Kapitel 11
Ich hätte wissen müssen, dass mein Bruder mich besuchen kommen würde. Erstaunlich war eigentlich nur, dass er nicht schon viel früher aufgetaucht war. Als ich am nächsten Tag mittags aufstand - entspannt wie eine Katze in der Sonne -, lag Jason draußen im Garten auf jener Liege, die ich gestern benutzt hatte. Immerhin war er klug genug gewesen, nicht einfach ins Haus zu kommen, dachte ich, vor allem wenn man berücksichtigte, wie zerstritten wir waren.
Heute war es nicht annähernd so warm wie gestern, sondern kalt und rau. Jason war in eine dicke Tarnjacke eingepackt und trug eine Wollmütze auf dem Kopf und starrte in den wolkenlosen Himmel hinauf.
Mir fiel natürlich gleich die Warnung der Zwillinge ein, und so überprüfte ich ihn sorgfältig. Aber nein, es war Jason, dies Hirnmuster war mir vertraut. Doch vielleicht konnten Elfen sogar so etwas imitieren. Ich las einen Moment lang seine Gedanken. Nein, das war eindeutig mein Bruder.Es war seltsam, ihn dort so müßig herumliegen zu sehen, und noch seltsamer, dass er allein war. Jason tat immer irgendwas: reden, trinken, mit Frauen flirten, arbeiten - in seinem Job oder an seinem Haus; und wenn er nicht mit einer Frau zusammen war, hatte er immer seinen männlichen Schatten dabei - Hoyt (bis Holly ihn sich geschnappt hatte) oder Mel. Grübeln und Einsamkeit waren keine Daseinsformen, die ich mit meinem Bruder in Verbindung brachte. Und während ich noch an meinem Kaffeebecher nippte und ihn da so in den Himmel starren sah, kam mir der Gedanke: Jason ist jetzt Witwer.
Das war eine schwierige, neue Rolle für Jason, eine so schwierige, dass er sie vielleicht nicht meistern würde. Er hatte Crystal mehr gemocht als sie ihn. Auch das eine neue Erfahrung für meinen Bruder. Crystal - hübsch, dumm und treulos - war sein weibliches Pendant gewesen. Vielleicht hatte sie mit ihrer Untreue nur versucht, sich ihrer Unabhängigkeit zu versichern und gegen die Schwangerschaft aufzubegehren, die sie noch fester an Jason band. Vielleicht aber war sie auch nur eine miese Schlampe gewesen. Ich hatte sie nie verstanden, und dabei würde es jetzt auch für immer bleiben.
Mir war klar, dass ich zu meinem Bruder gehen und mit ihm reden musste. Ich hatte ihm zwar gesagt, dass er sich von mir fernhalten solle, doch er hielt sich mal wieder nicht daran. Aber wann hatte er das je getan? Vielleicht hatte er den momentanen Waffenstillstand wegen Crystals Tod als das Zeichen einer neuen Ära zwischen uns angesehen.
Ich seufzte und ging zur Hintertür hinaus. Wenn ich so lange schlief, duschte ich immer, ehe ich Kaffee kochte. Meine alte hellrosa Wattejacke hing auf der Veranda am Haken neben der Tür, und so zog ich sie über meine Jeans und den Pullover.
Ich stellte einen Becher Kaffee neben Jason auf den Boden und setzte mich auf den Klappstuhl, der neben der Liege stand. Jason drehte den Kopf nicht, obwohl er wusste, dass ich gekommen war. Die Augen hatte er hinter dunklen Gläsern verborgen.
»Hast du mir verziehen?«, fragte er, nachdem er einen Schluck Kaffee getrunken hatte. Seine Stimme klang heiser und belegt. Es kam mir vor, als hätte er geweint.
