9. Kapitel
Die Nacht war lang und heiß gewesen. Alex war müde und, wie er merkte, als ihm in der kühlen Nachtluft schwindelig wurde, mehr als nur ein wenig beschwipst. Allerdings war das die einzige Art und Weise gewesen, diesen nicht enden wollenden Abend zu überstehen. Charles Yorke hatte zum Dinner in der Admiralität geladen, bei dem der Prinzregent als Ehrengast anwesend war. Dadurch hatte Alex nicht wie geplant Lady Joanna Ware zum Ball bei Lady Bryanstone begleiten können. Man hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass er die Einladung nicht absagen durfte, wenn die Admiralität seine Reise nach Spitzbergen weiterhin unterstützen und ihn mit Vorräten und einem Begleitschiff für die Sea Witch ausstatten sollte.
Als er das Grillon’s betrat und sich auf den Weg zu seinem Zimmer machte, kam ihm Frazer entgegen. Sein langes, mürrisches Gesicht wirkte im Kerzenschein noch länger und mürrischer als je zuvor. „Eine Dame erwartet Sie, Mylord.“
Alex fluchte. Sich vor Einladungen von übereifrigen Verehrerinnen zu drücken, war in der letzten Woche zu einer seiner Hauptbeschäftigungen geworden. Doch bislang hatte noch keine die Dreistigkeit besessen, ihm in seinem Zimmer aufzulauern, noch dazu mit der Duldung seines Stewards.
„Frazer, es ist drei Uhr nachts.“
„Jawohl, Mylord.“
„Und ich möchte schlafen.“
„Jawohl, Mylord.“
„Und ich bin betrunken.“
Frazer schnupperte. „Sie riechen in der Tat wie nach einem harten Abend in einer Schenke in Aberdeen, Mylord.“ Er zögerte. „Es handelt sich um Lady Joanna Ware, Mylord.“
„Und wenn sie der Papst wäre“, gab Alex gereizt zurück. Joanna Ware war hier in seinem Zimmer, und das um drei Uhr in der Nacht? Er musste Halluzinationen haben. „Sie hätten sie wegschicken können.“
„Er hat es versucht, aber ich habe mich geweigert zu gehen.“
Alex drehte sich um. Die Tür zu seinem Zimmer war aufgegangen, und Joanna stand in der Türöffnung. Auf dem Nachttisch hinter ihr brannte eine Kerze, in deren Schein ihr Haar bronzefarben schimmerte. Als Joanna auf ihn zukam, raschelten ihre Röcke leise und sinnlich. Alex stieg ihr Duft in die Nase, eine Mischung aus Honig, Rosen und ihrem ganz eigenen Aroma. Er war so süß und verführerisch, dass er Alex geradewegs zu Kopf stieg – und nicht nur dorthin. Joanna trug eine Kreation aus silberfarbener Gaze, die sich perfekt – oder aufreizend? – an ihre Rundungen schmiegte und so zart war, dass sie beinahe durchscheinend wirkte. Alex ertappte sich dabei, sie anzustarren. Hinter Joanna sah er sein unberührtes Bett. Noch vor einer Minute hatte er sich nur noch nach Schlaf gesehnt. Jetzt fielen ihm plötzlich ganz andere verlockende Alternativen ein.
„Was zum Teufel machen Sie hier?“, fragte er. „Woher wussten Sie, dass ich hier abgestiegen bin?“ Er wusste, er hörte sich unfreundlich an, aber entweder das, oder er würde sie küssen, bis ihr die Luft wegblieb. Letzteres wollte er nicht unbedingt vor Frazer tun, obwohl er wirklich kurz davor war.
„Brooke hat Sie gefunden“, erklärte Joanna. „Er kann jeden ausfindig machen. Ich muss mit Ihnen reden.“
„Kann das nicht warten?“
„Natürlich nicht, sonst wäre ich ja nicht hier.“ Sie rümpfte die Nase. „Sie haben getrunken!“
„Nur ein bisschen.“
„Ich bitte um Verzeihung, Madam“, schaltete Frazer sich ein.
„Hören Sie auf, sich an meiner Stelle zu entschuldigen, Frazer!“, schimpfte Alex. „Ich kann mich sehr gut selbst entschuldigen, wenn ich das Gefühl habe, dass die Situation es erfordert.“ Er wandte sich wieder an Joanna. „Lady Joanna, gehen Sie nach Hause. Ich werde Sie morgen früh aufsuchen.“
„Morgen früh bin ich vielleicht gar nicht mehr da.“ Ihre Stimme bebte kaum merklich, doch obwohl er nicht mehr nüchtern war, entging es ihm nicht. Ihr Gesichtsausdruck wirkte zwar entschlossen, aber an der Art, wie sie die Handflächen gegeneinanderpresste, merkte er, dass sie besorgt war, vielleicht sogar Angst hatte. Irgendetwas regte sich in ihm, Mitgefühl und noch eine andere Empfindung, von der er geglaubt hatte, schon lange nicht mehr dazu fähig zu sein. Er fluchte.
„Mylord!“ Frazer klang empört. „Doch nicht vor einer Dame!“
„Frazer, besorgen Sie mir bitte kaltes Wasser“, sagte Alex und ignorierte die Ermahnung völlig. „Lady Joanna, was darf ich Ihnen anbieten? Abgesehen von einer Mietdroschke, die Sie nach Hause bringt?“
„Ich bin hergekommen, um Sie zu verführen“, sprudelte sie hervor.
„Verzeihung, Mylord“, sagte Frazer in die daraufhin einsetzende Stille hinein. „Ich glaube nicht, dass ich in einem solchen Moment anwesend sein sollte.“
„Das ist verdammt richtig. Bitte entschuldigen Sie uns.“ Alex nahm Joannas Arm, zog sie mit sich in sein Zimmer und schloss die Tür. „Sie sind gekommen, um mich zu verführen?“, wiederholte er.
„Ja.“ Sie sah verärgert aus.
