Kapitel 13

»Amelia, was wirkt gegen Elfen?«, fragte ich. Ich hatte die ganze Nacht durchgeschlafen und fühlte mich wieder viel besser. Amelias Boss war nicht in der Stadt, und so hatte sie den Nachmittag frei.

»Meinst du etwas, das Elfen abwehrt?«, fragte sie zurück.

»Ja, oder ihren Tod herbeiführt«, erwiderte ich. »Was mir immer noch lieber wäre als selbst getötet zu werden. Ich muss mich verteidigen können.«

»Ich weiß nicht allzu viel über Elfen, weil sie so selten sind und so geheimnisumwoben«, sagte Amelia. »Ich war nicht mal sicher, ob sie überhaupt existieren, bis ich von deinem Urgroßvater hörte. Du brauchst so was wie ein Pfefferspray gegen Elfen, wie?«

Plötzlich kam mir eine Idee. »Ich habe ja schon etwas, Amelia!«, rief ich und war so glücklich wie schon seit Tagen nicht mehr. Ich sah ins Getränkefach der Kühlschranktür. Genau, dort stand eine Flasche ReaLemon. »Jetzt muss ich mir bei Wal-Mart nur noch eine Wasserpistole kaufen. Es ist zwar nicht Sommer, aber in der Spielwarenabteilung haben sie sicher welche.«

»Und das funktioniert?«

»Ja, eine allgemein wenig bekannte Tatsache aus der Welt der Supras. Schon allein der Kontakt mit Zitronenlimonade ist tödlich für Elfen. Und wenn sie davon trinken, geht's sogar noch schneller. Wenn man es hinkriegt, einem Elf das Zeug in den offenen Mund zu spritzen, hat man einen toten Elf.«

»Klingt, als würdest du echt in Schwierigkeiten stecken, Sookie.« Amelia hatte gelesen, doch jetzt legte sie ihr Buch auf den Tisch.

»Stimmt.«

»Willst du drüber reden?«

»Es ist kompliziert. Schwer zu erklären.«

»Danke, ich weiß, was kompliziert bedeutet.«

»Tut mir leid. Na ja, es könnte dich in Gefahr bringen, wenn du zu gut Bescheid weißt. Ob du mir helfen kannst? Wirken deine Zaubersprüche auch gegen Elfen?«

»Ich prüfe mal meine Quellen.« Wenn Amelia sich derart neunmalklug ausdrückte, hatte sie meist nicht den Schimmer einer Ahnung. »Wenn's nötig wird, rufe ich Octavia an.«

»Das wäre mir sehr recht. Und falls du irgendwelche Ingredienzen für dein Zaubergebräu brauchst, Geld spielt keine Rolle.« Ich hatte heute Morgen mit der Post einen Scheck von Sophie-Annes Vermögensverwalter erhalten. Mr Cataliades hatte den Betrag, den sie mir schuldete, locker gemacht. Ich würde heute Nachmittag zur Bank fahren, solange der Autoschalter geöffnet hatte.

Amelia holte tief Luft, hielt dann aber inne. Ich wartete. Da sie eine außerordentlich klare Senderin war, wusste ich, worüber sie reden wollte. Doch um unsere Freundschaft nicht zu strapazieren, wartete ich darauf, dass sie es selbst laut aussprach.

»Tray hat ein paar Freunde bei der Polizei - zwar nicht viele, aber immerhin. Und von denen hat er gehört, Whit und Arlene würden rundweg bestreiten, dass sie Crystal getötet haben. Die beiden ... Arlene sagt, sie wollten an dir ein Exempel statuieren, was Leuten passiert, die sich mit Supras abgeben. Und dass erst der Mord an Crystal sie auf diese Idee gebracht hätte.«

Meine gute Laune verpuffte mit einem Mal und eine düstere Stimmung legte sich über mich. Das Ganze laut ausgesprochen zu hören machte es noch umso schrecklicher. Mir fehlten einfach die Worte. »Hat Tray auch gehört, was den beiden blüht?«

»Kommt drauf an, wer auf Agentin Weiss geschossen hat. Wenn es Donny war - nun, der ist tot. Whit kann behaupten, dass auf ihn geschossen wurde und er deshalb das Feuer nur erwidert habe. Und er kann auch behaupten, dass er von einem Plan, dich zu töten, nichts weiß. Er hat bloß seine Freundin besucht und hatte zufällig einige Holzbalken auf der Ladefläche seines Pick-up.«

»Was ist mit Helen Ellis?«

»Die hat Andy Bellefleur erzählt, dass sie nur die Kinder abholen kam, weil ihre Schulzeugnisse so gut waren und sie ihnen versprochen hatte, sie dafür zu Sonic auf ein großes Eis einzuladen. Und ansonsten weiß sie natürlich von gar nichts.« Amelias Miene ließ größte Zweifel erkennen.

