie zuvor erwähnt oder sich dafür interessiert, wie es ihr ging? Und als er seinen Tod hatte kommen sehen – warum hatte er Alex da nichts von dem Kind erzählt und es seiner Obhut anvertraut? Warum hatte er stattdessen von Joanna verlangt, die gefährliche Reise in die Arktis auf sich zu nehmen, um Nina abzuholen? Auf all das schien es keine zufriedenstellenden Antworten zu geben, und es fiel ihm zunehmend schwerer, sich die Dinge schönzureden oder die Augen vor Wares weniger bewundernswerten Eigenschaften zu verschließen – vor seiner Untreue, seiner Gleichgültigkeit jenen gegenüber, die auf ihn angewiesen waren, und seiner Härte, sobald man sich gegen ihn stellte.
Alex’ Begegnung mit Joanna am vergangenen Abend war auch nicht gerade hilfreich gewesen und hatte seinen Zorn, aber auch sein körperliches Verlangen geschürt, bis er innerlich zu brodeln schien. Er war felsenfest entschlossen gewesen, Joanna nach Spitzbergen zu begleiten, und sie hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie befanden sich in einer Pattsituation. Noch ärgerlicher war er allerdings über seine beklagenswerte Unfähigkeit, sein körperliches Verlangen nach ihr zu beherrschen. Er wollte Joanna, obwohl er ihr misstraute. Er verzehrte sich nach ihr, obwohl er sie im liebsten geschüttelt hätte, um sie zur Vernunft zu bringen.
Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte er das völlig unerwartete und unerwünschte Bedürfnis verspürt, sie in diesem kleinen Zimmer im Gasthaus zu trösten. Gern hätte er ihre Tränen weiblicher Berechnung zugeschrieben, aber im Herzen wusste er, dass sie echt gewesen waren. Ihr Kummer war nur allzu glaubwürdig. Durch die schockierenden Enthüllungen dieser Woche war sie an den Rand ihrer Beherrschung getrieben worden, und er hatte ein heftiges Verlangen gespürt, das nicht das Geringste mit Lust zu tun hatte. Das Verlangen, sie zu beschützen. Ja, das war ganz besonders besorgniserregend.
Alex rieb sich den Nacken, um die Verspannung seiner Muskeln zu lockern. Die Situation war unerträglich. Joanna Ware machte ihn wütend.
Er fühlte sich wie verhext.
Joanna hatte ihn aber auch überrascht, das musste er sich eingestehen. Er hatte voreilig geurteilt und angenommen, sie würde sich genauso bereitwillig in eine Affäre stürzen wollen wie so viele Witwen der Londoner Gesellschaft. Doch als sie ihn abgewiesen hatte, war das mit unzweifelhafter Vehemenz und Aufrichtigkeit geschehen. In diesem Moment hatte er eine ganz andere Joanna Ware gesehen, das genaue Gegenteil der oberflächlichen selbstsicheren Ikone der Gesellschaft.
An diesem Morgen hatte er seine schlechte Laune bei einem Fechtkampf in Henry Angelos Akademie abreagieren wollen. Das war offenbar keine gute Idee gewesen, denn sein Bein schmerzte jetzt höllisch, und er hasste es, dass seine alte Verletzung ihm mehr und mehr Einschränkungen auferlegte. In einem Winkel seines Bewusstseins lauerte schwach, aber hartnäckig die Angst, dass dies ihn eines Tages an weiteren Expeditionen hindern und ans Haus fesseln würde – wo immer das dann sein mochte –, wo er bis an sein Lebensende wie ein Tier im Käfig vor sich hinvegetieren würde. Die Vorstellung erschreckte ihn. Und als er schließlich ins Grillon’s zurückgekehrt war, hatte Frazer ihn auch noch mit der Nachricht begrüßt, die Admiralität habe sich endlich wegen seiner nächsten Entsendung gemeldet.
„Man will Sie unverzüglich sehen, Mylord“, hatte Frazer ihm mit nach unten gebogenen Mundwinkeln ausgerichtet. „Ich musste ihnen mitteilen, Sie wären in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit unterwegs. Das war vor zwei Stunden. Ich könnte mir denken, sie sind nicht sonderlich erfreut darüber, dass Sie sie haben warten lassen.“
Alex hatte mit einem frostigen Empfang gerechnet und war daher äußerst überrascht, als man ihn mit ausgesuchter Freundlichkeit begrüßte. Dies weckte sein Misstrauen. Er wand sich unbemerkt auf seinem Stuhl und strich unauffällig über sein schmerzendes Bein.
„Schön, dass Sie sich zu uns gesellen, Grant. Es ist uns eine Freude, Sie zu sehen, alter Junge.“ Charles Yorke, der Marineminister, schüttelte ihm warmherzig die Hand. Yorke war kein Mann, dem Alex je sonderlich viel Respekt entgegengebracht hatte. Ihm gefiel nicht, dass der oberste Herr der Marine mehr Politiker als Seemann war. Wie sollte so ein Mann die Herausforderungen verstehen, denen sich ein Offizier im Dienst gegenübersah, ganz zu schweigen von seinen Erfahrungen? Hinzu kam, dass Yorkes Bruder Joseph ebenfalls im Vorstand der Admiralität saß. Wenigstens hatte Joseph Yorke in der Marine gedient, doch seine Beförderung hatte für Alex den unangenehmen Beigeschmack von Vetternwirtschaft. Ihm war bewusst, dass so etwas häufig vorkam, aber das bedeutete nicht, dass er es guthieß. Er versuchte jedoch, sich seine Abneigung nicht anmerken zu lassen.
Er rief sich in Erinnerung, dass er hier war, um zu erfahren, wie sein nächster Auftrag lautete. Da Joanna Ware sein Angebot, sie nach Bellsund zu begleiten, rigoros abgelehnt hatte, brauchte er seine Vorgesetzten nicht darum zu bitten, ihm eine weitere Reise zum Nordpol zu genehmigen. Im Grunde hielt ihn überhaupt nichts mehr in London. Innerhalb weniger Minuten konnte er diesen Raum wieder verlassen und auf sein Schiff zurückkehren, wohin er gehörte. Er konnte der erstickenden Hitze dieses Raums entfliehen und wieder an der frischen Luft sein. Er fühlte sich eingeengt, als könnten die gewaltigen Papierstöße auf dem Tisch sich erheben und ihm den letzten Atem aus den Lungen pressen. Er hatte sich in geschlossenen Räumen nie wohlgefühlt. Seit seiner Kindheit in Speyside hatte er sich am liebsten im Freien aufgehalten.