„Und warum haben Sie es dann nicht getan?“
„Wie bitte?“
„Warum haben Sie es nicht getan? Großer Gott, so etwas kündigt man doch nicht an.“ Er hob die Hände. „Man tut es einfach.“
Joanna biss sich auf die Unterlippe. „Ich konnte nicht“, rief sie aus. „Frazer war dabei, und ich wollte ihn nicht schockieren. Ich finde ihn sehr nett – er hat mir ein Glas Wein gebracht, während ich auf Sie gewartet habe, und er hat mir von seinem Zuhause erzählt …“ Sie verstummte, als hätte sie die Realität dieser Situation plötzlich eingeholt. Einen Augenblick lang sah sie eher aus wie siebzehn als wie siebenundzwanzig. Trotz ihres mondänen silbernen Abendkleids wirkte sie verwirrt, ein wenig verloren und unglücklich; wie eine unschuldige Braut, deren Mutter ihr gerade mit Geschichten über die unkontrollierbaren Begierden eines Mannes Angst eingejagt hatte.
Ein Gefühl von Zärtlichkeit regte sich in Alex. Er registrierte es ungläubig und fragte sich, ob ihm der Alkohol vielleicht doch zu sehr zu Kopf gestiegen war. Konnte Joanna Ware tatsächlich so eine Empfindung in ihm auslösen, wo sie ihm doch völlig gleichgültig war? Irrsinn. Eine Sekunde lang befürchtete er, den Verstand verloren zu haben. „Da haben Sie wohl ein ziemliches Durcheinander angerichtet, nicht wahr?“, bemerkte er etwas schroffer als beabsichtigt.
Ihre schönen violetten Augen funkelten. „Vielen Dank! Verzeihen Sie mir bitte, dass ich keinerlei Erfahrung in solchen Dingen habe.“
„Ich habe keine Ahnung, was Sie sich dabei gedacht haben.“
Sie errötete noch heftiger. „Ich auch nicht.“
Jemand klopfte zaghaft an die Tür. Auf Alex’ Aufforderung hin streckte Frazer vorsichtig den Kopf durch den Türspalt und schien über alle Maßen erleichtert, sie beide noch ordentlich bekleidet zu sehen. Er reichte Alex einen Krug Wasser. „Ich war mir nicht sicher, ob Sie gerade miteinander … hm … verhandeln“, murmelte er.
„Nicht so, wie Sie denken“, gab Alex zurück und sah Joanna aufgebracht an. Er schüttete sich das Wasser aus dem Krug über den Kopf. Joanna wirkte entrüstet.
„Was haben Sie da angerichtet!“, rief sie. „Das ist ein echter Aubussonteppich! Es ist mir schleierhaft, warum man so einen in ein Hotelzimmer legt, wo Leute wie Sie ihn malträtieren.“
„Wenigstens kann ich jetzt wieder klar denken“, erwiderte Alex. Frazer verschwand mit dem leeren Krug, und Alex hängte sich ein Handtuch um den Nacken. „So, worum, zum Teufel, geht es hier überhaupt?“ Er sah, wie Joanna verstimmt die Lippen aufeinanderpresste, und verspürte sofort wieder das Bedürfnis, sie zu küssen.
„Sie müssen mich heiraten“, sagte sie.
Alex zuckte zusammen. „Warum um alles in der Welt?“
„Weil ich mich in einer verzweifelten Lage befinde.“
„Vielen Dank“, erwiderte Alex trocken. „Ich versuche immer noch zu verstehen, was Ihre Absicht, mich zu verführen, damit zu tun hat.“
Joanna seufzte schwer und entfernte sich ein paar Schritte von ihm. Das Rascheln ihrer Röcke klang wie das Fauchen einer erbosten Katze. „Ich musste daran denken, dass wir uns nur dann nicht streiten, wenn wir uns küssen“, erklärte sie kühl. „Also erschien es mir logisch, sich Ihnen auf diesem Wege zu nähern.“
„Ich hätte vermutlich mit Ihnen geschlafen.“ Alex versuchte, seiner eigenen Logik zu folgen. „Aber wie kommen Sie darauf, dass ich Sie danach geheiratet hätte?“
Jetzt wirkte sie sogar noch aufgebrachter. „Weil Sie eigentlich ein Gentleman sein sollten“, fuhr sie ihn an, „und genau das ist es, was ein Gentleman in einem solchen Fall tut!“
„Ihre Logik lässt hoffnungslos zu wünschen übrig“, bemerkte Alex.
„Genau wie Ihre Manieren.“ Sie klang gereizt. Er sah, dass sie wieder errötete und schließlich resigniert den Kopf schüttelte. „Es tut mir leid“, sagte sie abrupt. „Ich bin müde und habe offensichtlich nicht klar denken können. Ich sehe ein, dass ich mich gerade selbst zum Narren gemacht habe …“
„Joanna.“ Alex ergriff ihre Hände und merkte, wie sie zitterte. Gleichzeitig empfand er den unvertrauten und beunruhigenden Wunsch, sie zu trösten. Der Kontrast zwischen ihrem mondänen Äußeren, unterstrichen durch das silberne Kleid, und den ungebärdigen Empfindungen in ihrem Innern verwirrte ihn zutiefst. „Sagen Sie mir, worum es wirklich geht“, bat er.
Sie entzog ihm die Hände und setzte sich auf die Bettkante. Alex’ Körper reagierte sofort auf ihren Anblick. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst. Verdammt. Begriff sie denn nicht, was sie ihm antat, hier in seinem Schlafzimmer, mitten in der Nacht? Für eine Witwe war sie außergewöhnlich naiv. Sie hatte kühn ihre Absicht verkündet, ihn zu verführen, und nachdem er nicht darauf eingegangen war, glaubte sie wohl, sie wäre für ihn jetzt so geschlechtslos wie Frazer. Er hatte mit Sicherheit nicht vor, sich neben sie zu setzen – dadurch wäre die Versuchung viel zu groß geworden. Er schob die Hände in die Hosentaschen und ging zum anderen Ende des Zimmers.
