11. Kapitel
Alex stand am Achterdeck und sah hinüber zur Küstenlinie von Spitzbergen. In diesen Gewässern zu segeln, erregte ihn immer wieder aufs Neue. Sie waren für ihn die größte Herausforderung, die er je erlebt hatte. Wenn der Wind plötzlich drehte, wurde aus dem hellen, gläsernen Blau ein wütendes Dunkelgrau. Dann folgten die Seevögel dem Schiff, ließen sich vom scharfen Wind tragen, und ihre Schreie klangen wie die der Geister ertrunkener Seeleute. Die hohe Felsküste wurde von Fjorden durchschnitten und ragte weit ins Meer hinein. Ihre messerscharfen Kanten unter der Oberfläche bedeuteten eine Gefahr für jeden Schiffsrumpf.
Alex war zuvor schon zweimal nach Spitzbergen gesegelt; das erste Mal unmittelbar nach Amelias Tod. Damals war die öde Landschaft für ihn wie ein Ausdruck seines Kummers und seiner Schuldgefühle gewesen. Seine erste Ehe war eine Liebesheirat gewesen. Er und Amelia hatten gleich nach der Schulzeit geheiratet. Seine zweite Ehe hingegen war etwas vollkommen anderes. Aus der geplanten Zweckverbindung wurde mehr und mehr eine ziemlich lästige Angelegenheit, und daran war er selbst schuld.
Nicht zum ersten Mal in den vergangenen Wochen fragte Alex sich grimmig, was er eigentlich erwartet hatte. Er hatte sich entschieden, Joanna Ware zu heiraten, wohl wissend, wie flatterhaft, oberflächlich und seicht sie sein konnte. Er war ohne Illusionen in diese Ehe gegangen und hatte als Gegenleistung von Joanna nur verlangt, ihm den Erben zu schenken, den Balvenie brauchte. Die glühende Leidenschaft, die zwischen ihnen in London entflammt war, hatte ihn gleichermaßen überrascht und beglückt, und er hatte gehofft, dass sie weiter anhalten würde. Nie hätte er gedacht, dass Joanna sich ihm mit so ungezügeltem Verlangen hingeben würde. Er hatte angenommen, dass sie im Bett genauso oberflächlich wäre, wie sie sich auch sonst gab. Stattdessen hatte er eine Frau gefunden, die zu unerwartet tiefer Leidenschaft fähig war – und die er glühend begehrte.
Während ihrer Seekrankheit hatte er sein Verlangen nach ihr nicht stillen können, und inzwischen schien die Flamme der Leidenschaft zwischen ihnen erloschen zu sein. Jetzt fühlte er eine Distanz zwischen ihnen, und das Einreißen dieser Barriere würde große Anstrengung von beiden Seiten erfordern. Um ihrer Ehe willen konnte er nur hoffen, dass Joanna dazu bereit war. Er wollte keine kalte, distanzierte Verbindung mit einer praktisch Fremden. Eine Ehe nur auf dem Papier würde nicht den Erben hervorbringen, den er sich wünschte.
Er trommelte mit den Fingern auf die Reling. Er würde wohl kaum an unerfüllter Lust sterben, aber frustrierend war die Situation allemal. Und die Tatsache, dass Devlin und Lottie Cummings sich vor aller Augen in eine höchst indiskrete Affäre gestürzt hatten, machte es auch nicht besser. Viel mehr beschäftigte ihn im Moment jedoch, wie Joanna mit den Entbehrungen der Reise zum Kloster Bellsund zurechtkommen würde und wie sie aufnehmen würde, was sie dort erwartete. Alex hatte so eine Ahnung, dass ihm ziemliche Schwierigkeiten bevorstanden. Joannas Verhalten in der Kajüte war kein gutes Zeichen gewesen. Sie hatte sich benommen wie ein trotziges, verwöhntes Kind, und das hatte ihn geärgert. Dabei hatte er sich wirklich alle Mühe gegeben, rücksichtsvoll zu sein. Er verstand ihre Not ja; Seekrankheit war etwas äußerst Unangenehmes, und Joanna hatte in der Tat schwer darunter gelitten. Es war Pech, dass die See sich mitten im Sommer so ungewöhnlich rau gezeigt hatte. Aber nachdem der Sturm nun abgeflaut war, hatte Alex gehofft, dass Joanna aufstehen, etwas essen und sich auf den Landgang vorbereiten würde.