„Ich bin erfreut, Sie wieder in London zu haben, Grant“, sagte Charles Yorke gerade. „Was heißt erfreut – der Duke of Clarence hat mir berichtet, Sie wären gestern Abend bei den Boxern im Cribb’s der umjubelte Held gewesen.“
Alex gab sich große Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen. Er hatte den Großteil der Nacht mit dem Versuch verbracht, einer Horde von überdrehten Menschen zu entfliehen, die einen Toast nach dem anderen auf ihn ausgebracht und ihm Getränke spendiert hatten, bis er vor Erschöpfung fast vom Stuhl gefallen wäre.
Zum Glück schien Yorke keine Antwort von ihm zu erwarten. „Es wird ein großes Vergnügen sein, für einen gewissen Zeitraum hier in der Admiralität mit Ihnen zusammenzuarbeiten“, fuhr er fort und breitete die Arme aus. „Eine Beförderung, wer weiß … vielleicht zum Konteradmiral, in ein oder zwei Jahren …“ Alex sah, dass Joseph Yorke gezwungen lächelte, und die anderen am Tisch nickten. „Sie sind ein Held, Grant, wirklich, ein echtes Vorbild für die Menschen.“
Alex war erschrocken zusammengezuckt. In der Admiralität arbeiten? Nur mühsam fand er seine Stimme. „So sehr ich mich auch geehrt fühle, Gentlemen, aber ich verstehe nicht ganz …“
„Natürlich nicht, natürlich nicht!“ Yorke strahlte über das ganze Gesicht. „Nur ein einfacher Seemann, was, Grant?“ Er nickte einem anderen Mitglied des Vorstands zu, James Buller, einem Berufspolitiker.
„Die Regierung ist sehr zufrieden mit Ihnen, Grant“, sagte Buller mit seiner leicht schrillen Stimme und wischte etwas Schnupftabak von seinem Ärmel. „Wir brauchen einen Helden, nachdem Nelson nicht mehr da ist. Cochrane ist zu großspurig, wie Sie wissen, und zu unbotmäßig. Forschungsreisende sind zurzeit der letzte Schrei in der Gesellschaft …“
„Ich verstehe“, gab Alex grimmig zurück. Er fing den Blick von Sir Richard Bickerton auf, einem früheren Gefährten von Nelson, der ihm kaum merklich zuzwinkerte.
„Sie sind berühmt, Grant“, stellte Bickerton trocken fest. „Ich weiß, wie sehr Sie so etwas genießen.“
„In der Tat, Sir.“ Alex holte tief Luft. „Gentleman, Sie erweisen mir zu viel der Ehre. Alles, was ich mir wünsche, ist ein neuer Auftrag, damit ich auf mein Schiff zurückkehren kann.“
Plötzlich kehrte Stille am Tisch ein.
Alex sah Charles Yorke an, der mit seiner Schreibfeder spielte. „Sir?“, beharrte er höflich, aber mit einem stählernen Unterton.
„Das ist das Problem, Grant.“ Yorke trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. „Es ist momentan kein Geld da für weitere Expeditionen, wissen Sie.“
„Die Regierung kann sich das nicht leisten“, bestätigte Buller finster.
„In ein paar Jahren kann sich das Blatt natürlich wieder wenden“, fuhr Yorke fort, „aber im Moment brauchen wir Sie hier in London, wissen Sie. Sie sind berühmt, wie Bickerton schon sagte. Sie werden der beste Botschafter für die Marine in der Londoner Gesellschaft sein, überall der Ehrengast. Bei Dinners, Bällen – lauter herrlichen, festlichen Anlässen.“
Sehr langsam atmete Alex aus. Das hörte sich nicht gut an, ganz und gar nicht. Er konnte schon seine Zukunft vor sich sehen; tagsüber am Schreibtisch mit nutzloser Arbeit für die Admiralität und abends eine nicht enden wollende Reihe von gesellschaftlichen Anlässen, bis man seiner überdrüssig wurde, und ein neuer Held ihn ersetzte. Ihm war, als rückten plötzlich die Wände auf ihn zu, er fühlte sich wie in der Falle. Ihm wurde eiskalt bei der Vorstellung, nie wieder ein Kommando übertragen zu bekommen.
Er sah, dass Joseph Yorke ihn mit Abneigung und heftigem Neid beobachtete. Was für eine Ironie, dachte Alex, um etwas beneidet zu werden, was ich mir gar nicht ausgesucht habe; um den Ruhm, die Beliebtheit und die Zuneigung der Gesellschaft, wo ich doch all dem eigentlich nur entfliehen möchte. „Gentlemen“, sagte er schließlich und spürte Zorn und Verzweiflung in sich aufsteigen. „Dürfte ich Sie bitten, sich das noch einmal zu überlegen? Ich bin Seemann und tauge nicht zum Botschafter für die Gesellschaft.“
„Genau das habe ich auch gesagt, Grant“, stimmte Joseph Yorke zu. „Sie verfügen gar nicht über die gesellschaftlichen Umgangsformen.“
„Unsinn, Grant“, fiel Charles Yorke seinem Bruder ins Wort. „Die Gesellschaft vergöttert Sie!“
„Aber ich vergöttere die Gesellschaft nicht.“ Alex beugte sich vor und suchte nach einem Ausweg aus diesem Dickicht unerwünschter Popularität. „Bitte – teilen Sie mir eine andere Aufgabe zu.“ Er war sich bewusst, dass Diplomatie nicht seine Stärke war. Er war nie Politiker gewesen, und er hatte nie die nötigen Beziehungen geknüpft, die man für den Erfolg brauchte. Bis jetzt war das auch unwichtig gewesen. Er war Seemann, Forschungsreisender. Seine Leute waren wie Devlin und Purchase, jung, abenteuerlustig, tüchtig und wagemutig. Sie hatten Charme und Mut. Die Admiralität hatte sie immer gern auf See gesehen – bis jetzt. Nun schienen die Politiker und Bankiers am Ruder zu sein. Es gab kein Geld mehr für Expeditionen, und er sollte in eine Position gedrängt werden, die ihm nicht lag. Seine einzige Aufgabe sollte darin bestehen, die Gesellschaft zu betören und in den Londoner Ballsälen die Rolle des heldenhaften Forschers zu spielen. Der Gedanke widerte ihn an. Er wusste, eher würde er aus der Marine ausscheiden, als diese Aufgabe anzunehmen. Er schluckte angestrengt. Er war älter und klüger als Devlin – er konnte nicht einfach aus einer Laune heraus sein Offizierspatent zurückgeben. Doch was hatte er für eine Wahl, wenn die Alternative darin bestand, an einen Schreibtisch gekettet und vorgeführt zu werden wie ein Löwe in der Menagerie des Tower, um das Publikum zu unterhalten?