„Es ist wegen John Hagan“, begann sie hastig. „Er hat gesagt …“ Sie schluckte krampfhaft trotz ihrer tapferen Bemühungen, die Ruhe zu bewahren. „Er sagt, wenn ich tatsächlich in die Arktis reise, habe ich bei meiner Rückkehr kein Zuhause mehr. Außerdem will er dafür sorgen, dass mich niemand mehr empfängt.“ Sie hob verzweifelt die Hände. „Er sagt, er will Nina nicht in seiner Familie haben; sie wäre Davids Bastard und könne seinetwegen verrotten …“ Ihre Stimme bebte. „Er wollte mich …“ Sie hielt inne und sah ihm in die Augen. „Nun, er hat mir ein Arrangement vorgeschlagen …“
„Ich verstehe.“ In Alex stieg eine kalte, besitzergreifende Wut auf. „Und Sie haben ihn zurückgewiesen.“
„Nicht direkt.“ Ihr Blick wirkte trotzig, und Alex empfand ihre Worte wie einen Schlag in die Magengrube. „Ich muss Nina ein Zuhause bieten“, fuhr sie fort, „und ich habe keine andere Möglichkeit gesehen. Ich kann nicht als Bedienstete oder in Armut leben. Daher dachte ich …“
„Verdammt, Joanna!“ Alex platzte beinahe vor Zorn. Er sprang zu ihr und packte sie bei den Schultern. „Eine Affäre mit mir lehnen Sie wegen Ihrer sogenannten Moralvorstellungen ab, und dann schlafen Sie mit John Hagan, um ihren Lebensstil beibehalten zu können.“ Er ließ sie los. „Ich hätte es mir denken können“, fügte er verbittert hinzu. „Hätte ich Ihnen die von Ihnen erwähnte Kutsche mit dem Gespann angeboten, hätten Sie es sich anders überlegt.“
„So war es nicht!“ Joanna stemmte die Hände in die Hüften und ihre Augen blitzten. „Hagan hat mich erpresst, ich habe keine andere Möglichkeit gesehen.“ Ihre Stimme wurde brüchig. „Ich will Nina wirklich helfen und sie in Sicherheit wissen, Alex. Abgesehen davon habe ich es dann doch nicht über mich gebracht, ich konnte es einfach nicht. Er war zu unattraktiv, und ich hatte Angst, er würde mich vielleicht trotzdem hintergehen.“
Alex lachte kurz auf. „Damit haben Sie vermutlich recht.“ Er sah sie an. Er staunte selbst, wie zornig er war; er war wütend, weil sie überhaupt in Erwägung gezogen hatte, John Hagans Erpressung nachzugeben. Und noch wütender war er wegen Hagans unverschämten Benehmens. Er verstand, warum Joanna sich an ihn gewandt hatte. Sie brauchte nicht nur einen Ort, wo sie und Nina leben konnten, sondern, viel wichtiger noch, den Schutz, den sein Name ihr vor Hagans bösartiger Rache bot. Der Mann hatte Einfluss und würde die Londoner Gesellschaft gegen sie aufbringen. Als Witwe ohne eigenes Vermögen hatte Joanna nur überleben können, weil sie als Liebling der Gesellschaft diejenigen erfreut hatte, die über Macht und Einfluss verfügten. Jetzt brachten dieselben Menschen sie vielleicht zu Fall, nur um zu beweisen, dass Joanna letztlich ihr Geschöpf gewesen war.
Er sah, dass sie nach ihrer Stola griff und gehen wollte.
„Es war ein Fehler von mir, hierherzukommen“, sagte sie abrupt. „Das sehe ich jetzt ein. Wenn Hagan mich wirklich aus meinem Haus wirft, finde ich sicher irgendeinen anderen Gentleman, der bereit ist, mich zu heiraten …“
Alex hatte immer noch Kopfschmerzen und dachte daher langsamer als für gewöhnlich, aber eins wusste er ganz genau – kein anderer würde Joanna Ware heiraten. Das stand eindeutig fest. „Wie Lewisham, Belfort oder Preston?“, schlug er sanft vor. „Das sind keine Männer, meine Liebe, die sind ja schon fast scheintot.“
„Ich weiß.“ Wieder erwiderte sie herausfordernd seinen Blick. „Aber sie bedeuten Sicherheit. Für mich ebenso wie für Merryn und Nina.“
„Keiner von ihnen würde die uneheliche Tochter eines anderen Mannes bei sich aufnehmen wollen“, gab Alex zu bedenken.
„Vermutlich nicht.“ Sie zupfte an ihrer Gazestola. „Mir ist klar, dass Sie genauso wenig heiraten wollen wie ich, Alex, aber Sie zumindest würden es vielleicht zum Wohl des Kindes tun.“ Sie ließ den hauchdünnen Stoff durch ihre Finger gleiten. „David hat Sie aus einem bestimmten Grund zu Ninas Vormund ernannt. Ich glaube, weil er wusste, dass Sie ihn niemals im Stich lassen würden. Ganz gleich, wie sehr Ihnen die Verantwortung zuwider ist, die er Ihnen damit aufbürdete, Sie würden dennoch Ihre Pflicht erfüllen …“ Ihre Stimme erstarb. „Sie ist Ihnen wirklich zuwider, nicht wahr?“, fügte sie leise hinzu. „Ich kann Ihren Zorn und Ihr Widerstreben förmlich fühlen, die ganze Zeit.“
Wieder wurde Alex von Zorn und Verbitterung erfüllt. Wie viel konnte er ihr erzählen, hier in diesem dämmerigen Zimmer; wie viel über seine Schuldgefühle wegen Amelias Tod; wie viel darüber, wie er sich gegen Verantwortung und Verpflichtungen aller Art sträubte, sich aber niemals vor ihnen drücken würde? Es war fast, als wäre das seine Strafe, seine Buße. O ja, David Ware hatte die Vormunde für seine Tochter gut ausgewählt, denn keiner von ihnen beiden würde das Kind je im Stich lassen. Joanna wegen ihres hartnäckigen Wunsches, Nina zu helfen. Und er wegen seiner schrecklichen Schuldgefühle, von denen er sich niemals befreien konnte und die bewirkten, dass er nie wieder einem unschuldigen Kind gegenüber versagen wollte …
„Ja“, bestätigte er verdrossen. „Es ist mir zuwider.“
„Warum?“
Er hatte sie noch nie zuvor angelogen. Überhaupt stellte er einigermaßen überrascht fest, waren sie stets äußerst offen und ehrlich miteinander umgegangen. Dieses Geschwür in ihm, dieser Vorwurf, diese Schuld, die er an Amelias Tod zu haben glaubte – über all das sprach er niemals, und er würde jetzt nicht damit anfangen. Nein, die halbe Wahrheit musste ausreichen. „Weil ich es hasse, angebunden zu sein“, sagte er. „Ich will keine Verantwortung übernehmen müssen. Ich bin Forschungsreisender.“ Er zuckte die Achseln. „Es ist wie ein innerer Zwang, nur schwer zu erklären …“
Sie nickte. „Das verstehe ich.“