»Das werde ich früher oder später wohl tun«, erwiderte ich. »Aber es wird zwischen uns nie mehr so sein wie vorher.«
»Gott, bist du hart geworden. Außer dir hab ich doch gar keine Familie mehr.« Die dunklen Gläser wandten sich mir zu. Du musst mir verzeihen, außer dir hab ich niemanden mehr, der mir verzeihen kann.
Ich sah ihn an, ein wenig genervt, ein wenig traurig. Falls ich wirklich härter wurde, dann nur in Reaktion auf die Welt um mich herum. »Wenn du mich so sehr brauchst, dann hättest du eben zweimal nachdenken müssen, bevor du mich so hereinlegst.« Ich rieb mir das Gesicht mit meiner freien Hand. Er hatte noch Familie, von der er gar nichts wusste, aber das würde ich ihm nicht erzählen. Er würde nur versuchen, auch Niall auszunutzen.
»Wann geben sie Crystals Leiche frei?«, fragte ich.
»In einer Woche vielleicht«, sagte er. »Dann können wir die Beerdigung organisieren. Kommst du?«
»Ja. Wo soll sie stattfinden?«
»Gleich bei Hotshot gibt's so 'ne Kapelle«, sagte er. »Fällt meist nicht weiter auf.«
»Das Tabernakel der Heiligen Kirche?« Es war ein marodes Gebäude draußen auf dem Land, von dem schon die weiße Farbe abblätterte.
Er nickte. »Calvin sagt, da machen sie die Beerdigungen von Hotshot immer. Einer der Typen aus Hotshot ist der Pastor da.«
»Wer?«
»Marvin Norris.«
Marvin war Calvins Onkel, obwohl er vier Jahre jünger war.
»Ja, ich erinnere mich, bei der Kapelle mal einen Friedhof gesehen zu haben.«
»Genau. Die Gemeinde schaufelt das Loch, einer hämmert den Sarg zusammen und einer hält den Trauergottesdienst. Ist alles richtig heimelig.«
»Warst du dort schon mal auf einer Beerdigung?«
»Ja, im Oktober. Als eins der Babys gestorben ist.«
In der Zeitung von Bon Temps war seit Monaten kein Tod eines Kindes aufgelistet gewesen. Ich fragte mich, ob das Baby im Krankenhaus oder in einem der Häuser in Hotshot zur Welt gekommen war; wenn überhaupt irgendeine Spur seiner Existenz verzeichnet worden war.
»Jason, hat die Polizei noch mal mit dir geredet?«
»Einmal? Hunderte Male. Aber ich hab's nicht getan, und nichts, was sie sagen oder fragen, kann daran was ändern. Außerdem hab ich ein Alibi.«
Das konnte ich nicht bestreiten.
»Und wie bist du mit deinem Boss verblieben?« Ich fragte mich, ob sie Jason feuern würden. Er steckte nicht zum ersten Mal in Schwierigkeiten. Jason hatte die schlimmen Verbrechen, derer er verdächtigt wurde, zwar nie begangen, aber früher oder später würde sein guter Ruf als netter Kerl ein für alle Mal ruiniert sein.
»Catfish hat gesagt, ich soll mal frei machen bis zur Beerdigung. Sie wollen 'nen Kranz ans Beerdigungsinstitut schicken, wenn wir ihre Leiche wiederhaben.«
»Was ist mit Hoyt?«
»Der hat sich nicht blicken lassen.« Jason klang selbst verwundert, aber auch verletzt.
Hoyts Verlobte Holly wollte nicht, dass er mit Jason herumhing. Und das konnte ich gut verstehen.
»Und Mel?«, fragte ich.
»Klar.« Jasons Miene hellte sich wieder auf. »Mel kommt vorbei. Gestern haben wir an seinem Pick-up geschraubt, und dies Wochenende wollen wir meine Küche streichen.« Jason lächelte mich an, doch nicht lange. »Ich mag Mel«, sagte er, »aber ich vermisse Hoyt.«
Das war eine der ehrlichsten Aussagen, die ich je von Jason gehört hatte.