Diese Hoffnung hatte er die letzten beiden Stunden gehegt. Jetzt musste er sich wohl damit abfinden, dass sie nicht zu ihm an Deck kommen würde. Er war enttäuscht und zornig zugleich. Sie hatte ihm versichert, alles tun zu wollen, um Nina in Sicherheit zu bringen. Nun war sie bereits an der ersten Hürde gescheitert. Aber wie gesagt – was hatte er anderes erwartet? Joanna war nun einmal, wie sie war, nicht an Mühsal und Entbehrungen gewöhnt. Er hatte einfach nur gehofft, angenehm überrascht zu werden.
Plötzlich hörte er Stimmen auf der Schanze und drehte sich um. Joanna kam auf ihn zu, begleitet von einem Gefolge eifriger junger Schiffsoffiziere, einschließlich Devlin. Alex starrte sie an. Es war Joanna, ohne Zweifel, aber eine Joanna, die wieder ganz in ihrem Londoner Glanz erstrahlte. Sie trug einen langen, leuchtend roten Umhang mit Pelzbesatz, Hut und Handschuhe in derselben Farbe und anmutige Stiefeletten. Ihr glänzendes braunes Haar war hochgesteckt, ihre Wangen schimmerten rosig und wirkten nicht mehr so geisterhaft bleich wie noch zwei Stunden zuvor. Sie trug Max, der ein rotes Mäntelchen anhatte, auf dem Arm.
„Ich fühle mich großartig“, verkündete sie, als sie Alex erreicht hatte. Sie lächelte ihn an, mit einem strahlenden, charmanten Lächeln, von dem Alex wusste, dass es sowohl ihrem Publikum als auch ihm selbst galt. Sie legte ihre kleine, behandschuhte Hand auf seinen Arm. „Ich weiß nicht, was in diesem Haferbrei war, liebster Alex, aber es hat Wunder bewirkt. Und wer hätte gedacht, dass Frazer eine so gute Zofe abgeben würde?“
Ihre Bewunderer lachten. Alex schluckte.
Liebster Alex … Er würde auf keinen Fall dulden, dass sie diese bedeutungslose Anrede für ihn benutzte, mit der sie und ihre Freundinnen so wahllos um sich warfen. Ihr verschmitztes kleines Lächeln erinnerte Alex wieder an die Frau, mit der er in London geschlafen hatte. Am liebsten hätte er sie in die Arme gezogen und sie geküsst, bis ihr Hören und Sehen verging – Publikum hin oder her. Plötzlich wollte er diese oberflächliche Fassade einreißen und wieder die Frau zum Vorschein bringen, die in jener Nacht so warm, sinnlich und hingebungsvoll in seinen Armen gelegen hatte.
„Gentlemen …“ Er entließ die Offiziere mit einem knappen Nicken, und sie schienen sich auf einmal an ihre Aufgaben zu erinnern. Alex und Joanna blieben allein zurück. „Ich hatte schon nicht mehr geglaubt, dass du kommen würdest“, sagte er. „Du hast dir viel Zeit gelassen.“
Joanna zog die Augenbrauen hoch. „Ich habe keine zwei Stunden gebraucht.“ Wieder lächelte sie verschmitzt, und ihm wurde heiß. „Wenn du das für lange hältst, dann solltest du erst einmal sehen, wie lange ich brauche, um mich für einen Ball zurechtzumachen.“ Ihr Lächeln wurde dünner. „Aber natürlich wirst du das nicht über dich ergehen lassen müssen. Ich hatte vergessen, dass du nach unserer Rückkehr wahrscheinlich die Admiralität um eine neue Entsendung bitten wirst, und dann bist du fort. Danach werden wir uns wohl kaum noch zu sehen bekommen.“
Alex war ein wenig verletzt, dass kein Bedauern in ihrem Tonfall mitschwang, obwohl er wusste, dass das ein Bestandteil ihres Abkommens war. „So leicht wirst du mich nicht los“, gab er sanft zurück. „Wir tragen immer noch gemeinsam die Verantwortung für Ninas Erziehung, und ich habe vor, in England zu bleiben, bis ihr euch alle in eurem neuen Zuhause häuslich eingerichtet habt – und du meinen Erben unter dem Herzen trägst, natürlich.“
Er sah, wie Joanna das Blut in die Wangen schoss. Hastig senkte sie die Lider. „Es ist äußerst taktlos von dir, in der Öffentlichkeit über solche Dinge zu sprechen“, erwiderte sie kühl. „Jeder kann mithören.“
„Meine liebe Joanna, ich fürchte, du wirst deine Vorstellungen von Anstand und Takt etwas überdenken müssen“, teilte er ihr mit. „Ich habe nicht nur vor, über solche Dinge zu sprechen – ich werde auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit dir schlafen. Ich möchte nicht, dass du irgendwelche Zweifel in Bezug auf meine Absichten hast.“