Die meisten Mitglieder des Vorstands betrachteten ihn mit Verblüffung und Unverständnis, Joseph Yorke voller Neid. Nur in Bickertons Augen glomm ein Funken Mitgefühl auf.
„Ich verstehe ja, dass Sie aufs Meer gehören, alter Junge, aber …“ Bickertons Achselzucken bedeutete, dass er sich in der Minderheit befand und das Thema längst erledigt war.
„Gentlemen …“ Alex glaubte plötzlich, einen Lichtstrahl am Horizont zu erkennen. „Ich frage mich, ob Sie eventuell eine Alternative in Betracht ziehen würden?“
Charles Yorke runzelte jetzt die Stirn, offensichtlich nicht erfreut, dass seine Großzügigkeit nicht die erwünschte Reaktion ausgelöst hatte. „Eine Alternative, Grant? Eine Alternative zur Unterstützung und Anerkennung des Prinzregenten und führender Mitglieder der Gesellschaft?“
„Ich denke, sie könnte Ihnen zusagen“, entgegnete Alex ernst.
Wieder herrschte Stille, alle starrten ihn an.
„Es handelt sich um eine Mission aus Barmherzigkeit, die ich einfach erfüllen muss“, fuhr Alex fort.
Charles Yorke setzte sich etwas aufrechter hin, seine Stirn glättete sich ein wenig. „Sprechen Sie weiter, Grant. Eine Mission aus Barmherzigkeit also? Das klingt ganz gut, finde ich.“
„Als David Ware starb“, sagte Alex vorsichtig, „hinterließ er eine uneheliche Tochter. Das kam erst vor wenigen Tagen ans Licht. Er hat mich gemeinsam mit seiner Witwe Lady Joanna zum Vormund seiner Tochter bestimmt.“
Die Anwesenden tauschten getuschelte Bemerkungen aus.
„Das ist infam“, flüsterte eins der Vorstandsmitglieder. „Was hat Ware sich bloß dabei gedacht?“
„Wie taktlos von Ware, seiner Frau eine solche Situation zuzumuten“, stellte Joseph Yorke kalt fest. „Ziemlich charakterlos.“
„In der Tat“, stimmte Alex sanft zu. „Ware war … ein Original. Er hat das Kind in der Obhut eines russisch-orthodoxen Klosters in Spitzbergen zurückgelassen, was wohl kaum der richtige Ort für ein kleines Mädchen sein dürfte. Ich halte es für meine Pflicht, Lady Joanna beizustehen, indem ich sie auf der Reise, um das Kind zu holen, begleite und dafür sorge, dass beide sicher nach London zurückkehren. Sie sehen also, Gentlemen …“, er hob die Hände in einer beschwörenden Geste, „das ist der Grund, warum ich das Gefühl habe, so bald wie möglich in die Arktis zurückkehren zu müssen.“
Er sah, wie Bickerton anerkennend schmunzelte. „Nicht schlecht, Grant.“
Buller wirkte zurückhaltend. „Es ist kein Geld da, um eine solche Expedition finanziell zu unterstützen.“
„Aber was für ein großartiges, einmaliges Abenteuer!“ Charles Yorke breitete strahlend die Arme aus. „Ich sehe schon die Schlagzeilen der Zeitungen: ‚Schneidiger Abenteurer der Marine auf Rettungsmission in der Arktis!‘ – ‚Nordpolheld eilt trauernder Witwe und Waisenkind zu Hilfe‘ … Fantastisch, Grant! Der Prinzregent wird begeistert sein. Die Zeitungen werden begeistert sein. Die Leute werden begeistert sein.“
Das Getuschel steigerte sich zu beifälligen Jubelrufen, nachdem der Marineminister seine Zustimmung erteilt hatte. Alex lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Erleichterung durchströmte ihn.
„Fantastisch“, echote Buller und rieb sich die Hände. „Ich muss die Neuigkeit sofort dem Premierminister überbringen!“
„Ich selbst sage dem Premierminister Bescheid.“ Joseph Yorke funkelte ihn aufgebracht an. „Und dem Prinzregenten auch.“
„Geschickte Taktik, Grant“, lobte Sir Richard Bickerton, als er mit Alex die Admiralität verließ. Alex sog dankbar die frische Luft ein. „Sie haben die Sehnsucht der Admiralität nach einem Helden zu Ihren Gunsten genutzt. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie damit durchkommen, alter Junge, aber das muss ich Ihnen lassen – eine meisterhafte Strategie.“ Er lachte. „Und bis zu Ihrer Rückkehr haben sie wahrscheinlich ihre Meinung geändert und beschlossen, Sie auf eine weitere aufregende Reise zu schicken, vielleicht nach Südamerika. Vor allem wenn Sie diese Fahrt jetzt ruhmreich zu Ende bringen.“
„Vielen Dank, Sir“, erwiderte Alex. „Genau das hoffe ich auch.“
„Sonderbare Sache, das mit David Wares Seitensprung.“ Bickerton rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ist Ihnen klar, dass sich die Geschichte innerhalb einer Stunde in der ganzen Londoner Gesellschaft herumgesprochen haben wird? Es wird das Gesprächsthema in allen Ballsälen sein. Yorke verliert bestimmt keine Zeit, das zu seinem Vorteil zu nutzen.“ Er sah Alex an. „Verdammt schlechter Stil von Ware, Lady Joanna in eine solche Situation zu bringen. Ich bin überrascht, das hätte ich ihm nicht zugetraut.“
„Allerdings“, stimmte Alex zu.