»Hast du nicht irgendwas über all das gehört, Sookie?«, fragte Jason mich. »Du weißt schon - so wie du eben von Dingen hörst? Wenn du die Polizei in die richtige Richtung lenken könntest, würde sie rausfinden, wer meine Frau und mein Kind ermordet hat, und ich könnte wieder mein normales Leben führen.«
Ich war mir sicher, dass Jason nie wieder sein altes Leben führen würde. Aber das hätte er wohl selbst dann nicht verstanden, wenn ich es ihm buchstabiert hätte. Doch dann sah ich, was ihm in einem Moment echter Klarheit durch den Kopf ging. Jason konnte diese Gedanken zwar nicht in Worte fassen, doch er verstand durchaus. Er tat nur so, er tat mit aller Kraft so, als würde alles wieder werden wie früher... wenn er nur die drückende Last von Crystals Tod abstreifen könnte.
»Oder du erzählst es uns«, sagte er, »dann kümmern Calvin und ich uns drum.«
»Ich tue mein Bestes«, erwiderte ich. Was hätte ich auch sonst sagen sollen? Ich zog mich wieder aus Jasons Kopf zurück und schwor mir, dass ich mich nie mehr dorthin begeben würde.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, dann stand er auf. Vielleicht hatte er ja darauf gewartet, dass ich ihm anbot, ihm etwas zu Mittag zu kochen. »Dann geh ich mal wieder nach Hause«, sagte er.
»Tschüs.«
Nur einen Augenblick später hörte ich seinen Pick-up wegfahren. Ich ging wieder ins Haus und hängte meine Jacke dorthin, wo ich sie gefunden hatte.
Amelia hatte mir eine Nachricht an den Milchkarton im Kühlschrank geklebt. »Hey, Sexy!« hatte sie als Anrede gewählt. »Klang, als wärst du letzte Nacht nicht allein gewesen. Hab ich da etwa Vampirgeruch bemerkt? Um halb drei hat jedenfalls jemand die Hintertür zugezogen. Du solltest übrigens den Anrufbeantworter abhören, es sind Nachrichten für dich drauf.«
Die Amelia bereits abgehört hatte, weil das Licht nicht mehr blinkte. Ich drückte die Play-Taste.
»Sookie, hier ist Arlene. Es tut mir alles so leid. Willst du nicht mal vorbeikommen? Dann reden wir darüber. Ruf mich an.«
Ich starrte den Anrufbeantworter an, unschlüssig, was ich von dieser Nachricht halten sollte. Es war inzwischen ein paar Tage her, und Arlene hatte Zeit gehabt, ihren Abgang aus dem Merlotte's noch einmal zu überdenken. Sollte das etwa heißen, dass sie sich vom Gedankengut der Bruderschaft der Sonne abgesetzt hatte?
Es war noch eine weitere Nachricht gekommen, von Sam. »Sookie, kannst du heute etwas früher zur Arbeit kommen oder mich mal anrufen? Ich muss mit dir reden.«
Ich blickte auf die Uhr. Jetzt war es eins, meine Schicht begann erst um fünf. Ich rief im Merlotte's an. Sam hob ab.
»Hey, ich bin's, Sookie«, sagte ich. »Was ist los? Ich habe gerade deine Nachricht abgehört.«
»Arlene möchte ihren Job wiederhaben«, begann er. »Und ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Hast du eine Meinung dazu?«
»Sie hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie will mit mir reden«, erwiderte ich. »Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Ständig kommt sie mit was Neuem daher, nicht? Glaubst du, sie hat die Bruderschaft sausen lassen?«
»Nur wenn Whit sie hat sausen lassen«, erwiderte Sam, und ich lachte.