Er hörte, wie sie scharf die Luft einsog; ein Zeichen, dass ihr seine amouröse Zuwendung genauso willkommen war wie die Pest. Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Es kann sein, dass du länger an Land ausharren musst, als dir lieb ist, wenn du darauf warten willst, bis ich in anderen Umständen bin.“
Alex lächelte unbeirrt. „Dafür gibt es durchaus Entschädigungen. In deinem Bett wird es mir bestimmt nicht langweilig.“
Joanna presste verstockt die Lippen aufeinander. Es war klar, dass sie dieses Gespräch nicht fortsetzen wollte. Sie hatte sich von ihm abgewandt, sodass er ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Sie schien sich voll und ganz auf die Aussicht zu konzentrieren. Alex wartete. Worauf sollte er sich jetzt gefasst machen? Dass sie die herbe Schönheit der Landschaft genauso geringschätzig abtat wie Lottie die Shetlandinseln? Er war sich durchaus bewusst, dass Spitzbergen für die meisten Menschen zu winterlich und zu karg war, um ihnen zu gefallen. Die Landschaft ängstigte sie, vor allem diejenigen, die nie etwas anderes gesehen hatten als die sanft geschwungenen grünen Hügel und Felder im Süden Englands. Als Schotte war er Landschaften gewohnt, die andere Menschen einschüchterten; er fand darin Inspiration und Frieden. Allerdings konnte er von Joanna kaum erwarten, dass sie ebenso empfand.
Er bereitete sich innerlich darauf vor, dass sie ihm mitteilte, dieser Ort sei die Hölle auf Erden.
Joannas Gesicht war jetzt nach oben gewandt, und Alex fiel plötzlich auf, dass sie seit Wochen keine Sonne mehr gesehen hatte. Sie hatte die Kajüte kein einziges Mal verlassen. Er merkte, wie sie die Wärme mit allen Sinnen genoss und darin schwelgte wie eine Katze. Ihre Augen waren geschlossen, ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, und ihr Körper wirkte weich und entspannt. Alex’ Verlangen regte sich. Ihre Lippen waren so weich, rosig und halb geöffnet; er wollte sie küssen. Er verzehrte sich danach, sie zu küssen.
Die Meeresbrise wehte ihr die Federn ihres Hutes ins Gesicht und Joanna strich sie fort. „Wie herrlich, endlich wieder an der frischen Luft zu sein“, sagte sie. „Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlt.“
„Es war nicht ganz so herrlich, als das Wetter noch schlecht war.“ Alex war fasziniert davon, wie schnell sie sich wandeln konnte. Eben war sie noch störrisch und launisch gewesen, jetzt wirkte sie offen, natürlich und anziehend. Vielleicht war sie doch nicht so ein empfindliches Pflänzchen, wie er gedacht hatte. „Das einzig Gute an dem Sturm war, dass wir Rückenwind hatten und sich unsere Reisezeit dadurch beträchtlich verkürzt hat“, bemerkte er. „Ich habe schon zwei Monate und mehr für die Reise gebraucht.“
„Dann kann ich mich ja äußerst glücklich schätzen.“ Joanna drehte sich um, ging zur Steuerbordseite des Schiffs und legte die Hände auf die Reling. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so warm sein würde“, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu.
Alex lachte. Merryn hätte ihn jetzt wohl ausgefragt über das Wettergeschehen, Durchschnittstemperaturen und Barometerstände. Joanna hingegen schien sich fraglos und zufrieden mit der Tatsache abzufinden, dass es ein relativ warmer Tag für arktische Verhältnisse war. Sie verfügte nicht über die intellektuelle Wissbegierde ihrer Schwester. „In einer Stunde wird es vermutlich schneien“, sagte er.
Joanna sah ihn zweifelnd an. „Wirklich?“
„Möglich ist es.“ Alex zuckte die Achseln. „Die Wettervorhersage ist keine präzise Wissenschaft, vor allem hier, wo sich die Wetterlage innerhalb einer halben Stunde dramatisch ändern kann.“
„Nun denn …“ Dieses Mal war Joannas Lächeln aufrichtig und unkompliziert. „Dann werde ich das hier eben einfach so lange genießen müssen, wie es andauert.“
Wie Alex überrascht feststellte, war das gar keine schlechte Lebensphilosophie. Vielleicht hatte es doch etwas für sich, nur den Augenblick zu leben.