Wenn Ware diesen Zwang ebenfalls gespürt hatte, dann verstand sie ihn wahrscheinlich tatsächlich, und zwar besser als jede andere Frau, die er kannte. Aber … „Aber diese Eigenschaft wünschen Sie nicht an einem Mann.“
„Natürlich nicht.“ Jetzt klang sie verbittert. „Aber ich möchte das Kind, Alex. Ich fühle eine moralische Verpflichtung, mich um Nina zu kümmern. Mehr noch allerdings, ihr zu helfen. Ich kann sie nicht allein lassen, so weit fort, ungeliebt und einsam …Und ich bin so oberflächlich, auch meinen Lebensstil beibehalten zu wollen, das gebe ich offen zu.“ Sie holte tief Luft und stand auf. „Daher schlage ich Ihnen einen Handel vor. Ich weiß, ich kann Ihnen keine große Gegenleistung anbieten, aber alles, worum ich Sie bitte, ist, der Schutz Ihres Namens und ein Zuhause für mich, Merryn und Nina.“ Sie lächelte leicht. „Vielleicht könnte ja auch Ihre Cousine Francesca bei uns wohnen. Ich könnte sie bei ihrem Debüt betreuen, falls die Gesellschaft dann überhaupt noch mit mir spricht.“ Wieder hielt sie inne. „Ich werde jedenfalls nichts anderes von Ihnen verlangen. Ich ziehe Nina groß und kümmere mich um sie. Dann können Sie reisen, soviel Sie wollen, ohne Verpflichtungen, ohne Bindungen. Was sagen Sie dazu?“
Alex dachte nach. In gewisser Hinsicht schien das die naheliegende Lösung für alle ihre Probleme zu sein. Indem er Joanna seinen Namen und ein Dach über dem Kopf gab, schützte er sie nicht nur vor Hagan und dem Ausschluss aus der Gesellschaft. Er sorgte auch dafür, dass Nina gut umsorgt wurde und materiell abgesichert war. Er hatte dann wesentlich mehr Einfluss auf Ninas Zukunft, als wenn sie bei Joanna leben würde und er nur der Zahlmeister wäre. Außerdem hätte er gleichzeitig Wares Auftrag ausgeführt. Joanna konnte dem Kind die familiäre Geborgenheit schenken, zu der er so offenkundig nicht fähig war, und obendrein noch Chessie unter ihre Fittiche nehmen. Das Beste aber war – er würde frei sein. Dann konnte er gehen, wohin er wollte, um seine Träume zu verwirklichen. Ja, es schien die ideale Lösung zu sein. Sicher, er hatte keine weiteren Verpflichtungen übernehmen wollen und hätte sich diese Belastung lieber erspart. Aber er musste ohnehin schon für Chessie sorgen, und er hatte auch nicht vor, Nina im Stich zu lassen. Er konnte es einfach nicht, das verbot ihm sein Ehrgefühl.
Und dann, wie von ganz weit her, hörte er wieder Devlins geflüsterte Worte, die er verdrängt hatte, seit er nach London zurückgekehrt war:
„Balvenie braucht einen Erben …“
Er hatte dieses Flüstern und auch die Notwendigkeit dahinter ignoriert, weil die entsetzlichen Schuldgefühle wegen Amelias Tod es ihm nicht erlaubten, einen anderen Menschen an ihre Stelle zu setzen.
Er sah Joanna an. Sie war sehr blass und wirkte nervös. Er musste an David Wares Testamentsnachtrag denken; an die spöttischen Worte, die erkennen ließen, wie sehr Joanna sich ein Kind wünschte. Aus dieser beinahe verzweifelten Sehnsucht war auch ihre Entschlossenheit erwachsen, Nina zu sich zu holen. Aber gab es irgendeinen Grund, warum sie kein eigenes Kind haben sollte? Es stimmte, in den neun Jahren ihrer Ehe hatte sie Ware keinen Nachkommen geschenkt, doch das war wahrscheinlich nur Zufall. Sie mochte glauben, sie hätte ihm nur wenig zu bieten, tatsächlich jedoch konnte sie ihm eventuell sehr viel geben. Einen Erben für Balvenie … Eine weitere Verpflichtung erfüllt, eine weitere Verantwortung wahrgenommen. Das wäre geradezu perfekt. Er würde Joanna aus vollkommen praktischen Gründen heiraten, und das würden sie beide verstehen. Er begehrte sie, aber er würde sie niemals lieben, also beging er auch keinen Verrat an Amelia. Er würde sie durch niemanden ersetzen.
Ihre Blicke trafen sich, und er stellte betroffen fest, dass sie immer noch nervös war. „Sie haben Angst“, bemerkte er, als er sah, wie ihre Hände zitterten und sie die Finger krampfhaft ineinander verschränkte.
„Natürlich habe ich Angst! Ich habe mir geschworen, nie wieder zu heiraten. Es ist kein Geheimnis, dass meine Ehe mit David unglücklich war. Und ich will keinen weiteren Abenteurer, der mein Leben auf den Kopf stellt, mir alles verspricht und dann verschwindet und mich mit leeren Händen zurücklässt!“ Sie klang verzweifelt.
„Zumindest würden wir dieses Mal beide die Bedingungen unserer Abmachung kennen und uns daran halten“, gab Alex rau zurück. Zum ersten Mal hatte Joanna ihm einen echten Einblick in ihre Beziehung zu Ware gewährt, und er wusste, dass sie das unbewusst getan hatte, aus der Anspannung heraus.
„Ja.“ Sie seufzte. „Ich bin nicht mehr so jung und naiv wie damals, als ich David heiratete. Daher bitte ich Sie um nichts weiter als um Ihren Namen und ein Zuhause.“ Sie straffte sich. „Was sagen Sie dazu?“
„Nein. Ich möchte keine Haushälterin oder ein Kindermädchen.“
Sie hob das Kinn. „Man sagte mir, sie wären nicht so teuer wie eine Ehefrau.“
„Mag sein.“ Er legte die Hände auf ihre Schultern und spürte die Wärme ihrer Haut durch den dünnen Stoff ihres Kleides. Sein Verlangen nach ihr loderte wieder auf. „Ich möchte keine Ehe, die nur auf dem Papier besteht“, sagte er. Er dachte an Balvenie und daran, dass er einen Erben brauchte. „Sie sind gekommen, um mich zu verführen“, fügte er hinzu. „Also tun Sie es!“
Joanna verschlug es den Atem. Gute Absichten waren eine Sache, wenigstens in der Theorie. Prüfend betrachtete sie sein ernstes, dunkles Gesicht. Ihn verführen? Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn er so unnahbar aussah. Im Grunde war es von Anfang an unmöglich gewesen, hoffnungslos, völlig irrsinnig von ihr zu glauben, sie könnte es tatsächlich tun. Ihr Selbstbewusstsein war von Anfang an beklagenswert gering gewesen, verborgen hinter der verlockenden Fassade des silberfarbenen Abendkleides.
„Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie mich nur heiraten, wenn ich Sie verführe?“, fragte sie schockiert und ungläubig. „Dann sind Sie noch weniger ein Gentleman, als ich gedacht habe.“
Er lachte. Zur Hölle mit ihm! Im Kerzenschein sah er jugendlich und verwegen aus, plötzlich wirkte er durch und durch wie der Abenteurer, der er auch war. „Hätten Sie mehr Erfahrung, wüssten Sie, dass sich nur sehr wenige Männer zu einer solchen Uhrzeit wie ein wahrer Gentleman benehmen.“ Er zuckte die Achseln. „Manche vielleicht, aber ich bin ehrlich genug zuzugeben, dass ich nicht zu ihnen gehöre.“ Er beobachtete sie, und unter seinem Blick wurde ihr siedend heiß. „Sie haben den Vorschlag zuerst gemacht, falls Sie sich erinnern“, fuhr Alex fort. „Und daher – ja, das ist richtig. Ich werde Sie erst heiraten, wenn Sie mich verführt haben. Also besiegeln Sie die Abmachung!“
„Die Abmachung besiegeln?“ Joanna rümpfte die Nase. „Was für eine überaus vulgäre Bezeichnung.“
Er trat einen Schritt auf sie zu. „Ich möchte nicht, dass wir uns bezüglich unserer Ehe missverstehen, Joanna. Wenn wir heiraten, dann nicht nur auf dem Papier. Ich begehre Sie; ich will Sie nicht heiraten und dann mein Vergnügen in einem fremden Bett suchen, weil Sie mir den Zugang zu Ihrem verweigern.“
Nun, das ist zumindest anständig, dachte Joanna. Sie musste an David und seine völlige Unfähigkeit denken, treu zu bleiben. Plötzlich fühlte sie sich geachtet und respektiert. Und Alex hatte natürlich recht – es war ursprünglich ihre Idee gewesen, vor gefühlten gut einhundert Jahren. Jetzt war die Vorstellung absurd und doch gleichzeitig eigenartig faszinierend. „Vergnügen“, wiederholte sie flüsternd und erschauerte.
„Ja.“ Wieder funkelten seine grauen Augen durchtrieben. Er neigte den Kopf zur Seite. „Schließe ich daraus, dass Sie das nicht gewohnt sind?“
Natürlich nicht. David Ware hatte sich stets nur um sein eigenes Vergnügen gekümmert. In seinem Universum war kaum Platz für einen anderen Menschen außer ihm selbst gewesen. „Ich …“ Es gab keine Möglichkeit, über solche Dinge zu reden, ohne David zu erwähnen, und an ihn wollte sie in diesem Augenblick wirklich nicht denken.
„Für eine aufstrebende Verführerin sind Sie erstaunlich zurückhaltend.“
Als Verführerin war sie ein hoffnungsloser Fall. Das wusste sie selbst, darauf brauchte er sie nicht eigens hinzuweisen. Außerdem konnte sie sich nicht auf dieses Wagnis einlassen, jetzt, wo es darauf ankam. Wahrscheinlich war es das logische Finale des dunklen, gefährlichen Spiels, das sie gespielt hatten – sich gegenseitig zu misstrauen, zu verachten, und doch gleichzeitig gefesselt zu sein von dieser machtvollen Anziehungskraft, der sie sich nicht entziehen konnten. Jetzt war es zur ultimativen Herausforderung gekommen, doch Joanna war zu schwach, um sich ihr zu stellen. Sie dachte an eine Zukunft ohne Zuhause, ohne Geld, und einen schrecklichen Moment lang herrschte vollkommene Leere in ihrem Kopf. Sie konnte sich nicht das geringste Bild davon machen, wie eine solche Existenz aussehen mochte. Die Alternative dazu stand jedoch vor ihr und sah ausgesprochen gefährlich aus.
„Sie können es einfach nicht lassen, mich zu kritisieren“, sagte sie schließlich. „Ich habe es mir anders überlegt. Aus unserem Abkommen wird nichts …“
Alex stieß einen verärgerten Laut aus, schob eine Hand in ihr Haar und küsste sie. Sobald sich ihre Lippen berührten, wurde Joanna von einem jähen Verlangen erfasst, heißer und süßer als je zuvor. Sie wich zurück, bevor sie darin zu versinken drohte, und schlug die Augen auf. „Ich küsse keinen Mann, der nach Brandy riecht!“
„Etwas mehr Mut, bitte!“, erwiderte Alex lächelnd. Er war ihr so nahe, dass ihr davon ganz schwindelig wurde. „Das ist nicht irgendein Brandy“, fügte er hinzu. „Das ist der beste Brandy des Prinzregenten.“ Er sah ihr tief und eindringlich in die Augen. „Die Entscheidung liegt jetzt bei Ihnen. Haben wir ein Abkommen oder nicht?“
Wenn sie nicht bald von hier verschwand, war sie verloren. Sie zitterte. „Nein.“
Er bewegte sich nicht und stand zwischen ihr und der Tür. „Feigling“, sagte er. „Sie riskieren eine unsichere Zukunft für Nina, Merryn und für sich selbst, nur weil Sie es nicht wagen, mit mir zu schlafen?“
Die Hitze im Raum schien plötzlich unerträglich. Die Kerzenflammen flackerten und knisterten. „Erpresser. Sie sind auch nicht besser als Hagan.“ Joanna hob die Hand, um ihn zu ohrfeigen. In ihrem Innern tobte ein Sturm der Gefühle, eine schockierende Mischung aus Zorn, Verlangen, Scham und wütender Erregung.