Ich war mir nicht sicher, ob ich die Freundschaft mit Arlene erneuern wollte, und je länger ich darüber nachdachte, desto stärker bezweifelte ich es. Arlene hatte ein paar verletzende und fürchterliche Sachen zu mir gesagt. Wenn sie das alles so gemeint hatte, warum wollte sie sich dann mit einer Person wie mir wieder vertragen? Und wenn sie es nicht so gemeint hatte, warum waren ihr diese Worte dann überhaupt über die Lippen gekommen? Es versetzte mir nur einen Stich, wenn ich an ihre Kinder Coby und Lisa dachte. Ich hatte so viele Abende auf sie aufgepasst und mochte sie wirklich gem. Und jetzt hatte ich sie schon seit Wochen nicht gesehen. Nein, ich war nicht richtig traurig über das Ende der Freundschaft mit ihrer Mutter - Arlene hatte diese Freundschaft schon seit längerer Zeit auf eine harte Probe gestellt. Aber die Kinder vermisste ich. Und das sagte ich auch zu Sam.
»Du bist zu gut, chère«, sagte er. »Ich glaube, ich will sie nicht wieder einstellen.« Er hatte sich eine Meinung gebildet. »Sie findet hoffentlich auch woanders einen Job, und um ihrer Kinder willen werde ich ihr ein gutes Zeugnis ausstellen. Sie hat schon vor diesem letzten Auftritt Ärger gemacht, und es gibt keinen Grund, warum wir alle uns durch die Mangel drehen lassen sollten.«
Ich hatte kaum aufgelegt, da merkte ich, dass Sams Entscheidung mich zugunsten meiner einstigen Freundin beeinflusst hatte. Arlene und ich würden keine Gelegenheit mehr haben, unseren Streit nach und nach bei der Arbeit beizulegen. Doch ich wollte die Dinge wenigstens so weit wieder hinbiegen, dass wir uns mit einem Nicken grüßen konnten, wenn wir uns mal im Wal-Mart über den Weg liefen.
Sie nahm schon nach dem ersten Klingeln ab. »Arlene, hier ist Sookie.«
»Hey, Süße, ich bin so froh, dass du anrufst«, sagte sie. Dann herrschte einen Augenblick lang Schweigen.
»Ich wollte kurz bei dir vorbeikommen«, begann ich verlegen, »um die Kinder zu sehen und auch um mit dir zu reden. Wenn das okay ist.«
»Aber sicher, komm vorbei. Nur gib mir ein paar Minuten Zeit, damit ich die größte Unordnung beseitigen kann.«
»Für mich brauchst du nicht aufzuräumen.« Ich hatte Arlenes Wohnwagen oft selbst geputzt, als Gegenleistung für einen Gefallen, den sie mir getan hatte, oder weil ich nichts anderes zu tun hatte, wenn sie ausgegangen war und ich als Babysitter für die Kinder dort war.
»Ich will nicht wieder in meine alten Gewohnheiten verfallen«, sagte sie fröhlich, und es klang so liebevoll, dass mir das Herz aufging... etwa einen Lidschlag lang.
Doch ich wartete keine einzige Minute.
Ich fuhr sofort los.
Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich nicht tat, worum sie mich gebeten hatte. Vielleicht hatte ich etwas aus Arlenes Stimme herausgehört, sogar am Telefon. Vielleicht erinnerte ich mich aber auch nur daran, wie oft sie mich enttäuscht und bei wie vielen Gelegenheiten sie mich regelrecht niedergemacht hatte.
Ich hatte mir vermutlich noch nie erlaubt, über diese Vorfälle nachzudenken, weil sie mich in einem so kolossal erbärmlichen Licht zeigten. Ich hatte so händeringend nach einer Freundin gesucht, dass ich mich sogar mit den Krumen von Arlenes Tisch zufriedengab, obwohl sie mich ein ums andere Mal ausnutzte. Und als sie ihr Liebesglück zufällig bei einem Fanatiker fand, hatte sie kein zweites Mal überlegt, ehe sie mich zugunsten ihrer neuesten Flamme ausrangierte.