Joanna nahm ihre Wanderung über das Deck wieder auf und drehte sich immer wieder im Kreis, um die Aussicht ganz in sich aufzunehmen. Der Himmel war von einem vollkommenen, klaren Blau. „Hier gibt es keinen Rauch, der den Himmel verfinstert“, stellte sie fest. „Keinen Londoner Nebel. Hier ist es so hell, dass meine Augen beinahe schmerzen, und die Luft ist so klar und frisch, dass sie sich wie Nadelstiche auf der Haut anfühlt. Wie sehr alles glitzert!“ Ein staunender Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als sie die schroffen Berggipfel, Gletscher und langen weißen Schneefelder an deren Flanken betrachtete, weiß und weich wie eine Decke. „So viel Schnee“, flüsterte sie, „und so weiß, dass er fast bläulich schimmert … So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht einmal als Kind auf dem Land, wo es jeden Winter geschneit hat.“ Sie wirbelte wieder herum, als könnte sie einfach nicht stillstehen. „Wo sind die Eisberge?“, wollte sie wissen.
„Hier gibt es keine Eisberge“, erklärte Alex. „Sie bilden sich hier nicht so wie weiter im Nordwesten. Keiner weiß, warum.“
Joanna zog einen Schmollmund. „Keine Eisberge? Aber es muss doch Meereseis geben.“
„Weiter oben im Norden“, erwiderte Alex.
Ihre Miene hellte sich auf. „Ach, das würde ich zu gern sehen!“
„Vielleicht bekommst du auch welches zu sehen. Ein Schiff von der grönländischen Fischerei hat heute Morgen längsseits haltgemacht und uns berichtet, dass das Eis diesen Sommer sehr weit nach Süden reicht.“ Er stellte sich neben sie an die Reling. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung und wirkten fast so blau wie der Himmel.
„Ich habe noch nie einen so leeren, unbewohnten Ort gesehen“, flüsterte sie andächtig und drehte sich spontan zu ihm um. „Es ist sehr, sehr schön.“
Alex’ Herz setzte einen Schlag aus. Er sah in ihr leuchtendes Gesicht, und sie wirkte lebensfroher, als er sie je gesehen hatte. „Findest du das wirklich?“
„O ja …“ Sie erschauerte und schlang die Arme um sich wie ein Kind, das einen Schatz fest an sein Herz drücken wollte. „Ich hatte ja keine Ahnung. Ich dachte, hier wäre es finster, kalt und trostlos. Oder neblig, nass und trostlos. Oder einfach nur trostlos.“ Sie lachte.
„All das kann es auch sein“, bestätigte Alex.
„Wahrscheinlich.“ Das Funkeln in ihren Augen erlosch nicht. „Aber an einem Tag wie diesem wirkt hier alles wie verzaubert.“
„Und dennoch hasst du das Landleben in England.“
Joanna lachte erneut amüsiert auf. „In der Tat. Ich bin sehr wankelmütig.“
Eine ganze Weile sahen sie sich in die Augen, und in Alex breitete sich ein Gefühl der Wärme aus. „Du steckst voller Überraschungen, Joanna“, sagte er langsam. „Ich dachte, du würdest es hier ganz schrecklich finden.“
„Das dachte ich auch. Wahrscheinlich wird es so sein, wenn es regnet, und ich hasse Kälte. Aber im Moment ist es das Paradies.“ Sie neigte den Kopf zur Seite und sah Alex an. „Ich habe mich gefragt, warum du Forschungsreisender geworden bist.“ Ihre Stimme klang weich. „Du sagtest einmal, das Reisen wäre für dich wie ein innerer Zwang, und das konnte ich nicht nachvollziehen, aber jetzt …“ Sie legte eine Hand auf die Reling und sah aufs Meer hinaus. „Es ist, als wäre da draußen irgendetwas, etwas Verborgenes, das nach dir ruft, dich anzieht und dir keine Ruhe lässt …“
Alex überlief ein Schauer. Noch nie in seinem Leben hatte jemand das Mysterium und die Leidenschaft in Worte gefasst, die seine Forschungsreisen in ferne Länder für ihn bedeuteten. Und nun hatte diese Frau, die seine Leidenschaft gar nicht teilte und von der er hätte schwören können, dass sie über keinerlei charakterlichen Tiefgang verfügte, seine Empfindungen besser beschrieben, als er es selbst hätte tun können. Er hatte seine Gedanken nie mit jemandem geteilt; er hatte nie mit Amelia, ja nicht einmal mit Ware oder seinen anderen Mitreisenden darüber gesprochen. Diese Gedanken waren fest in ihm eingeschlossen, ein Geheimnis, das Kernstück seiner Seele.