»Arlene ist also die Einzige, die redet.« Ich trocknete das Backblech ab. Ich hatte heute Morgen Kekse gebacken. Meine gute alte Back-Therapie, billig und lecker.

»Ja, aber sie könnte jeden Augenblick widerrufen. Sie war völlig aufgewühlt, als sie ihre Aussage machte, und wird es sich wohl noch mal überlegen. Aber vielleicht zu spät. Wir können zumindest drauf hoffen.«

Ich hatte recht gehabt, Arlene war der Schwachpunkt. »Hat sie einen Anwalt?«

»Ja. Sid Matt Lancaster konnte sie sich nicht leisten, also hat sie Melba Jennings angeheuert.«

»Geschickter Schachzug«, sagte ich nachdenklich. Melba Jennings war nur ein paar Jahre älter als ich und die einzige Afro-Amerikanerin in Bon Temps, die Jura studiert hatte. Sie trug stets eine harte Miene zur Schau und ging extrem auf Konfrontationskurs. Es hieß, andere Anwälte würden immer unglaubliche Umwege in Kauf nehmen, wenn sie Melba auf der Straße auf sich zukommen sahen. »So steht Arlene nicht ganz so als rassistische Fanatikerin da.«

»Ich glaube kaum, dass darauf jemand hereinfällt. Aber Melba ist ein echter Pitbullterrier.« Melba war im Auftrag von Klienten schon öfter in Amelias Versicherungsagentur aufgetaucht. »Ich gehe jetzt erst mal mein Bett machen«, sagte Amelia dann, stand auf und reckte sich. »Übrigens, Tray und ich gehen heute Abend in Clarice ins Kino. Willst du mitkommen?«

»Du versuchst in letzter Zeit öfter, mich in deine Verabredungen einzubeziehen. Langweilt Tray dich etwa schon?«

»Kein bisschen«, erwiderte Amelia leicht überrascht. »Im Gegenteil, ich finde ihn toll. Trays Freund Drake hat ihn gelöchert. Drake hat dich im Merlotte's gesehen und möchte dich gern kennenlernen.«

»Ist er ein Wergeschöpf?«

»Nur ein netter Kerl, der dich hübsch findet.«

»Mit regulären Männern gehe ich nicht aus«, sagte ich lächelnd. »Das ist noch nie sonderlich gut gelaufen.« Es war stets katastrophal »gelaufen«, um ehrlich zu sein. Es ist eben nicht so richtig lustig, wenn man immer weiß, was der Mann, mit dem man ausgeht, gerade über einen denkt.

Und außerdem gab's ja noch das Thema Eric und unsere Undefinierte, aber intime Beziehung.

»Halt ihn dir einfach warm. Er ist wirklich schnuckelig, und damit meine ich, heißer als ein Dampfbügeleisen.«

Nachdem Amelia die Treppe hinaufgestapft war, schenkte ich mir ein Glas Tee ein. Ich versuchte zu lesen, konnte mich aber nicht auf mein Buch konzentrieren. Schließlich legte ich ein Lesezeichen hinein und starrte Löcher in die Luft. Mir gingen so viele Gedanken durch den Kopf.

Wo Arlenes Kinder jetzt wohl sein mochten, fragte ich mich. Bei Arlenes alter Tante, die in Clarice wohnte? Oder immer noch bei Helen Ellis? Mochte Helen Arlene genug, um Coby und Lisa aufzunehmen?

Ich wurde das quälende Gefühl nicht los, dass ich es war, die die traurige Situation der Kinder zu verantworten hatte. Doch das war eins der Dinge, die ich einfach würde ertragen müssen. Die eigentlich Verantwortliche war Arlene. Ich konnte für ihre Kinder nichts tun.

Und als hätte mein Nachdenken über Kinder an einen Nerv im Universum gerührt, klingelte auf einmal das Telefon. Ich ging an den Wandapparat in der Küche und sagte ohne große Begeisterung: »Hallo.«

»Miss Stackhouse? Sookie?«

»Ja, am Apparat«, erwiderte ich höflich.