Je länger ich darüber nachdachte, desto größer wurde mein Wunsch, einfach wieder umzudrehen und nach Hause zu fahren. Aber schuldete ich nicht zumindest Coby und Lisa noch einen weiteren Versuch, mein Verhältnis zu ihrer Mutter wieder zu kitten? Ich dachte an all die Brettspiele, die wir gespielt hatten, an all die Abende, an denen ich sie zu Bett brachte und auch selbst im Wohnwagen schlief, weil Arlene angerufen und gefragt hatte, ob sie über Nacht wegbleiben könnte.
Was verdammt noch mal tat ich hier? Warum vertraute ich Arlene jetzt?
Ich vertraute ihr nicht, nicht vollständig. Deshalb wollte ich der Sache ja gerade auf den Grund gehen.
Arlene wohnte nicht in einem Wohnwagenpark, sondern auf einem halben Hektar Land etwas westlich von Bon Temps, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Nur ein Viertel des Grundstücks war kultiviert, gerade genug für den Wohnwagen und einen kleinen Garten. Dort stand am hinteren Ende eine alte Schaukel, die einer von Arlenes Verehrern mal für die Kinder aufgestellt hatte, und hinten am Wohnwagen lehnten zwei Fahrräder.
Ich sah auf das rückwärtige Ende des Wohnwagens, weil ich schon auf das verwilderte Grundstück vor dem von Arlene von der Straße abgebogen war. Das Haus der Nachbarn war wegen schlecht verlegter elektrischer Leitungen vor einigen Monaten abgebrannt und stand seitdem als halb verkohlte und verlassene Ruine da. Seine früheren Mieter wohnten längst woanders. Es gelang mir, direkt hinter diesem Haus zu parken, da das Unkraut sich aufgrund des kalten Wetters noch nicht hemmungslos hatte ausbreiten können.
Ich nahm den überwucherten Pfad, der dieses Haus von Arlenes Wohnwagen trennte. Nachdem ich mich durch das dichteste Gebüsch gekämpft hatte, kam ich an eine Stelle, von der ich einen guten Blick auf einen Teil der Parkplätze vor und auf alle hinter dem Wohnwagen hatte. Von der Straße her war nur Arlenes Auto zu sehen, weil sie vorne geparkt hatte.
Hinter dem Wohnwagen standen ein etwa zehn Jahre alter schwarzer Ford Ranger Pick-up und ein roter Buick Skylark, der ungefähr genauso alt war. Der Pick-up war schwer mit Holzbalken beladen, von denen einer so lang war, dass er weit über die Ladefläche hinausragte. Er war etwa zehn mal zehn Zentimeter dick, schätzte ich.
Während ich mir das alles ansah, trat aus der hinteren Tür des Wohnwagens eine mir nicht näher bekannte Frau auf die kleine Terrasse. Sie hieß Helen Ellis und hatte vor etwa vier Jahren im Merlotte's gearbeitet. Helen war zwar gut gewesen in ihrem Job und so schön, dass sie die Männer wie Fliegen angezogen hatte, doch Sam hatte sie wegen wiederholten Zuspätkommens feuern müssen. Worüber Helen todunglücklich gewesen war. Lisa und Coby folgten ihr auf die Terrasse. Arlene stand in der Tür, in einem Top mit Leopardenmuster und braunen Stretchhosen.
Wie die Kinder sich verändert hatten seit unserer letzten Begegnung, sie waren so viel älter geworden! Sie sträubten sich gegen irgendetwas und wirkten ein wenig unglücklich, vor allem Coby. Helen lächelte ihnen aufmunternd zu, drehte sich dann zu Arlene um und sagte: »Meld dich einfach, wenn's vorbei ist!« Es folgte eine kurze Pause, weil Helen nicht wusste, wie sie sich ausdrücken sollte, damit die Kinder sie nicht verstanden. »Sie kriegt bloß, was sie verdient.« Ich konnte Helen nur im Profil sehen, doch ihr fröhliches Lächeln verursachte mir Übelkeit. Ich schluckte schwer.