Er griff nach ihrem Handgelenk und drückte es sanft nach unten. „Das war Ihre Idee“, sagte er. „Eine gute sogar, ausnahmsweise. Aber …“, er zuckte die Achseln, „wenn Sie unbedingt gehen wollen, bitte.“ Er wandte sich ab.
„Nein.“ Irgendetwas zerbrach in ihr. „Ich kann nicht. Ich will Nina.“ Sie wollte das Kind wirklich verzweifelt, aber sie hatte auch weniger noble Wünsche. Sie sah an ihrem silbernen Kleid hinab. „Und ich möchte in London leben und schöne Kleider tragen.“
Alex lachte. „Also werden Sie sich mir am Ende hingeben – Ihrer Garderobe zuliebe? Das klingt nach einem guten Grund.“
Er hob sie hoch und legte sie auf das Bett. Das geschah so schnell und unerwartet, dass sie einen Moment lang atemlos und wie erstarrt liegen blieb. Er kniete über ihr und sah so groß, stark und unglaublich männlich aus, dass ihr Herz vor Angst, Faszination und gleichzeitig einem geradezu verruchten Entzücken schneller schlug. Vor Anspannung wurde ihr flau im Magen. Ein fast schmerzhaftes Verlangen quälte sie, einerseits war sie wütend auf ihn und konnte es andererseits kaum erwarten, ihn in sich zu spüren. Noch nie hatte sie ein derartig unschickliches Begehren empfunden; allein beim Gedanken daran wurde sie noch verspannter vor Entsetzen und Verzweiflung.
Alex beugte sich über sie und küsste sie. Sie presste die Hände auf den Bettüberwurf und spürte den rauen Brokat unter ihren Fingern. Der Kuss war eine eindeutige Forderung, und ihr Körper reagierte sofort darauf. Alex’ Lippen und seine Zunge versetzten sie in eine Erregung, derer sie kaum noch Herr wurde. Sie spürte sein Verlangen; spürte, wie ihr eigener Körper seinem entgegendrängte und wie die Spitzen ihrer Brüste gegen den dünnen Stoff des Kleides drückten. Ein Gedanke schoss ihr plötzlich durch den Kopf und holte sie vorübergehend in die Wirklichkeit zurück.
„Vorsicht mit meinem Kleid“, murmelte sie und dachte an den horrenden Preis, den sie in Madame Ermines Geschäft dafür bezahlt hatte.
Alex seufzte resigniert. „Dann zieh es lieber aus“, meinte er, „ehe ich das selbst tue und mit deutlich weniger Feingefühl.“
„Ohne die Hilfe einer Zofe kann ich das Kleid nicht ausziehen“, gab Joanna zurück.
Alex seufzte erneut, und ehe sie sichs versah, hatte er sie auf den Bauch gedreht. Sie stieß einen kleinen Protestlaut aus, als sie seine Finger an ihrem Nacken spürte, mit denen er ungeduldig ihr Haar zur Seite schob und sich an den kleinen Perlmuttknöpfen zu schaffen machte. Er fluchte leise.
„Vorsichtig, bitte“, flehte sie wieder.
„Es wird Zeit, dass du an etwas anderes denkst“, grollte er. Mit den Lippen liebkoste er ihren Nacken, und Schauer der Lust durchrannen sie, während er sich weiter konzentriert mit den Knöpfen beschäftigte. Er ging mit einer Geschicklichkeit vor, die sie beinahe erschreckte, gleichzeitig aber auch zutiefst erregte. Seine Hände waren dabei ganz ruhig, während Joanna am ganzen Leib zitterte.
Endlich zog er ihr das Kleid aus. Sie hörte ein Reißen und wollte schon protestieren, doch er hatte sie bereits wieder auf den Rücken gedreht und von ihrem Mund Besitz ergriffen. Und dann gab es für sie nur noch seine Zunge, die ihre eigene umwarb. Er schmeckte so köstlich nach Brandy und gleichermaßen berauschender Männlichkeit, dass sie all ihre Einwände vergaß. Sein Mund war warm, fest und fordernd, und sie wand sich unter seinen liebkosenden Händen. Ganz flüchtig regte sich etwas wie Furcht in ihr, aber dann war der Augenblick auch schon wieder vorbei. Nein, das hier war nicht David mit seinen egoistischen Bedürfnissen. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass Alex kein Mann war, der seine Kraft benutzte, um andere einzuschüchtern. Obwohl seine Hände und sein Mund so eindringlich forderten, schenkten sie doch auch Wonnen, so unvergleichliche Wonnen, als er ihr das Seidenhemd von den Schultern streifte, um ihre Brüste zu entblößen. Seine Berührungen waren federleicht, liebevoll und unendlich zärtlich. Joanna bewegte sich unruhig unter ihm, sie wollte ihn und bot ihm ihre Brüste dar. Er hielt inne, nur sein Atem streifte eine der aufgerichteten, rosigen Knospen.
„Du hast wirklich hinreißende …“
Sie wartete angespannt.
„Unterwäsche.“ Er legte die Hand auf ihren Bauch. „Hast du sie in der Bond Street gekauft?“
„Als ob dich das wirklich interessieren würde.“ Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und zog ihn hinunter zu ihren Brüsten. Alex lachte und sog an einer ihrer Brustspitzen. Joanna hätte am liebsten geschrien vor Lust. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich in einem Hotelzimmer befand und Frazer in der Nähe war. Diese schockierende Vorstellung steigerte ihre Erregung noch. Sie zog Alex an sich, klammerte sich an seine harten, muskulösen Schultern und zerrte an seinem Hemd, ohne Rücksicht darauf, ob sie den Stoff zerriss oder nicht. Schließlich legte er nicht annähernd so viel Wert auf sein Äußeres wie sie.
Das war ihr letzter zusammenhängender Gedanke, ehe er sie erneut küsste und sie an diesen dunklen, erotischen Ort entführte, den sie nie wieder verlassen wollte. Zielstrebig griff sie nach ihm. Er hatte ihr inzwischen alle Kleidungsstücke ausgezogen, aber es waren ihre Hände, nicht seine, die jetzt nach dem Bund seiner Hose griffen, um die letzte Barriere zwischen ihnen zu beseitigen. Sie hörte, wie er den Atem anhielt, sah sein angespanntes Gesicht im Kerzenschein und kam nicht gegen das Aufflackern von Angst an, ein dunkles Andenken an Davids Grausamkeit. Dieses Mal spürte Alex ihr Zögern und richtete sich leicht auf. In seinem Blick lag das gleiche Verlangen, das sie selbst verspürte; ein Verlangen gepaart mit einem Rest von Furcht.