Er starrte Joanna an, und ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie die Leidenschaft in seinem Blick sah. „Genau das ist es“, sagte er und merkte, wie rau seine Stimme klang. „Das ist genau das, was ich empfinde.“
„Dann tust du mir leid.“ Joanna wandte sich von ihm ab. „Weil ich glaube, dass du dadurch keinen Frieden findest.“
„Aber woher wusstest du es?“ Alex griff nach ihrer Hand. Er fühlte sich verwirrt, auf eine seltsame Weise verwundbar, als hätte sie zu viel von ihm gesehen. „Hat Ware es dir erzählt?“
„David?“ Sie machte ein erstauntes Gesicht und lachte schließlich. „Wohl kaum. Ich glaube nicht, dass David Forscher war, weil er den Drang dazu verspürte. Er hat schon früh erkannt, dass es der Weg zu Reichtum und Ruhm war, dementsprechend ist er ihn gegangen. Aber du …“ Ein Lächeln stahl sich in ihre Augen, wie die Sonne, die sich im Meer spiegelt. „Du bist anders, nicht wahr?“
„Ja“, sagte Alex. „Ich bin nicht wie Ware.“ Er erschrak, sobald er die Worte ausgesprochen hatte, als hätte er seinen Freund verraten. Doch es stimmte. Er hatte miterlebt, wie David sich in seinem Ruhm gesonnt hatte. Er hatte Wares Ideale verstanden, aber er hatte sie nicht geteilt.
Eine Weile sahen sie sich in die Augen, und zwischen ihnen keimte ein zartes, zerbrechliches Gefühl auf. Doch dann verschloss sich ihre Miene, und sie entzog ihm die Hand. „Ich bitte dich um Verzeihung“, sagte sie zurückhaltend. „Wir haben geschworen, nie von David zu reden, und ich weiß, es ist sehr unhöflich, mit dem Ehemann über dessen Vorgänger zu sprechen.“
„Joanna …“, begann Alex. Er war nicht sicher, was er ihr sagen wollte. Alles, woran er denken konnte, war, dass sie gerade einen Augenblick der Seelenverwandtschaft erlebt hatten, und dieses Gefühl sollte anhalten. Er war selbst erstaunt, wie sehr er sich das wünschte. Doch Joanna hatte sich wieder von ihm abgewandt, und als er ihrem Blick folgte, sah er Lottie Cummings über das Deck auf sie zueilen. Sie war von Kopf bis Fuß in Pelze gehüllt und sah so skurril aus wie ein als Bär verkleideter Mensch in einer Theatervorstellung. Alex unterdrückte einen Fluch. Der Zauber des Augenblicks war verflogen.
„Lottie“, rief Joanna ihr zu, „wie findest du Spitzbergen bis jetzt?“
„Absolut grausig, liebste Jo.“ Lottie schüttelte sich übertrieben. „Langsam wünschte ich, ich wäre niemals mitgekommen.“
Der Rest der Reisegesellschaft wünscht das schon seit Wochen, dachte Alex bei sich. Alle mit Ausnahme von Devlin. Es war unmöglich, auf einem Schiff Geheimnisse zu haben, und Lotties unersättliche Gier nach dem jungen Mann wurde von der Mannschaft häufig und mit derbem Humor thematisiert.
Joanna wirkte sehr enttäuscht. „Aber du hast mir doch erst vor einer Woche vorgeschwärmt, wie viel Spaß du auf dieser Reise hättest“, protestierte sie.
„Ist das wirklich erst eine Woche her?“, gab Lottie verstimmt zurück. „Mir kommt es vor wie eine halbe Ewigkeit. Ich habe mir den Polarkreis aufregender vorgestellt, aber was finde ich hier vor? Nichts! Wo sind die Menschen, die Städte?“ Sie streckte einen Arm aus und deutete um sich. „Wo sind hier Bäume? Gott, ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal nach einem Baum sehnen würde.“
Joanna warf Alex einen zaghaften, belustigten Blick zu. Alex zog die Augenbrauen hoch und schmunzelte. „Als wir uns eben unterhalten haben, Joanna, hast du das Fehlen von Bäumen gar nicht erwähnt“, murmelte er.