»Okay, Helen. Ich ruf dich an, wenn du sie zurückbringen kannst«, sagte Arlene. Hinter ihr stand ein Mann. Er stand zu weit im Wohnwagen drin, als dass ich ihn genau hätte erkennen können. Aber ich hielt ihn für den Mann, dem ich vor einiger Zeit ein Tablett auf den Kopf gedonnert hatte, der Mann, der sich Pam und Amelia gegenüber so miserabel verhalten hatte. Er war einer von Arlenes neuen Freunden.
Helen und die Kinder fuhren in dem Buick Skylark weg.
Es war ein kühler Tag, und so machte Arlene die hintere Tür wieder zu. Ich schloss die Augen und lokalisierte sie im Inneren des Wohnwagens. Es waren sogar zwei
Männer bei ihr, stellte ich fest. Woran dachten sie? Ich war relativ weit weg, doch mein besonderes Talent funktionierte auch auf diese Entfernung noch.
Sie dachten daran, mir etwas Schreckliches anzutun.
Ich verkroch mich unter einen kahlen Mimosenstrauch, so niedergeschlagen und unglücklich wie selten. Zugegeben, ich wusste schon seit einiger Zeit, dass Arlene kein richtig guter oder gar zuverlässiger Mensch war. Zugegeben, ich hatte sie im Eifer darüber schwadronieren hören, dass alle Supras auf der Welt ausgerottet werden müssten. Zugegeben, mir war aufgefallen, dass sie dazu übergegangen war, auch in mir eine Übernatürliche zu sehen. Aber ich hätte nie im Leben geglaubt, dass Arlene ihre wie auch immer verkorkste Freundschaft mit mir so vollständig vergessen könnte unter dem Einfluss der Hassparolen der Bruderschaft der Sonne.
Ich zog das Handy aus der Tasche und rief Andy Bellefleur an.
»Bellefleur«, sagte er forsch.
Man konnte uns zwar kaum Freunde nennen, aber ich war froh, seine Stimme zu hören.
»Andy, Sookie hier«, sagte ich und bemühte mich, leise zu sprechen. »Hör zu, da sind zwei Typen bei Arlene in ihrem Wohnwagen, und auf der Ladefläche ihres Pick-up liegt ein besonders langer Holzbalken. Sie ahnen nicht, dass ich von ihrem Besuch bei Arlene weiß. Sie haben vor, mir das Gleiche anzutun wie Crystal.«
»Hast du irgendetwas in der Hand, das vor Gericht standhält?«, fragte er vorsichtig. Andy hat insgeheim immer an meine telepathischen Fähigkeiten geglaubt, auch wenn das nicht unbedingt hieß, dass er ein Fan von mir war.
»Nein«, erwiderte ich, »sie warten darauf, dass ich Arlene besuchen komme.« Ich kroch noch weiter unter den Strauch und konnte nur hoffen, dass sie nicht aus dem hinteren Fenster sahen. Auf der Ladefläche des Pick-up lag auch eine Kiste mit extralangen Nägeln. Ich musste einen Augenblick lang die Augen schließen, so sehr packte mich das Entsetzen.
»Weiss und Lattesta sind bei mir«, sagte Andy. »Würdest du zu denen reingehen, wenn du wüsstest, dass wir dir Rückendeckung geben?«
»Sicher«, erwiderte ich, obwohl ich es keineswegs war. Ich wusste einfach, dass ich es tun musste. Es könnte allen schwelenden Gerüchten um Jason ein Ende bereiten. Es könnte zur Vergeltung oder zumindest zur Bestrafung des Mordes an Crystal und ihrem Baby führen. Und es könnte dafür sorgen, dass wenigstens ein paar dieser fanatischen Sonnenbrüder hinter Gittern landeten und dem Rest eine Lektion erteilt wurde. »Wo bist du?«, fragte ich vor Angst zitternd.