„Hab keine Angst …“
Woher wusste er das? Ihre Anspannung ließ nach, als er zart ihre Stirn, ihre Schulter und ihren Hals küsste. Seine Hände trösteten jetzt, beschwichtigten, obwohl sie gleichzeitig unendlich zärtlich erregten.
„Vertrau mir.“
Und das tat sie. Erleichterung erfasste sie. Er würde ihr niemals wehtun. Das wusste sie.
Alex rutschte ein Stück tiefer und drückte behutsam ihre Beine auseinander. Joanna erstarrte, als er den Kopf über sie beugte. Sie gab ein leises Geräusch von sich und versuchte, ihm auszuweichen, aber jetzt hielt er sie ganz fest, besitzergreifend, und seine Zunge liebkoste sie so erfahren, dass Joanna einen kleinen Schrei ausstieß. Sie geriet in einen Strudel aus Empfindungen, der sie plötzlich zu ihrer Überraschung in ungeahnte Höhen riss und dann in den Abgrund sinken ließ, wo sie erschöpft und vollkommen aufgewühlt liegen blieb. Sie rang nach Luft und schlug die Augen auf. Das ganze Zimmer schien sich um sie zu drehen, und ihr Körper zuckte wieder und wieder lustvoll zusammen.
„Ich habe noch nie … Ich wusste nicht …“ Benommen und atemlos lag sie auf dem Bett. All diese süßen Erwartungen dachte sie. Dieses Gefühl der Erfüllung, das sie nie erlebt hatte … Sie sah Alex an. Er lag neben ihr, auf einen Ellenbogen gestützt, und wirkte äußerst zufrieden mit sich selbst.
„Du hast es nicht gekannt“, murmelte er. „Das ist wirklich außergewöhnlich.“
Joanna drehte sich auf die Seite und griff nach dem Bettüberwurf. Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, sich zu bedecken, um sich nicht so verwundbar zu zeigen. „Ich meinte nicht, dass …“, begann sie, aber er zog den Stoff weg, sodass sie wieder unverhüllt seinem Blick ausgesetzt war.
„Ich weiß, was du gemeint hast“, sagte er lächelnd. „Aber wir sind noch nicht fertig.“
Sie stöhnte leise auf, als er sich über sie schob und mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung tief in sie eindrang. Es war schon so lange her, und es hatte sich nie, niemals so angefühlt. Früher hatte sie es immer über sich ergehen lassen und darauf gewartet, dass es vorbei war. Mit Alex geriet sie sofort in denselben Strudel von Empfindungen wie zuvor. Verlangen durchströmte ihren Körper, heiß und verzehrend. Alex war so groß und füllte sie völlig aus, und doch sehnte sie sich danach, ihn noch tiefer in sich zu spüren. Atemlos wand sie sich unter ihm und krallte die Finger in den Bettüberwurf.
„Alex …“
Er küsste sie erneut und verfiel dann in einen Rhythmus, der sie geradewegs wieder in ekstatische Höhen katapultierte. Sie hob ihm die Hüften entgegen und hörte ihn aufstöhnen. Er hielt inne, und einen qualvollen Moment lang befand sie sich in der Schwebe, bis er den Kopf über ihre Brüste senkte, um an ihnen zu saugen. Gleichzeitig drang er noch einmal tief in sie ein, und dann wurde sie erneut von einem Wirbel der Gefühle mitgerissen, noch heftiger und atemberaubender als zuvor, und alles um sie herum versank in gleißendem weißem Licht. Sie hörte, wie Alex ihren Namen raunte, als er sich in ihr verströmte, und glaubte, nie etwas Süßeres gehört zu haben. Eng aneinandergeschmiegt und schwer atmend lagen sie da, sein harter Körper ganz dicht an ihrem weichen, beide schweißüberströmt. Schließlich strich Alex ihr das Haar aus dem Gesicht und küsste sie zart auf den Mund. Es war die zärtlichste Liebkosung, die sie je erlebt hatte. Sie fühlte sich restlos befriedigt und merkte, wie sie schläfrig wurde. Eigentlich hätte sie aufstehen und nach Hause gehen sollen, aber im Moment war sie zu glücklich, um sich bewegen zu können. Ehe sie sich versah, war sie eingeschlafen.
Ein paar Stunden später erwachte sie. Die Kerzen waren heruntergebrannt, und die Luft roch nach Talg. Joanna verspürte eine köstliche Trägheit, sie fühlte sich restlos zufrieden und vollkommen. Einen Moment lang drifteten ihre Gedanken ins Leere. Sie wusste nicht genau, wo sie war, aber es war ihr gleichgültig. Dann kehrte die Erinnerung zurück, und sie setzte sich ruckartig auf.
Ihr Blick fiel auf Alex. Er sah so jung und verwundbar aus, nicht streng und ernst wie sonst. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und ein Gefühl der Zärtlichkeit beschlich sie. Die Bettdecke war ihm bis zur Taille heruntergerutscht und enthüllte seine straffe, muskulöse Brust. Dunkle Bartstoppeln bedeckten seine Wangen und das Kinn; die Augen mit den langen schwarzen Wimpern waren geschlossen. Still saß Joanna da. Ein ungewohntes, erdrückendes Gefühl in ihrer Brust machte ihr das Atmen schwer. Es war nicht Erschrecken, Scham oder sonst ein Gefühl, das sie erwartet hätte, nachdem sie nackt im Bett eines Mannes aufgewacht war, den sie erst eine knappe Woche kannte. Es hatte auch nichts mit Angst vor der Zukunft oder Bedauern über die Vergangenheit zu tun. Sie wusste nicht, was es war, aber sie empfand es ausgerechnet für Alex Grant, und das machte ihr Angst. Tödliche Angst.
Es war nicht die Verliebtheit, die sie vor ihrer Hochzeit für David Ware empfunden hatte. Nicht einen Augenblick lang hatte sie für Alex dieses blinde, bedingungslose Bedürfnis nach Hingabe verspürt, mit dem sie David so offen und am Ende doch so vergeblich entgegengetreten war.