„Nein, das habe ich nicht“, bestätigte sie. „Dabei ist es wirklich schade, dass es hier kaum Grün gibt.“ Sie atmete tief durch. „Aber du musst zugeben, Lottie, es ist beeindruckend. Diese Kargheit ist großartig, geradezu überwältigend.“
Alex lächelte sie an und sah, wie sie errötete. Das ist Joanna, dachte er plötzlich. Schnell bereit, die Wogen zu glätten, um zufriedene Menschen um sich zu sehen. Er erinnerte sich daran, wie sie Mr Churchward wegen des Testaments beschwichtigt hatte, und ein seltsames Gefühl regte sich tief in seinem Innern.
Lottie sah Joanna äußerst missbilligend an. „Ich glaube, deine Krankheit hat dir den Verstand verwirrt, liebste Jo. Das hier ist der ödeste, reizloseste Ort, den ich je im Leben gesehen habe.“
„Was durchaus zu der Frage berechtigt, warum du dann überhaupt mitgekommen bist“, murmelte Joanna vor sich hin. Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter. „Komm, lass uns nach unten gehen. Hudson soll uns eine schöne Kanne Tee kochen, um dich aufzuheitern …“
„Liebes!“ Lottie hob dramatisch die Hände. „Hudson ist bei den Shetlandinseln von Bord gegangen. Er ist mit meiner Zofe Lester durchgebrannt. Weißt du nicht mehr? Ich habe es dir doch erzählt.“
„Ich muss zu krank gewesen sein, ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern.“ Joanna machte ein zerknirschtes Gesicht. „Ich habe mich schon gewundert, warum Frazer mir auf einmal behilflich war und nicht Lester.“
„Ach, Frazer hat sich als großartiges Mädchen für alles erwiesen“, schwärmte Lottie. „Er stellt sich beim Ankleiden und Frisieren besser an als jede Zofe.“
„Ja, er kann wirklich gut mit der Brennschere umgehen“, pflichtete Joanna ihr bei.
„Ist es für Frazer nicht äußerst ungehörig, eine Dame in nur spärlich bekleidetem Zustand zu sehen?“, wandte Alex ein. „Ich bin überrascht, er ist doch sonst so sittenstreng.“
„Frazer sagte mir, er hätte schon viele spärlich bekleidete Damen gesehen“, erwiderte Joanna mit einem spitzbübischen Lächeln. „Ehe er zur Marine ging, hat er als Schneider gearbeitet“, fügte sie hinzu und stutzte über Alex’ sichtliches Erstaunen. Sie runzelte die Stirn. „Hat er dir das nie erzählt?“
„Nein“, gab Alex zu. „Frazers Vergangenheit war immer ziemlich geheimnisumwoben.“ Er fragte sich, was sein mürrischer Steward seiner Frau noch alles anvertraut haben mochte. „Ich hoffe nur“, entfuhr es ihm, „er hat nicht auch etwas über mich erzählt?“
„Warum sollte er so etwas tun?“, gab sie leichthin zurück. „Er ist der Inbegriff der Diskretion.“
„Ja, natürlich“, bestätigte Alex hastig. „Das ist er wirklich. Ich freue mich, dass es dir inzwischen gesundheitlich wieder so gut geht, dass du eine Erfrischung zu dir nehmen möchtest, Joanna“, fuhr er fort, „aber ich muss dir leider sagen, dass das Teeservice bei dem Sturm zerbrochen ist. Ihr werdet Metallbecher benutzen müssen. Aber überprüft vorher, ob der Koch die Becher nicht mit Essig desinfiziert hat, um die Kornkäfer zu bekämpfen.“
Joanna schüttelte sich. „Wie unangenehm kann diese Reise denn noch werden, liebster Alex?“
„Noch sehr viel unangenehmer“, erwiderte Alex grimmig. Wie es schien, entglitt ihm seine Frau wieder und verwandelte sich vor seinen Augen zurück in die Londoner Joanna. Er war fest entschlossen, sie sich zurückzuholen. „Joanna …“, sagte er und hielt sie fest, als sie an ihm vorbeigehen wollte, „auf ein Wort, bitte.“ Er nickte Lottie knapp zu und fixierte sie mit einem strengen Blick, als sie keine Anstalten machte, sich zu entfernen. Schließlich stolzierte sie gekränkt davon.