„Was hält Lady Joanna von Ihrem Plan, sie nach Spitzbergen zu begleiten?“
„Sie wünscht meine Begleitung nicht“, meinte Alex. „Aber jetzt wird sie keine andere Wahl haben.“
Bickerton spitzte die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus. „Nun, besser es trifft Sie, Grant, als mich. Ich hätte keine Lust, mir Lady Joannas Missfallen zuzuziehen.“ Er runzelte die Stirn. „Übrigens, ich glaube nicht, dass die Gesellschaft diese Eskapade von ihr gut aufnehmen wird. Für Sie ist es völlig in Ordnung, sich auf eine Mission der Barmherzigkeit in die Arktis zu begeben – schließlich sind Sie Forschungsreisender, ein Held, und das ist Ihr Metier. Aber eine alleinstehende Frau, eine Witwe, die bis ans Ende der Welt reist, um das uneheliche Kind ihres Mannes zu retten …“ Er schüttelte den Kopf. „Manche werden das exzentrisch finden, andere geradezu verwerflich.“
Alex schob die Hände in die Taschen. „Lady Joanna ist sehr stur. Sie wird sich von dieser Reise nicht abbringen lassen.“
„Dann ist es nur gut, dass sie Sie zu ihrem Schutz dabei hat“, erwiderte Bickerton schroff. „Verdammt gute Frau. Hat jede Menge Mut.“
„Das erzählen mir alle.“ Alex zögerte. „Kannten Sie David Ware, Sir?“
Bickerton warf ihm einen scharfen Blick zu. „Nicht gut“, sagte er. „Warum fragen Sie?“
„Ich habe mich nur gefragt, was Sie wohl von ihm gehalten haben“, gab Alex zu. Er war sich selbst nicht sicher, warum er die Frage gestellt hatte. Vielleicht, dachte er ironisch, um mir Gewissheit zu holen, dass David Ware wirklich ein guter Mensch gewesen ist, damit ich die nagenden Zweifel an ihm ausräumen kann.
„Großartiger Kerl, unbedingt“, meinte Bickerton. „Der Held schlechthin, was die Geschichte mit dem unehelichen Kind umso überraschender macht. Aber andererseits …“ Er zuckte die Achseln. „Großen Männern muss man auch Schwächen zugestehen – und Wares Schwäche waren eindeutig die Frauen.“ Er gab Alex die Hand und ging zurück in die Admiralität, während Alex den Strand entlangschlenderte, in die Adam Street einbog und Richtung Themse ging. Die frische Brise, die vom Fluss herüberwehte, war kalt, sauber und schneidend, selbst an diesem lauen Londoner Frühlingstag. Alex beobachtete die Schiffe auf dem Fluss und empfand dankbare Erleichterung, der vergoldeten Falle, die ihm die Admiralität gestellt hatte, entkommen zu sein. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn Lady Joanna erfuhr, dass er sich selbst als Ninas Retter präsentiert hatte, als tollkühnen Forschungsreisenden, der vollkommen selbstlos angeboten hatte, nach Spitzbergen zurückzukehren, um Wares kleine Tochter zu retten. Bickerton hatte recht – Yorke würde diese Geschichte nach Strich und Faden ausnutzen, um sowohl Alex’ Beliebtheit als auch die der Marine noch weiter zu steigern.
Alex verzog die Lippen zur Karikatur eines Lächelns. Er hatte das getan, um sich selbst vor der Katastrophe zu bewahren, von der Admiralität in London festgenagelt zu werden. Er hatte es getan aus dem Bedürfnis heraus, der unmöglichen, unerträglichen Rolle des berühmten Abenteurers zu entrinnen, umjubelt von der Gesellschaft, hofiert vom Prinzregenten höchstpersönlich.
Er wusste, Lady Joanna würde ihn dafür verabscheuen, dass er sie benutzt hatte.
Es war der perfekte Nachmittag für eine Fahrt durch den Hyde Park.
„Einkaufen ist so anstrengend“, meinte Lottie seufzend und ließ sich ermattet in die grünen Polster ihres Landauers sinken. Dabei lächelte sie ihre livrierten Lakaien kokett an. „Ich würde ja nach Hause fahren und mich vor dem Ball heute Abend noch ein wenig ausruhen, aber ich kann es mir einfach nicht entgehen lassen, mich hier umzusehen und gesehen zu werden!“ Sie kniff leicht die Augen zusammen, als sie den Blick von den Lakaien wendete und Joanna ansah, die mit einem üppigen rosa Sonnenschirm ihr gegenübersaß. „Liebste Joanna bist du sicher, dass ich dir deine beiden Zwillingslakaien nicht abkaufen kann? Diese beiden hier sind ja ganz nett, aber sie sehen sich überhaupt nicht ähnlich. Ich habe immer wieder bei der Stellenvermittlung nachgefragt, aber sie können nirgends Zwillinge für mich auftreiben.“ Ihre Mundwinkel bogen sich nach unten. „Das ist äußerst enttäuschend.“
„Es tut mir leid, Lottie“, erwiderte Joanna lächelnd. „Ich will sie nicht verkaufen. Es macht mir einfach zu viel Freude, so viel Neid ihretwegen zu erwecken.“
„Nun ja, das kann ich verstehen.“ Lottie schmollte. Sie strich mit den Fingern über die gepolsterte Sitzbank. „Ich dachte, ich könnte dich vielleicht überreden, denn was soll ich sonst tun im Leben? Du weißt, dass ich nur dafür lebe, Geld auszugeben.“
Joanna seufzte. Sie wusste, wie gelangweilt Lottie sich fühlte – gelangweilt von ihrem Leben in der Londoner Gesellschaft voller Leere und Extravaganz; gelangweilt von den Vergnügungen und festlichen Anlässen, obwohl sie gierig immer wieder nach neuen Erfahrungen suchte, um Erfüllung zu finden. Joanna liebte den gesellschaftlichen Trubel der Saison. Er war vertraut, lenkte ab und schenkte ihr auf seltsame Weise ein Gefühl der Sicherheit, weil sie dadurch beschäftigt war und nicht allzu sehr über ihrer gescheiterten Ehe und ihrer Kinderlosigkeit ins Grübeln geraten konnte. Aber tief im Innern wusste sie auch, dass das Leben in der Gesellschaft seicht und leer war. Im Gegensatz zu Lottie hatte sie ihre Arbeit, ihre Zeichnungen und Entwürfe. Alex Grant mochte diese Tätigkeit verachten, doch sie bot Joanna eine sinnvolle Aufgabe und ein Einkommen. Ob sie allerdings immer noch Kundschaft haben würde, wenn sie aus Spitzbergen zurückkehrte, blieb abzuwarten. An diesem Morgen hatte sie Lady Ansell mitteilen müssen, dass sich die Renovierung ihres Esszimmers um mindestens sechs Monate verzögern würde. Die Dame war nicht erfreut gewesen und sofort losgeeilt, um sich bei ihren Busenfreundinnen in der Gesellschaft darüber zu beklagen.