»Hier spricht Remy Savoy.«

Der Exehemann meiner verstorbenen Cousine Hadley und der Vater ihres Sohnes. »Wie schön, dass Sie anrufen. Wie geht's Hunter?« Hunter war ebenfalls ein mit »Talent« gesegnetes Kind, Gott schütze ihn. Und zwar mit dem gleichen »Talent« wie ich.

»Dem geht's gut. Äh, was diese Sache angeht.«

»Ja?« Wir würden also über Telepathie reden.

»Er wird bald Ihre Hilfe brauchen. Er kommt in den Kindergarten, und dort wird es bestimmt auffallen. Ich meine, es wird sicher eine Zeit lang dauern, aber früher oder später...«

»Ja, dort wird es bestimmt auffallen.« Ich wollte schon vorschlagen, dass Remy an meinem nächsten freien Tag Hunter zu mir bringen sollte oder dass ich zu ihnen nach Red Ditch kommen könnte. Doch dann erinnerte ich mich, dass ich ja das Ziel einer Gruppe amoklaufender Elfen war. Nicht der günstigste Zeitpunkt für den kleinen Kerl, mich zu besuchen. Und woher sollte ich wissen, dass die Elfen mich nicht bis zu Remy nach Hause verfolgen würden? Bislang wusste keiner von ihnen von Hunter. Nicht mal meinem Urgroßvater hatte ich von dessen besonderem Talent erzählt. Und wenn Niall selbst es nicht wusste, hatten es vielleicht auch seine Feinde nicht herausgefunden.

Im Großen und Ganzen sollte ich besser kein Risiko eingehen.

»Ich würde ihn wirklich gern wiedersehen und besser kennenlernen. Und ich verspreche auch, so gut zu helfen, wie ich kann«, erwiderte ich. »Doch im Moment ist es leider einfach nicht möglich. Aber es dauert ja noch eine Weile, bis der Kindergarten beginnt... vielleicht in einem Monat oder so?«

»Oh«, sagte Remy verdutzt. »Ich wollte ihn eigentlich gern an meinem freien Tag vorbeibringen.«

»Ich habe hier gerade einige Probleme zu lösen.« Falls es mir gelingen sollte, diese Probleme zu überleben ... doch genauer wollte ich mir das Ganze gar nicht vorstellen. Ich musste Remy eine glaubwürdige Ausrede präsentieren, und natürlich fiel mir eine ein. »Meine Schwägerin ist gerade gestorben«, erzählte ich ihm. »Kann ich Sie anrufen, wenn ich nicht mehr so beschäftigt bin mit den Details der...«Ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte. »Ich verspreche, dass es nicht lange dauern wird. Und wenn Sie nicht frei haben, kann Kristen ihn ja vielleicht herbringen.« Kristen war Remys Freundin.

»Nun, das ist Teil des Problems«, sagte Remy und klang etwas genervt, aber auch ein wenig belustigt. »Hunter hat zu Kristen gesagt, er weiß, dass sie ihn gar nicht lieb hat und dass sie aufhören soll, immer an seinen Daddy ohne Kleider an zu denken.«

Ich holte tief Luft und versuchte, nicht loszulachen, doch es gelang mir nicht. »Oh, Entschuldigung«, sagte ich. »Wie ist Kristen denn damit umgegangen?«

»Sie hat angefangen zu weinen. Und dann hat sie gesagt, dass sie mich zwar liebt, meinen Sohn aber für ein Monstrum hält, und ist gegangen.«

»Oje, schlimmer geht's kaum«, erwiderte ich. »Äh ... glauben Sie, dass Kristen anderen Leuten davon erzählen wird?«

»Könnte ich mir schon vorstellen.«

Das alles klang furchtbar vertraut: Es waren die Schemen meiner schmerzvollen Kindheit. »Remy, es ist nicht leicht.« Ich hatte Remy bei unserer kurzen Begegnung als einen netten Kerl kennengelernt, der seinen Sohn aufrichtig liebte. »Doch ich hab's auch irgendwie überlebt, falls Ihnen das ein wenig hilft.«

»Und Ihre Eltern, die auch?« In seiner Stimme schwang ein Lächeln mit, er meinte es nicht böse.

»Nein«, sagte ich. »Aber das hatte nichts mit mir zu tun. Sie sind eines Nachts auf dem Heimweg in einer Springflut ertrunken. Es hat in Strömen geregnet, die Sicht war miserabel, das Wasser war genauso schwarz wie die Straße, und sie sind einfach auf die Brücke gefahren und wurden weggespült.« Irgendwie summte es in meinem Kopf, wie eine Art Signal, dass dieser Gedanke wichtig war.