Ihr war klar, was Lottie sagen würde, wenn sie davon wüsste. Sie konnte beinahe Lotties Stimme hören: „Was du empfindest ist Dankbarkeit, Liebes, denn im Gegensatz zu David hat Alex sich ganz deinem Vergnügen im Bett gewidmet! Du hast einen neuen Zeitvertreib entdeckt und die Lust kennengelernt …“
Lottie, da war sie sich sicher, würde locker, respektlos und wahrscheinlich sehr, sehr eifersüchtig reagieren. Aber bloße Dankbarkeit oder Überraschung über etwas neu Entdecktes erklärte noch nicht Joannas Gefühle, und es war sicherlich das Beste, sich nicht allzu intensiv damit zu befassen. Manchmal hatte es Vorteile, oberflächlich zu sein.
Vorsichtig versuchte Joanna aufzustehen, ohne ihn zu wecken. Sie konnte ihre Kleidungsstücke überall auf dem Fußboden verstreut sehen. Das silberne Kleid würde nie wieder so werden wie zuvor, aber wenn sie die kleinen Perlmuttknöpfe aufsammelte, konnte Madame Ermine vielleicht noch etwas davon retten. Joanna würde sich natürlich eine Ausrede einfallen lassen müssen, wie es dazu gekommen war, dass alle Knöpfe abgerissen …
Alex hatte ihre Bewegung gespürt. Er streckte träge einen Arm aus und zog sie wieder neben sich ins Bett. Plötzlich geriet Joanna beinahe in Panik, ihre Gefühle drohten sie zu ersticken, und sie wollte nur noch fort. Alex hielt sie jedoch ganz fest.
„Also …“, sagte er. Seine Stimme klang belustigt, freundlich und warm. Joanna verspürte eine jähe Sehnsucht; sie wünschte sich diese Nähe, wusste aber, dass die nur eine Illusion war. „Haben wir ein Abkommen?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Joanna. „Haben wir eins?“
Sie sah, wie er lächelte. „Ich glaube schon. Ich werde dich heiraten und dich – und Nina – unter den Schutz meines Namens stellen. Im Gegenzug wirst du ihr, Merryn und auch Chessie, wenn du möchtest, ein Zuhause bieten. Und …“, er strich über ihren Bauch, und sie erschauerte, „…du wirst mir einen Erben für Balvenie schenken.“
Einen Moment lang glaubte Joanna, ihn nicht richtig verstanden zu haben, doch dann erstarrte sie. Plötzlich fiel ihr Devlins Bemerkung auf Lotties Ball wieder ein, dass es keinen Erben für Alex’ Besitztümer in Schottland gab. Bei all ihren Plänen für die Zukunft hatte sie das vollkommen übersehen. Auf ihre anfängliche Ungläubigkeit folgte eine so abgrundtiefe Verzweiflung, dass ihr beinahe schlecht wurde.
Alex bat sie um das Einzige, was sie ihm nicht geben konnte.
Die grausame Ironie dahinter schien sie zu verspotten. Das war etwas, das fast jede Frau für ihn tun konnte, nur sie nicht. Es war das Einzige, worum er sie bat, und sie war nicht imstande, ihm diese Bitte zu erfüllen.
Und er wusste es nicht.
Er wusste, dass sie und David heillos zerstritten gewesen waren und dass David sie gehasst hatte. Er wusste auch, dass David und sie keine Kinder gehabt hatten. Doch er ahnte nicht, dass das der Grund für ihre gegenseitige Entfremdung gewesen war. Schon an jenem ersten Abend im Ballsaal, als er sie gefragt hatte, was sie getan hatte, dass ihr Mann sie so gehasst hatte, wäre sie am liebsten mit der Wahrheit herausgeplatzt:
„In all den Jahren unserer Ehe habe ich versagt und ihm nicht den Erben geschenkt, den er sich wünschte; also hat er mich so lange geschlagen, bis er sicher sein konnte, dass ich niemals ein Kind bekommen würde …“
Aber von alldem hatte sie Alex nichts erzählt. Es war immer noch ihr Geheimnis.
„Von einem Erben hast du bisher gar nichts gesagt.“ Ihre Stimme klang gepresst, und er hielt einen Moment lang in seinen Liebkosungen inne.
„Nicht?“ Er wirkte aufrichtig überrascht. „Aber du wünschst dir doch Kinder?“
„Ich …“ Sie war kurz davor, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch dann dachte sie an Nina, das einzige Kind, das sie vielleicht jemals haben durfte, und Verzweiflung legte sich wie eine Schraubzwinge um ihr Herz. Wenn sie Alex’ Bedingungen jetzt zustimmte, würde sie ihn wissentlich der Chance auf den Erben berauben, den er sich so sehr wünschte. Sie würde ihn auf niederträchtigste Art und Weise betrügen und belügen, nur um ihre eigenen Bedürfnisse und die des Kindes ihres verstorbenen Mannes zu erfüllen. Doch ihr brennender Wunsch nach Mutterschaft war so machtvoll, dass er alle anderen Gefühle verdrängte. „Natürlich“, fuhr sie fort. „Ich habe mir immer Kinder gewünscht.“ Selbst in ihren Ohren hörte ihre Stimme sich rau an, verlogen, obwohl sie tatsächlich nur die Wahrheit sagte. „Niemand kann allerdings versprechen, einen Erben in die Welt zu setzen. Das liegt allein in Gottes Hand.“
Alex wird es niemals erfahren …
„Das stimmt.“ Alex lächelte. „Aber wir können uns alle Mühe geben, es zu versuchen.“ Er streichelte ihre Hüfte und küsste ihren Hals. Joanna erbebte, zum einen wegen seiner Liebkosungen, zum anderen wegen dieser ungeheuren Lüge, die darin bestand, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit gestanden hatte.
„Also“, murmelte er an ihrem Hals, „ist es abgemacht.“
Du kannst es dir immer noch anders überlegen …
Ihre innere Zerrissenheit, ihr Verlangen, ihre verzweifelte Sehnsucht nach einem Kind waren die reinste Folter für sie. Sie brauchte nur ein Wort zu sagen. „Ja“, hauchte sie leise.
Da beugte Alex sich über sie, und sie hörte auf zu denken, als er sie wieder in eine Welt voll dunkler Leidenschaft und Lust entführte.
Der Verrat war endgültig begangen.