„Meine Lieben!“ Lady O’Hara, eine unverbesserliche Klatschbase, lenkte ihre Kalesche neben sie. „Ich habe die Neuigkeiten gerade erfahren.“ Sie legte die behandschuhte Hand vertraulich auf die Seitenwand von Lotties Landauer. „Wie edel von Ihnen, Lady Joanna, wie äußerst couragiert von Ihnen, das uneheliche Kind Ihres Mannes zu sich nach Hause zu holen.“ Sie beugte sich näher zu Joanna, und ihre stechenden grauen Augen wirkten keineswegs freundlich. „Natürlich ist es schwierig, ins Ausland zu reisen – erst recht an einen so entlegenen Ort wie den Nordpol – und gleichzeitig seinen Ruf als untadelige Dame zu wahren.“
„Ich werde mein Bestes tun.“ Joanna sah Lottie an. „Die Nachricht hat sich ja schnell herumgesprochen“, stellte sie trocken fest. „Ich habe selbst erst gestern von Davids Tochter erfahren.“
„Nun, mir kannst du das nicht zum Vorwurf machen“, sagte Lottie und warf den Kopf in den Nacken. „Du warst den ganzen Tag mit mir zusammen beim Einkaufen, also weißt du, dass ich gar nicht die Gelegenheit hatte, Klatsch über dich zu verbreiten. Schade“, fügte sie hinzu, „denn ich liebe es, die Erste zu sein, die ein Gerücht weiterträgt, aber ich sehe, da hat mich jemand um Haaresbreite geschlagen. Vielleicht haben die Bediensteten an der Tür gelauscht, als wir uns gestern unterhalten haben, oder Mr Jackman hat verlauten lassen, dass wir spezielle Eskimostiefel für unsere Reise bestellt haben …“
Lady O’Hara, deren Kalesche nun von den Gespannen von Mrs Milton und Lord und Lady Ayres abgedrängt wurde, stieß einen entzückten Schrei aus. „Eskimostiefel? Wie himmlisch! Sie werden diesen Winter ganz groß in Mode sein.“
„Es wird höchst erfreulich sein, diesen Modetrend zu setzen“, stimmte Joanna zu, „denn sie sind das eleganteste und zugleich bequemste Schuhwerk, das man sich vorstellen kann.“
„Ich werde allen empfehlen, sich welche zu bestellen“, versprach Lady O’Hara.
Lotties dunkle Augen funkelten, als sie sich umsah. „Kein Wunder, dass heute im Park so ein Gedränge herrscht“, sagte sie. „Wir sind offenbar das Stadtgespräch, liebste Jo. Wie aufregend!“
„Ich bin mir nicht so sicher, ob alle wohlwollend über uns denken“, murmelte sie. Ein Schauer überlief sie, als sie an Lotties prophetische Worte am vergangenen Tag dachte:
„Du bist der Liebling der Gesellschaft, aber ich frage mich, ob man selbst dir so etwas durchgehen lassen wird … Denk nur an das Getuschel, diesen Hauch von Skandal …“
Es war so ärgerlich, dass tollkühnes Verhalten, Abenteuerlust und Forschungsdrang bei Männern wie Alex Grant bejubelt wurden, bei Frauen jedoch als vollkommen unschicklich galten.
„Lady Joanna!“ Jetzt war es Lord Ayres, der sie begrüßte. Er war ein dünner Mann, der so aussah, als litte er chronisch unter Verdauungsstörungen und hätte sein gesamtes Leben damit verbracht, alles und jeden zu missbilligen. „Die Gerüchte entbehren doch gewiss jeglicher Grundlage“, meinte er vorwurfsvoll. „Reiselust ist etwas, das sich für eine Frau einfach nicht gehört.“
„Und für einen Mann?“, fragte Joanna ruhig.
„Auch einen Mann sollte man zu so etwas nicht ermutigen“, gab Lord Ayres zurück, „es sei denn, der Reisende ist ein so heldenhafter Forscher wie Lord Grant. Er ist wirklich dafür gerüstet, sich allen möglichen Gefahren zu stellen.“ Er schüttelte sich. „Doch sonst ist das Reisen in der Tat eine furchterregende und schrecklich vulgäre Angelegenheit. Ich sähe es nicht gern, wenn Sie die Leute auf den Gedanken bringen würden, so etwas einmal auszuprobieren, Lady Joanna. Gott bewahre, dass Sie eine neue Mode daraus machen!“
„Aber Sie reisen doch auch jedes Jahr nach Brighton und Bath, Mylord“, protestierte Joanna, als Lady Ayres nickte, um die Ansicht ihres Mannes zu bekräftigen.