»Oh, das tut mir leid. Es sollte bloß ein Scherz sein.« Remy klang aufrichtig schockiert.

»Kein Problem. Es ist eben einfach passiert«, sagte ich in dem Ton, den man anschlug, wenn man vermeiden wollte, dass andere Leute zu viel Aufhebens von Gefühlen machten.

Wir beließen es dabei, dass ich ihn anrufen würde, wenn ich »mehr Zeit« hätte. (Was eigentlich hieß: »Wenn keiner mehr versucht, mich zu töten«, aber das sagte ich Remy natürlich nicht.) Ich legte auf und setzte mich auf den Stuhl am Küchentresen. Zum ersten Mal seit längerer Zeit dachte ich an den Tod meiner Eltern. Ich hatte einige Erinnerungen, doch diese war die traurigste. Jason war zehn gewesen und ich sieben, daher war mein eigenes Gedächtnis nicht allzu zuverlässig. Doch über die Jahre hinweg hatten wir oft darüber gesprochen, und meine Großmutter hatte mir die Geschichte viele Male erzählt, vor allem als sie älter wurde. Es war stets dieselbe gewesen: der strömende Regen, die Straße mit der Brücke, die über die niedrige Senke führte, in der der Bach floss, das schwarze Wasser ... und dann waren sie in der Dunkelheit weggespült worden. Der Wagen war am nächsten Tag gefunden worden, ihre Leichen erst ein, zwei Tage später.

Wie automatisch zog ich mich für die Arbeit um. Ich band mein Haar in einen extra festen Pferdeschwanz und befestigte auch jede lose Strähne noch mit Haargel. Als ich mir die Schuhe zuband, kam Amelia die Treppe heruntergeeilt und erzählte mir, dass sie ihre Hexenlehrbücher konsultiert habe.

»Nichts ist so tödlich für Elfen wie Eisen!«, rief sie mit Triumph im Gesicht, und ich wollte ihr die Freude nicht nehmen. Zitronen waren sogar noch besser, aber es war recht schwierig, einem Elf eine Zitrone anzudrehen, ohne dass er es bemerkte.

»Das weiß ich schon«, sagte ich und versuchte, nicht allzu deprimiert zu klingen. »Ich meine, vielen Dank für deine Mühe. Aber ich brauche etwas, womit ich sie außer Gefecht setzen kann.« Damit ich weglaufen konnte. Denn ich wusste nicht, ob ich es noch einmal ertragen würde, meine Auffahrt mit dem Gartenschlauch abzuspritzen.

Okay, wenn ich den Feind tötete, würde mir immerhin die Alternative erspart bleiben: dass ich selbst gefangen wurde und die Elfen mit mir nach Belieben verfahren konnten.

Amelia hatte sich schon für ihre Verabredung mit Tray herausgeputzt. Sie trug High Heels zu ihren Designerjeans, was ziemlich ungewöhnlich für sie war.

»Warum denn so hohe Absätze?«, fragte ich, und Amelia grinste, dass ihre strahlend weißen Zähne blitzten.

»Tray steht drauf«, sagte sie. »Mit und ohne Jeans. Du solltest erst mal sehen, was für Reizwäsche ich trage!«

»Erspar's mir.«

»Falls du nach der Arbeit noch zu uns stoßen willst, ist Drake sicher noch da. Er ist ernsthaft interessiert daran, dich kennenzulernen. Und er ist wirklich schnuckelig, auch wenn er vielleicht nicht ganz dein Typ ist.«

»Warum? Wie sieht dieser Drake denn aus?«, fragte ich nicht besonders neugierig.

»Das ist ja grad das Schräge. Er sieht fast aus wie dein Bruder.« Amelia sah mich fragend an. »Das findest du wohl eher abstoßend, hm?«

Mir wich alles Blut aus dem Kopf. Ich war aufgestanden, weil ich in die Stadt aufbrechen wollte, doch jetzt setzte ich mich abrupt wieder.

»Sookie? Was ist los? Sookie?« Ängstlich umschwirrte Amelia mich.