„Alex?“ Joanna sah ihn fragend an.
„Ja.“ Seine Finger schlossen sich fester um ihr Handgelenk. „Nenn mich nicht Liebster“, sagte er. „Außer, du meinst es wirklich so.“
Ihre Augen wurden schmal. „Das ist doch nur so ein Ausdruck“, verteidigte sie sich. „Es hat gar nichts zu bedeuten.“
„Eben.“ Er sah hinab auf Max in seinem leuchtend roten Mäntelchen, den sie immer noch auf dem Arm trug. „Und benutze diesen Hund nicht als Schutzschild“, fügte er hinzu. „Er ist zu klein, um aktiver Mitstreiter sein zu können.“
Er beugte sich nach vorn und küsste sie. Er spürte ihre Überraschung, aber zu seiner großen Freude versuchte sie nicht, vor ihm zurückzuweichen. Bereitwillig öffnete sie ihre Lippen, und sie schmeckte himmlisch, süß wie Honig und frisch und kühl wie Schnee. Nach einer Weile nahm er ihr Max ab, setzte ihn energisch auf die Decksplanken und zog Joanna fester an sich, um sie richtig küssen zu können. Der große rote Hut war ihm im Weg, daher löste er die Schleife und warf ihn zur Seite. Dann grub er die Finger in ihr Haar und machte Frazers sorgfältige Arbeit damit zunichte. Er hörte, wie Joanna unter seinen Lippen leise protestierte, und küsste sie noch leidenschaftlicher, bis er spürte, dass sie nachgab und sich hingebungsvoll an ihn schmiegte. Die Welt um sie herum versank, es gab nur noch Joanna und nichts anderes mehr für ihn – ihre Berührung, ihr Duft, ihr Geschmack und sein eigenes glühendes Verlangen. Ihm war, als könnte er niemals genug von ihr bekommen.
Eine Windböe erfasste das Schiff, es krängte stark nach Steuerbord, und die beiden wurden voneinander getrennt. Alex packte Joanna an den Armen, um sie festzuhalten. Sie war außer Atem, ihre Wangen waren gerötet von der kalten Luft, ihre Augen leuchteten und ihre braunen Locken tanzten wild im Wind. Ihr Gesicht spiegelte grenzenlose Überraschung wider, aber auch noch etwas anderes – eine aufwühlende Leidenschaft, die seinen Puls in die Höhe trieb. Plötzlich durchströmte ihn ein so machtvolles Verlangen, dass es ihn selbst erschreckte. Er hob die Hand und berührte zart ihre Wange, doch dann sah er, dass sie nicht allein waren, und ließ den Arm langsam wieder sinken.
„Auf einem Schiff gibt es einfach keine Privatsphäre“, stellte er bedauernd fest und lächelte sie an.
Dev war den Niedergang hinaufgekommen und hatte den roten Hut aufgefangen, der über das Deck getrudelt war und beinahe über die Reling davongeflogen wäre. Er reichte ihn Joanna mit einer eleganten Verbeugung. „Lady Grant …“
Joanna nahm ihm den Hut dankend ab und lächelte anmutig. Sie schien sich rasch gefasst zu haben, doch als sie Alex zum Abschied einen verstohlenen Seitenblick zuwarf, wirkte sie immer noch ein wenig scheu und verblüfft. Sie hob Max hoch und eilte die Stufen hinunter, um nach Lottie zu sehen.
„Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich bis Bellsund mit euch reise“, verkündete Dev. „Von dort aus schließe ich mich einer Gruppe von Männern an, die an der Odden Bay nach Wares angeblichem Schatz suchen wollen. Es ist gar nicht weit bis dorthin.“
Alex nickte. Er studierte aufmerksam die Gesichtszüge seines Cousins. „Ich hoffe, du hast niemandem von der Schatzkarte erzählt“, sagte er.
Dev wich seinem Blick aus. „Natürlich nicht!“ Er seufzte, als Lachsalven unter Deck aufbrandeten. „Ich gehe jetzt lieber und erinnere die Mannschaft daran, dass es nicht zu ihren Pflichten gehört, Lady Grant zu unterhalten. Sie sind völlig hingerissen von ihr und haben ganz vergessen, dass es eigentlich Unglück bringt, eine Frau an Bord zu haben.“ Er lachte. „Du hast großes Glück, Alex. Es gibt keinen Mann auf diesem Schiff, der dich nicht beneidet.“
„Außer dir könnte ich mir denken“, erwiderte Alex trocken.