„Brighton liegt nicht im Ausland“, betonte Lady Ayres. „Es ist weitaus schwieriger, seinen Lebensstandard im Ausland aufrechtzuerhalten. Zunächst einmal sind dort die Ausländer in einer beklagenswerten Überzahl …“
„Dazu kommen grässliche Unterkünfte und absolut ungenießbares Essen“, ergänzte Lord Ayres mit grimmiger Schadenfreude. „Was isst man überhaupt am Nordpol? Fisch?“
„Sauer eingelegte Eiderenteneier“, behauptete Joanna. „Zumindest glaube ich das. Mein verstorbener Mann hielt sie für eine besondere Delikatesse.“
Bei dem Gedanken an sauer eingelegte Eier wurde Lady Ayres so blass, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Lottie hatte größte Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen. „Wie wunderbar, dass es dort Eiderenten gibt“, sagte sie. „Wir können unsere Matratzen mit ihren Daunen füllen, dann sind unsere Unterkünfte bestimmt nicht mehr annähernd so grässlich.“
„Wahrscheinlich haben sie recht damit, dass die Reise ziemlich ungemütlich wird“, sagte Joanna, als Lord und Lady Ayres weiterfuhren, um Platz für weitere Klatschbasen neben dem Landauer zu machen. „Lord Grant hat uns nichts vorgemacht, Lottie. Wir werden das Ganze hassen. Kein heißes Wasser, kein ordentliches Essen, und wahrscheinlich frieren uns irgendwann die Finger ab …“
„Feigling!“ Lottie schien ganz aufgeregt bei der Aussicht auf ein Abenteuer, selbst auf ein frostiges. „Du wirst den netten Captain Purchase bitten müssen, dich zu wärmen, während ich es mir mit Lord Grants anbetungswürdigem Cousin gemütlich mache. Und vielleicht auch noch mit Captain Purchase“, fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. „Ich habe mich noch nicht entschieden, welchen von beiden ich bevorzuge.“
Immer mehr Menschen versammelten sich um den Landauer; es waren so viele Reiter und Kutschen, dass die Pferde nervös wurden und zu scheuen drohten. Joanna wurde mulmig zumute, als sie sah, dass John Hagan sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Nachdem er sie vor ein paar Tagen mit Alex zusammen gesehen hatte, war sie zuversichtlich gewesen, dass er den Wink verstanden hatte und sein unerwünschtes Werben einstellen würde. Doch wie es schien, war er hartnäckiger, als sie gedacht hatte. Als Davids Cousin hatte er die fadenscheinige Ausrede, um ihr Wohlergehen besorgt zu sein, aber Joanna wusste, das war nur eine List. Hagan hatte ihr schon vor Davids Tod Avancen gemacht, was darauf hindeutete, dass er keinerlei Gespür für Anstand hatte. Erst seit sie Witwe war, umfassten seine schleimigen Angebote auch eine Ehe, nicht mehr nur eine Affäre.
„Hier ist ja heute mehr Betrieb als auf der Bond Street“, meinte Hagan mürrisch und klammerte sich an Lotties Landauer. „Liebe Cousine“, wandte er sich mit melodramatischer Stimme an Joanna, „was für ein neuerlicher Skandal ist mir da zu Ohren gekommen? Sie wollen zum Nordpol reisen? Als Frau sind Sie viel zu kostbar und zu schwach zum Reisen. Und als Familienoberhaupt kann ich Ihnen das einfach nicht gestatten.“
„Sie übertreiben, Hagan.“ Joanna fuhr herum, als sie Alex Grants spöttische Stimme vernahm. „Lady Joanna ist in keiner Weise schwach.“ Ihre Blicke trafen sich, und Joanna sah das boshaft-amüsierte Funkeln in seinen Augen. „Außerdem“, fuhr Alex fort, „werde ich sie auf dieser Reise beschützen.“ Er verneigte sich. „Zu Ihren Diensten, Lady Joanna.“
„Lord Grant.“ Sie nickte unterkühlt, als er sein Pferd neben den Landauer lenkte. Er machte eine großartige Figur im Sattel, der geborene Reiter. Ihr wurde bewusst, dass sie das nicht von ihm erwartet hatte, und fragte sich nun, warum eigentlich nicht. Schließlich war er in den schottischen Highlands geboren und aufgewachsen und hatte wahrscheinlich sein Leben lang im Sattel gesessen. „Ich glaube, der Teil unseres Gesprächs, als ich Ihrer Begleitung nach Spitzbergen zugestimmt habe, muss mir irgendwie entgangen sein“, sagte sie sarkastisch.
„Aber Sie können doch Lord Grants großzügiges Angebot, Ihnen bei Ihrer Mission beizustehen, nicht ablehnen“, meldete Lady O’Hara sich eifrig zu Wort. „Ich habe von Lord Barrow gehört – der es wiederum von Charles Yorke persönlich erfahren hat –, dass Lord Grant den Vorstand der Admiralität darum gebeten hat, Ihnen als Beschützer dienen zu dürfen!“ Sie bedachte Alex mit einem einschmeichelnden Lächeln. „Wahrlich, ein echter Held! So gut, so edel!“
„Verzeihung, Madam …“ Joanna sah Lady O’Hara verwirrt an. „Was hat Lord Grant getan?“
„Er hat die Admiralität darum gebeten, ihn wieder in die Arktis zu entsenden“, meldete sich eine andere Dame zu Wort, die sich durch die Menge nach vorn gedrängt hatte. „Das habe ich auch gehört. Ist es nicht so, Lord Grant?“ Sie sah Alex um Bestätigung heischend an. „Lord Yorke meinte, Sie wären so erschüttert wegen Lord Wares verwaister Tochter und so betroffen wegen Lady Joannas schwieriger Mission, dass Sie den Vorstand gedrängt haben, sie zu unterstützen.“ Sie rang die Hände. „Ich stimme Lady O’Hara zu – Ihr Edelmut ist wirklich erstaunlich.“
Zustimmende Rufe wurden in der Menge laut. „Gut gemacht, Grant!“, ließ sich ein Gentleman vernehmen.