»Amelia«, krächzte ich, »du musst diesem Kerl aus dem Weg gehen. Ernsthaft. Du und Tray, trefft euch nicht mehr mit ihm. Und beantworte ihm um Gottes willen keine Fragen nach mir!«

Ihrer schuldbewussten Miene konnte ich entnehmen, dass sie schon so einige Fragen beantwortet hatte. Obwohl sie eine kluge Hexe war, erkannte Amelia es nicht immer, wenn Menschen keine echten Menschen waren. Und Tray konnte es offensichtlich auch nicht - obwohl der süßliche Duft, den sogar ein Halbelf verströmte, einen Werwolf hätte warnen müssen. Aber vielleicht konnte Dermot ja ebenso wie sein Vater, und mein Urgroßvater, seinen Duft überdecken.

»Wer ist dieser Drake?«, fragte Amelia. Sie hatte Angst, das war schon mal gut.

»Er ist...«Ich überlegte, wie ich die Erklärung am besten formulieren sollte. »Er will mich töten.«

»Hat das irgendwas mit dem Mord an Crystal zu tun?«

»Das glaube ich nicht.« Ich versuchte, vernünftig über diese Möglichkeit nachzudenken, doch mein Hirn verweigerte sich dieser Vorstellung einfach.

»Ich versteh's nicht!«, rief Amelia. »Da führen wir hier monatelang - na gut, wochenlang ein normales langweiliges Leben, und dann, wie aus heiterem Himmel, so was!« Sie warf die Arme in die Luft.

»Du kannst wieder nach New Orleans umziehen, wenn du möchtest«, sagte ich zögerlich. Amelia wusste natürlich, dass sie hier jederzeit ausziehen konnte. Ich wollte nur klarstellen, dass ich sie nicht in meine Schwierigkeiten hineinziehen wollte, solange sie sich nicht freiwillig in sie hineinziehen ließ. Sozusagen.

»Nein«, erwiderte sie entschlossen. »Mir gefällt's hier, und mein Haus in New Orleans ist sowieso noch nicht fertig renoviert.«

Das sagte sie immer. Was nicht heißen sollte, dass ich sie loswerden wollte. Aber ich verstand nicht, warum die Renovierung sich so lange hinzog. Ihr Vater war immerhin Bauunternehmer.

»Vermisst du New Orleans gar nicht?«

»Natürlich«, sagte Amelia. »Aber hier gefällt's mir eben. Mir gefallen meine beiden Zimmer oben, mir gefällt Tray und mir gefallen die kleinen Jobs, die mich über Wasser halten. Und außerdem gefällt mir - und zwar am allermeisten -, dass ich aus der Schusslinie meines Vaters heraus bin.« Amelia klopfte mir auf die Schulter. »Fahr zur Arbeit und mach dir keine Sorgen. Wenn mir bis morgen früh nichts eingefallen ist, ruf ich Octavia an. Und weil ich jetzt die Wahrheit über diesen Drake weiß, werde ich ihn einfach abblocken. Und Tray auch. Keiner kann so gut abblocken wie Tray.«

»Er ist sehr gefährlich, Amelia.« Das konnte ich meiner Mitbewohnerin gar nicht deutlich genug einschärfen.

»Ja, ja, schon kapiert«, erwiderte sie. »Aber du weißt ja, dass auch ich nicht ganz harmlos bin, und Tray Dawson kann's mit den besten Kämpfern aufnehmen.«

Wir umarmten uns, und ich erlaubte mir kurz, in Amelias Gedanken hineinzulesen. Sie waren voller Wärme, Tatendrang, Neugier und ... in die Zukunft gerichtet. Amelia Broadway grübelte nicht über die Vergangenheit. Zum Zeichen, dass sie mich loslassen würde, klopfte sie mir noch aufmunternd auf den Rücken, und dann gingen wir beide unserer Wege.

Ich fuhr zuerst zur Bank, dann zu Wal-Mart. Nach etwas Sucherei fand ich ein kleines Regal mit Wasserpistolen. Ich nahm einen Doppelpack der durchsichtigen Version, mit einer blauen und einer gelben. Wenn ich an die Grausamkeit und Macht der Elfen dachte und dann sah, dass es mich allein schon all meine Kräfte kostete, die beiden Wasserpistolen aus dieser verdammten Plastikhülle zu befreien, erschien mir meine Verteidigungsstrategie fast aberwitzig. Wirklich prima, ich war bewaffnet mit Wasserpistolen und einem Handspaten.