»Im Auto, wir sind auf dem Weg zum Motel. In sieben Minuten können wir bei dir sein«, sagte Andy.
»Ich habe hinter dem Haus der Freer geparkt«, sagte ich. »Ich muss jetzt auflegen. Da kommt jemand aus der Hintertür des Wohnwagens.«
Whit Spradlin und sein Kumpan, an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte, gingen die Stufen hinunter und luden einige Holzbalken vom Pick-up. Die Teile waren bereits auf die richtige Länge zurechtgeschnitten. Whit drehte sich zum Wohnwagen um und rief etwas, und Arlene öffnete die Tür und kam auch heraus, mit der Handtasche über der Schulter. Sie ging auf die Fahrerkabine des Pick-up zu.
Herrgott, sie wollte einsteigen und wegfahren, während ihr eigener Wagen vorne parkte, so als wäre sie zu Hause! In diesem Moment erstarb auch der letzte Funke Freundschaft in mir, den ich für sie noch gehabt haben mochte. Ich sah auf meine Armbanduhr. Noch etwa drei Minuten, bis Andy kam.
Sie gab Whit einen Kuss und winkte dem anderen Mann zu, und dann verschwanden die beiden wieder im Wohnwagen, damit ich sie nicht sehen würde. Ihrem Plan zufolge würde ich von vorne kommen, an die Tür klopfen, und dann würde einer von ihnen mir öffnen und mich hineinzerren.
Und das wär's dann für mich.
Arlene öffnete die Tür des Pick-up, die Autoschlüssel in der Hand.
Arlene musste bleiben. Arlene war die Schwachstelle. Das erkannte ich mit all meinen Sinnen - verstandesmäßig, emotional und telepathisch.
Es würde schrecklich werden. Ich riss mich zusammen.
»Hi, Arlene«, rief ich, als ich aus meinem Versteck aufsprang.
Kreischend fuhr sie herum. »Jesus Christus, Sookie, was tust du denn in meinem Garten?« Sie machte ein großes Getue darum, sich wieder einzukriegen. Ihre Gedanken beherrschte ein Gewirr aus Wut, Angst und Schuldgefühl. Und Bedauern. Ja, das war auch darunter, ehrlich.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte ich und hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Aber ich hatte sie schon wieder etwas beruhigt. Vielleicht würde ich sie körperlich angehen müssen. Die beiden Männer im Wohnwagen hatten mein plötzliches Erscheinen nicht bemerkt, doch es würde nicht mehr lange dauern, falls ich nicht unsagbares Glück hatte. Und eine Glückssträhne hatte ich zuletzt ja wahrlich nicht gehabt, ganz zu schweigen von unsagbarem Glück.
Arlene stand einfach da, die Autoschlüssel in der Hand. Es war ganz leicht, in ihren Gedanken herumzuwühlen und die schreckliche Geschichte zu lesen, die sich dort verbarg.
»Was tust du denn, willst du etwa wegfahren, Arlene?« Ich bemühte mich, leise zu sprechen. »Du solltest doch im Wohnwagen sitzen und auf mich warten.«
Sie verstand alles, und sie schloss die Augen. Schuldig, schuldig, schuldig. Arlene hatte versucht, sich in eine innere Welt zurückzuziehen und das Vorhaben der Männer zu leugnen, damit sie es nicht an sich heranlassen musste. Doch das hatte nicht funktioniert - und trotzdem hatte sie heute diesen Verrat an mir begangen. Arlene war völlig bloßgestellt.
»Du steckst zu tief drin«, sagte ich mit einer völlig sachlichen Stimme, die mir selbst ganz fremd war. »Das wird keiner verstehen oder verzeihen.« Arlenes Augen weiteten sich vor Schreck, weil sie wusste, dass meine Worte nur allzu wahr waren.