Joanna sah Alex mit zunehmender Ungläubigkeit an. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe“, sagte sie langsam. „Kann es sein, dass Sie sich über meine Wünsche in dieser Angelegenheit geflissentlich hinweggesetzt haben, Mylord?“
„So ist es“, erwiderte Alex. „Ich fürchte, Sie sind ausgebremst worden, Lady Joanna.“
„Nun, damit entpuppen Sie sich als großer Heuchler, Lord Grant.“ Joanna betrachtete die große Schar von Bewunderern, die Alex in den Park gefolgt waren, und ihr Zorn flammte auf. „Sie haben also die Bedingungen von Davids Testament an die Öffentlichkeit gebracht! Sie tun immer so, als sei Ihnen an Ruhm und öffentlicher Bewunderung nichts gelegen, doch dann benutzten Sie einen Toten und ein unschuldiges Kind, um Ihren Ruf noch weiter aufzupolieren und gleichzeitig meine Pläne zu durchkreuzen!“ Sie merkte selbst, dass sie vor Wut zitterte, weil er sie so hintergangen hatte. „Sie wussten genau, dass ich Sie auf dieser Reise nicht dabeihaben wollte. Ich hätte mich nicht klarer ausdrücken können. Weiß Gott, ich dachte, ich hätte jeden Trick gekannt, den ein größenwahnsinniger Abenteurer anwenden kann, um seinen Ruhm noch zu steigern, aber das hier ist die Krönung von allem!“
Alex machte ein wütendes Gesicht. „So war es nicht …“, fing er an, doch eine Gruppe aufgeregter junger Männer bestürmte ihn, ihnen mehr von seiner neuesten Expedition zu erzählen.
Joanna nutzte aus, dass Alex vorübergehend abgelenkt war. „Lottie, bitte fordere den Kutscher auf, weiterzufahren. Ich möchte jetzt gern nach Hause.“
Lottie, die in ein Gespräch mit John Hagan vertieft gewesen war, zog einen Schmollmund. „Aber liebste Jo, wir sind das Stadtgespräch! Verdirb mir doch nicht den Spaß.“
„Nein!“ Alex schüttelte die jungen Leute ab, beugte sich vor und legte die Hand auf Joannas Arm. „Lady Joanna, wir müssen reden …“
„Sie haben sich wie immer den denkbar ungünstigsten Moment ausgesucht, Lord Grant“, fuhr Joanna ihn an. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Leben Sie wohl.“
Sie konnte nicht genau sagen, was als Nächstes geschah. In einem Augenblick saß sie noch im Landauer, im nächsten hatte Alex sich zu ihr hinuntergebeugt, den Arm um ihre Taille gelegt und sie blitzschnell vor sich in den Sattel gehoben. Er wendete sein großes schwarzes Pferd, drängte durch die Menge und ließ diese in heller Aufregung zurück. Eine Dame schrie auf, eine Debütantin fiel in Ohnmacht, und eine weitere war ziemlich grün im Gesicht, wahrscheinlich vor Neid, wie Joanna vermutete.
„Was war das denn?“, fragte sie nervös und gereizt, als Alex das Pferd in einiger Entfernung von ihrem Publikum zügelte.
„Ein altes russisches Reiterkunststück.“ Alex klang grimmig. „Sehr aufsehenerregend und viel leichter aus dem Galopp zu bewerkstelligen als aus dem Stand.“
„Sie scheinen das trotzdem gut hinbekommen zu haben, verdammt und zugenäht“, gab Joanna zurück.
„Ihre Ausdrucksweise ist höchst unziemlich für eine Dame. Das ist mir schon einmal aufgefallen.“
„Ach ja?“ Joanna war immer noch verstimmt. Alex’ Nähe war dabei nicht gerade hilfreich. Sie spürte seine muskulöse Brust an ihrem Rücken, und seine kräftigen Oberschenkel hielten sie sicher im Sattel. Sein Atem streifte ihre Haare im Nacken, sie bekam eine Gänsehaut. „Diese Ausdrucksweise habe ich von meinem Onkel gelernt“, sagte sie und klang ein wenig heiser. „Er war Geistlicher und verfügte über ein enormes Vokabular rund um die Hölle und das Fegefeuer.“ Sie seufzte. „Was wollen Sie von mir, dass Sie sich veranlasst sahen, mich in aller Öffentlichkeit zu entführen?“
„Ich will mit Ihnen reden“, erwiderte Alex. „Und zwar ohne Zuhörer. Ich möchte Ihnen etwas erklären.“
„Da gibt es nichts zu erklären.“ Joanna drehte sich halb zu ihm um. Das erwies sich als Fehler, denn der Abstand zwischen ihnen war wirklich nur sehr gering. Seine Arme hielten sie fest umfangen, seine Miene wirkte hart und verschlossen. Eine Unmutsfalte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, und um seinen Mund lag ein grimmiger Zug. „Sie haben Ihre Berühmtheit ausgenutzt, um mich dazu zu zwingen, Ihre Begleitung zu akzeptieren.“ Sie war zornig, aber noch mehr fühlte sie sich verraten. Sie und Alex mochten ständig streiten, aber sie hatte ihn für aufrichtig und über diese Form von Doppelzüngigkeit erhaben gehalten. Jetzt kam sie sich wie ein naives Dummchen vor, weil ihr körperliches Verlangen nach ihm sie dazu gebracht hatte, ihn fälschlich für einen guten Menschen zu halten.
„Ich sagte bereits, so war es nicht!“, entgegnete er heftig, und plötzlich klang sein schottischer Akzent durch. So viel Leidenschaft schwang in seiner Stimme mit, dass Joannas Herz einen Schlag aussetzte. „Lady Joanna …“ Er verstummte. „Sie wollten mir eine Büroarbeit in der Admiralität zuweisen“, fuhr er schroff fort. „Mich in der Londoner Gesellschaft herumreichen als ihr gehätschelter Held und Forscher. Aber ich will nicht ihr braves Schoßhündchen sein. Lieber gebe ich mein Offizierspatent zurück.“
Das war die Wahrheit, rein und ungeschminkt. Joanna wusste es, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte. So vieles lag in seiner Stimme, so vieles, das er nicht in Worte fassen konnte. Er sah sie an, und ihr war, als geriete ihre ganze Welt ins Wanken. Ihre Sinne schienen plötzlich übermäßig geschärft. Sie spürte seinen Blick wie eine körperliche Berührung, ja wie eine Liebkosung auf ihrem Gesicht. Sie konnte seinen Atem hören.
„Joanna“, sagte er leise.