Ich versuchte, all die mich quälenden Sorgen einfach zu verdrängen. Es gab so vieles, über das ich nachdenken musste... doch da war auch diese große Angst. Herrje, es war wirklich an der Zeit, dass ich mir Amelia zum Vorbild nahm und in die Zukunft blickte. Was wollte ich heute Abend tun? Welche meiner Probleme konnte ich tatsächlich selbst lösen? Ich konnte mich beispielsweise im Merlotte's nach Hinweisen zum Mord an Crystal umhören, wie Jason mich gebeten hatte. (Das hätte ich sowieso getan, doch seit die Gefahr von allen Seiten heranrückte, schien es mir noch wichtiger zu sein, ihre Mörder aufzuspüren.) Ich konnte mich gegen Elfenangriffe wappnen, nach weiteren Fanatiker-Gangs der Bruderschaft Ausschau halten und versuchen, zu meiner Verteidigung Verbündete um mich zu scharen.

Immerhin stand ich unter dem Schutz des Werwolfrudels von Shreveport, weil ich ihnen geholfen hatte. Und ich stand auch unter dem Schutz des neuen Vampir-Regimes, weil ich dem König den Arsch gerettet hatte. Felipe de Castro wäre heute ein Häuflein Asche, wenn ich nicht gewesen wäre; und Eric übrigens auch, wenn ich schon dabei war. War jetzt nicht genau der richtige Zeitpunkt, um mal Gegenleistungen einzufordern?

Ich stieg auf dem Parkplatz vom Merlotte's aus dem Wagen und sah in den Himmel hinauf, doch es war bewölkt. Vor etwa einer Woche hatten wir Neumond, dachte ich. Aber es war auf jeden Fall schon völlig dunkel. Ich zog mein Handy aus der Handtasche. Eric hatte mir seine Handynummer auf eine seiner Visitenkarten gekritzelt, die er halb unter das Telefon auf meinem Nachttisch gesteckt hatte. Nach dem zweiten Klingeln ging er dran.

»Ja«, sagte er, und schon dieses eine Wort machte mir deutlich, dass er nicht allein war.

Ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken beim Klang seiner Stimme.

»Eric«, begann ich und wünschte, ich hätte mir einen Augenblick lang überlegt, wie ich meine Bitte formulieren sollte. »Der König hat gesagt, dass er mir noch etwas schuldet«, fuhr ich fort und bemerkte selbst, dass es ein wenig unvermittelt und dreist war. »Ich schwebe in echter Gefahr und dachte, er könnte mir vielleicht helfen.«

»Geht es um die Gefährdung, die deinen älteren Verwandten betrifft?« Ja, er hatte eindeutig andere Leute um sich.

»Ja. Der, äh, Feind hat versucht, Tray und Amelia zu überreden, mich ihm vorzustellen. Er scheint nicht zu wissen, dass ich ihn erkennen würde, oder vielleicht tut er auch nur so. Er steht auf Seiten jener Elfen, die strikt gegen Menschen eingestellt sind, dabei ist er selbst halb Mensch. Ich verstehe seine Haltung nicht.«

»Aha«, sagte Eric nach einer spürbaren Pause. »Es wird also Schutz benötigt.«

»Ja.«

»Und du bittest darum als... ?«

Hätte Eric seine eigenen Untergebenen um sich gehabt, hätte er sie hinausgeschickt und offen mit mir geredet. Weil er das aber nicht tat, waren vermutlich irgendwelche Vampire aus Nevada bei ihm: Sandy Sechrest, Victor Madden oder Felipe de Castro selbst - was eher unwahrscheinlich war. Castros sehr viel lukrativere geschäftliche Projekte in Nevada erforderten meistens seine Anwesenheit dort. Und dann begriff ich endlich, dass Eric mich gefragt hatte, ob ich als seine Bettgefährtin und »Ehefrau« um Schutz bat oder als jemand, in dessen Schuld er stand.

»Ich bitte darum als die Person, die Felipe de Castro das Leben gerettet hat.«

»Ich werde diese Petition Victor vorlegen, er ist zurzeit hier im Fangtasia«, sagte Eric ganz geschäftsmäßig. »Ich werde dich heute Nacht noch informieren.«

»Prima.« Und weil ich nicht vergessen hatte, wie extrem gut Vampire hören konnten, fügte ich noch hinzu: »Darüber würde ich mich sehr freuen, Eric«, so als wären Eric und ich nichts weiter als gute Bekannte.

Die Frage, was wir denn wirklich waren, verdrängte ich lieber. Und weil ich schon ein paar Minuten zu spät dran war, steckte ich mein Handy wieder ein und machte mich schleunigst an die Arbeit. Doch dank diesem Gespräch mit Eric sah ich meine Überlebenschancen schon wieder viel optimistischer.