Doch ich bekam noch einen eigenen Schreck. Denn auf einmal wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass weder Arlene noch diese beiden Männer Crystal getötet hatten. Sie waren Trittbrettfahrer, die Crystals Kreuzigung nachahmen wollten, weil sie es für eine großartige Idee hielten, für eine markante Meinungsäußerung zur Großen Offenbarung der Wergeschöpfe. Sie wussten, dass ich keine Gestaltwandlerin war, hatten mich aber trotzdem als Opferlamm ausgewählt, gerade weil ich nur Sympathisantin der Gestaltwandler war und mich deshalb nicht so vehement wehren könnte wie ein zweigestaltiges Geschöpf. Dazu war ich ihrer Meinung nach einfach nicht stark genug. Unfassbar, oder?
»Du bist wirklich armselig«, sagte ich zu Arlene. Ich konnte anscheinend gar nicht mehr aufhören, auch wenn meine Stimme völlig sachlich blieb. »Du hast dir in deinem ganzen Leben noch kein einziges Mal die Wahrheit eingestanden, stimmt's? Du siehst dich immer noch als hübsches, junges Ding von fünfundzwanzig und glaubst, eines Tages kommt ein Mann vorbei und sieht genau das in dir. Jemand, der für dich sorgt, so dass du nicht mehr arbeiten musst, und der deine Kinder auf eine Privatschule schickt, wo sie nur noch mit ihresgleichen umgehen müssen. Das wird nie geschehen, Arlene. Denn das hier ist dein Leben.« Und mit einer ausholenden Armbewegung wies ich auf den Wohnwagen inmitten des ungepflegten Gartens und auf den alten Pick-up. Es war das Gemeinste, was ich je gesagt hatte, doch jedes Wort davon entsprach der Wahrheit.
Und Arlene schrie. Sie schien gar nicht mehr aufhören zu können. Ich sah ihr in die Augen. Sie versuchte, meinem Blick auszuweichen, doch es gelang ihr nicht. »Du Hexe!«, schluchzte sie. »Du bist eine Hexe. Die gibt's wirklich, und du bist eine von denen!«
Hätte sie nur recht gehabt, dann hätte ich verhindern können, was als Nächstes geschah.
In diesem Augenblick bog Andys Wagen auf das Grundstück der Freer, genau wie meiner zuvor. Soweit er wusste, war noch Zeit genug, um sich an den Wohnwagen anzuschleichen. Ich hörte den Wagen mehr oder weniger in meinem Rücken, denn ich hatte mich völlig auf Arlene und die Hintertür des Wohnwagens konzentriert. Und Weiss, Lattesta und Andy tauchten genau in dem Moment hinter mir auf, als Whit und sein Freund mit Gewehren in der Hand aus der Wohnwagentür stürmten.
Arlene und ich standen zwischen zwei bewaffneten Lagern. Ich spürte den Sonnenschein auf meinen Armen. Ein kühler Windstoß hob mein Haar und wehte mir eine verspielte Locke ins Gesicht. Über Arlenes Schulter hinweg sah ich das Gesicht von Whits Freund, und jetzt erinnerte ich mich doch noch daran, dass er Donny Boling hieß. Er hatte einen frischen Haarschnitt. Das erkannte ich an dem Zentimeter hellerer Haut in seinem Nacken. Er trug ein T-Shirt vom Orville-Baumarkt mit einer aufgedruckten Baumstumpffräse. Seine Augen waren schlammbraun. Und er zielte auf Agentin Weiss.
»Sie hat Kinder«, rief ich. »Nicht schießen!«
Donnys Augen weiteten sich vor Schreck.
Dann schwenkte er den Gewehrlauf auf mich. Erschieß ich eben die, dachte er.
Ich warf mich zu Boden, als das Gewehr losging.
»Waffen fallen lassen!«, schrie Lattesta. »FBI!«
Aber das taten die beiden nicht. Ich glaube, sie haben seine Worte nicht mal wahrgenommen.
Also schoss Lattesta. Und man konnte nicht sagen, dass er sie nicht gewarnt hätte.