Sie erschauerte prompt. „Nicht“, erwiderte sie. „Nutzen Sie meine verdammungswürdige Empfänglichkeit für Sie nicht aus, um das zu bekommen, was Sie wollen.“
Er lächelte, und seine Zähne blitzten weiß in seinem gebräunten Gesicht. „Donnerwetter, Sie durchschauen mich sehr gut.“
„Ich will Sie zurückweisen“, murmelte Joanna. „Das will ich wirklich.“
„Ich weiß.“
Sie merkte, dass er seine Sitzhaltung leicht veränderte, spürte seine Arme ein wenig fester um sich. Ihr war klar, dass er spürte, wie heftig sie im Innern mit sich rang. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus – glühendes Verlangen, gepaart mit großer Sehnsucht nach seiner Stärke und seinem Schutz. „Hölle, Tod und Teufel aber auch“, sagte sie voller Inbrunst. Warum konnte sie ihn nicht einfach zurückweisen und ihn seiner Zukunft überlassen, die er ihr so treffend beschrieben hatte? Das hatte er mit Sicherheit verdient. Joanna hasste ihre eigene Schwäche, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie sich ihm auf seltsame Weise verbunden fühlte.
„Sehr bildhaft. Auch eine der Redensarten Ihres Onkels?“
„Ja.“ Sie sah ihn an. „Sie wissen, dass ich Sie nicht mag?“
„Das ist wohl kaum zu übersehen.“
„Es würde gewisse Regeln zwischen uns geben müssen.“ Ihr entging nicht, wie still er plötzlich wurde, als er begriff, dass sie kurz davor war zu kapitulieren.
„Gut“, erwiderte er vorsichtig.
„Keiner von uns wird je mit dem anderen über David sprechen“, fuhr Joanna fort. „Niemals. Unser Abkommen dient allein Ninas Wohlergehen.“ Seine Überraschung war ihm deutlich anzusehen; er hatte offensichtlich eine andere Bedingung von ihr erwartet.
„Ich dachte, Sie würden mir eines Tages Ihre Version der Beziehung zu Ware erzählen wollen“, sagte er langsam.
„Nein, das werde ich nicht tun“, gab sie bestimmt zurück. „Das hätte nicht den geringsten Sinn, Lord Grant. Wenn Sie gewillt sind, sich an diese Abmachung zu halten, dürfen Sie mich nach Spitzbergen begleiten.“
Ein seltsamer Ausdruck stahl sich in seine Augen, und dann lächelte er sein durchtriebenes Abenteurerlächeln, und sie fühlte sich schwindelig wie eine kleine Debütantin.
„Ich danke Ihnen.“ Seine Stimme klang ganz ruhig, ihr war nichts mehr von den vorangegangenen Emotionen anzuhören. Wenn Joanna nicht selbst gesehen und gehört hätte, mit welcher Leidenschaft er von seinem Widerwillen gesprochen hatte, in London eingeschlossen zu sein, sie hätte es nicht geglaubt. Seine unergründliche Distanziertheit war zurück. „Da es nun eine Abmachung zwischen uns gibt, sollten wir meiner Meinung nach auch so tun, als zögen wir an einem Strang“, fügte er hinzu.
Joanna sah über ihre Schulter hinweg zu dem Strom indiskreter Beobachter, die zu Fuß oder zu Pferd aus allen Richtungen des Parks auf sie zukamen, um ja als Erste den neuesten Klatsch zu erfahren.
Stirnrunzelnd folgte Alex ihrem Blick. „Sie werden mir gestatten, Sie heute Abend zum Ball von Lady Bryanstone zu begleiten.“ Er schien gar nicht mit einer Absage zu rechnen.
Wie schnell er die Kontrolle übernimmt, dachte Joanna. „Ich bin heute Abend bereits mit Lord Lewisham verabredet“, erklärte sie von oben herab. „Und ich finde, Sie sollten mich jetzt herunterlassen.“
Alex schwang sich aus dem Sattel und hob sie mit der gleichen Mühelosigkeit vom Pferd, mit der er sie hinaufgehoben hatte. Einen Moment lang spürte Joanna seinen straffen, muskulösen Körper an ihrem. Ihre Füße berührten den Boden, aber Alex ließ sie nicht los.
„Ach, Lewisham?“, raunte er ihr ins Ohr, und sein Griff um ihre Hand verstärkte sich. „Suchen Sie sich immer Begleiter, die alt und harmlos sind?“
Joanna sah ihn an. In der Tat suchte sie sich bewusst Gentlemen aus, die sicher, harmlos und praktisch geschlechtslos waren. Hier, in Alex Grants alles andere als sicherer Umarmung, erkannte sie, dass sie sich für diese Männer entschied, weil sie keine Bedrohung für sie darstellten. Sie waren das genaue Gegenteil von Alex, von dem die grenzenlose Verlockung eines gefährlichen Abenteurers ausging.
„Sagen Sie Lewisham, Sie haben ein besseres Angebot bekommen“, drängte er sie sanft. „Sagen Sie ihm, Sie gehen mit mir auf den Ball.“
Joanna erschauerte. Nach dem, was zwischen ihr und Alex im Boxverein vorgefallen war, wäre es Irrsinn, sich von ihm zum Ball begleiten zu lassen. Allein mit ihm in der Dunkelheit, in der Hitze einer Londoner Nacht, würde sie womöglich die Skrupel vergessen, die sie dazu veranlasst hatten, ihn zurückzuweisen. Sie schluckte krampfhaft. „Wenn ich ein besseres Angebot bekomme“, sagte sie schließlich, „werde ich Lord Lewisham eine Absage erteilen.“ Sie befreite sich aus seiner Umarmung. Sie wollte ihre Fassung wiedergewinnen und dem Gefühlsaufruhr entrinnen, den Alex in ihr auslöste. Nun, da sie seine Begleitung nach Spitzbergen akzeptiert hatte, würde es wohl das Schwierigste sein, ihn auf Distanz zu halten. „Ich brauche keinen Forscher, um den Weg zu Lady Bryanstones Ball zu finden, Mylord“, teilte sie ihm mit. „Ihr Schutz wird dabei nicht benötigt. Guten Tag.“