Dev verzog das Gesicht. „Ach, Mrs Cummings ist sehr … entgegenkommend … aber Lady Grant ist …“ Er verstummte, und Alex stellte überrascht fest, dass sein Cousin tatsächlich rot geworden war.
„Was ist Lady Grant?“, fragte er nach.
„Verlange nicht von mir, es in Worte zu fassen.“ Dev errötete noch mehr vor Verlegenheit. „Du weißt, dass ich Schwierigkeiten habe, mich richtig auszudrücken.“ Er runzelte die Stirn. „Lady Grant wirkt irgendwie … unberührt, obwohl sie Witwe war, bevor sie dich geheiratet hat. Vielleicht ist unerweckt das bessere Wort dafür.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie sah vorhin so aus wie eine verwunschene Märchenprinzessin. Und sag mir nicht, ich hätte zu viel Fantasie“, fügte er hinzu, als Alex den Mund zu einer Erwiderung öffnete, „denn ich weiß, du spürst das auch. Ich habe deinen Gesichtsausdruck gesehen.“
„Du siehst einfach zu viel.“ Alex hatte keine Lust, jenen Moment mit einem anderen Menschen zu teilen. Er versuchte immer noch, sich selbst einen Reim darauf zu machen. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er so etwas gefühlt.
„Du weißt, dass Purchase etwas für sie empfindet, nicht wahr?“ Dev warf Alex einen Blick zu. „Und damit meine ich, dass er aufrichtig in sie verliebt ist.“
Alex’ Augen wurden schmal. Er dachte an das Gespräch, das er in London mit Owen Purchase geführt hatte. Inzwischen war er sich sicher, dass sein Freund niemals Joannas Liebhaber gewesen war, aber das bedeutete nicht, dass Purchase es vielleicht nicht gern sein würde. Alex ertappte sich dabei, dass ihm diese Vorstellung nicht gefiel. Sie gefiel ihm ganz und gar nicht – und das nicht nur, weil er sichergehen wollte, dass sein Erbe auch wirklich sein eigen Fleisch und Blut wäre.
„Purchase würde mich niemals hintergehen“, sagte er und versuchte das primitive Bedürfnis zu ignorieren, den Mann aufzusuchen und über Bord zu werfen. „Wir sind seit Jahren befreundet. Und Joanna …“ Er dachte an seine Frau, die sich so warm und leidenschaftlich in seine Arme geschmiegt hatte; an ihren Gesichtsausdruck, nachdem sie sich geküsst hatten, als könnte sie noch gar nicht glauben, dass das, was sie empfand, Wirklichkeit war. Er hatte dieses Gefühl erkannt – denn er hatte es selbst empfunden. „Joanna würde mich nicht betrügen“, sagte er langsam.
Devlin sah ihn fragend an. „Warum hast du Lady Joanna geheiratet, Alex?“
„Jedem anderen würde ich sagen, dass das eine ziemlich impertinente Frage ist“, brummte Alex.
„Ich bin einfach nur neugierig“, gab Dev unbeeindruckt zurück. „Du kommst mir eigentlich nicht wie ein Mann vor, der es auf Wares Ruhm oder seine Ehefrau abgesehen hat, also …“ Er ließ den Satz unvollendet.
„Ist es das, was die Leute glauben?“ Alex war erstaunt. „Dass ich Wares Platz einnehmen möchte?“ Er hatte Klatsch nie Beachtung geschenkt. Nun erkannte er, dass durchaus das Gerücht aufkommen konnte, er würde gern in Wares Fußstapfen treten – nicht nur als ruhmreicher Forschungsreisender, sondern auch im Ehebett. „Hier geht es nicht um Joanna“, wehrte er ab, „und um Ware übrigens auch nicht. Es geht darum, sich um Wares Kind zu kümmern und Balvenie einen Erben zu schenken.“
Er sah, wie sich ein merkwürdiger Ausdruck in Devs Augen stahl. „Einen Erben?“, wiederholte sein Cousin in einem Tonfall, den Alex nicht so recht einordnen konnte.
„Du selbst hast mir dazu geraten, als ich nach London zurückgekehrt bin“, erinnerte er ihn stirnrunzelnd.
„Ja, das habe ich.“ Dev wich Alex’ Blick aus. „Entschuldige mich bitte, Alex“, bat er abrupt. „Purchase braucht mich.“ Damit ging er davon und ließ Alex ratlos zurück. Was um alles in der Welt hatte er eben bloß gesagt?