Kapitel 6
In dem Moment, als ihr die Nägel aus Händen und Füßen gezogen wurden, nahm Crystals Körper wieder vollständig Menschengestalt an. Wie alle vor Ort sah auch ich gebannt vor Entsetzen vom Absperrband aus zu, als die Leiche vom Kreuz genommen wurde. Selbst Alcee Beck zuckte zusammen. Ich wartete schon seit Stunden. Inzwischen hatte ich alle Zeitungen zweimal und ein Taschenbuch aus dem Handschuhfach meines Autos zu einem Drittel gelesen und mich auch noch höflich mit Tanya über Sams Mutter unterhalten. Nachdem wir diese Neuigkeiten ausgetauscht hatten, sprach sie hauptsächlich über Calvin. Ich glaube, sie war bei ihm eingezogen. Tanya hatte eine Teilzeitstelle in der Verwaltung von Norcross bekommen, irgendeinen Bürojob. Die geregelten Arbeitszeiten gefielen ihr. »Und ich muss nicht den ganzen Tag auf den Beinen sein«, fügte sie hinzu.
»Klingt gut«, sagte ich höflich, obwohl ich die Art von Job hassen würde. Jeden Tag mit denselben Leuten arbeiten? Ich würde sie alle viel zu gut kennenlernen, weil ich mich nicht aus ihren Gedanken raushalten könnte, und würde sehr schnell nur noch weg wollen von ihnen, eben weil ich sie viel zu gut kannte. Ins Merlotte's kamen immer wieder andere Gäste, so dass ich genug Ablenkung hatte.
»Wie ist die Große Offenbarung für dich gelaufen?«, fragte ich.
»Ich habe es meinen Kollegen bei Norcross am nächsten Tag gesagt«, erzählte Tanya. »Sie fanden es vor allem lustig, als sie hörten, dass ich eine Werfüchsin bin.« Tanya wirkte empört. »Wieso stehen nur die großen Tiere so gut da? Calvins Arbeitsteam in der Fabrik hat ihm große Achtung entgegengebracht. Und bei mir machen sie Witze über buschige Schweife.«
»Nicht gerade fair«, entgegnete ich und versuchte, mir mein Lächeln zu verkneifen.
»Calvin ist vollkommen fertig wegen Crystal«, sagte Tanya plötzlich. »Sie war seine Lieblingsnichte, und es tat ihm furchtbar leid, als sich herausstellte, wie schwer ihr die Verwandlung fiel. Und das mit den Babys.« Crystal, ein Kind generationenwährender Inzucht, hatte immer ewig gebraucht, um ihre Panthergestalt anzunehmen und sich danach wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln. Und sie hatte auch schon mehrere Fehlgeburten gehabt. Ihr war überhaupt nur deshalb erlaubt worden, Jason zu heiraten, weil offensichtlich war, dass sie nie ein vollblütiges Baby würde austragen können.
»Könnte sein, dass sie auch dieses Baby schon vor dem Mord verloren hatte, oder sie erlitt während der Tat eine Fehlgeburt«, sagte ich. »Vielleicht wusste - wer immer es getan hat - nichts von ihrer Schwangerschaft.«
»Man sah es, aber es fiel nicht sehr auf.« Tanya nickte. »Sie war sehr wählerisch mit dem Essen, weil sie ihre Figur behalten wollte.« Sie schüttelte den Kopf, die Miene bitter. »Mal ehrlich, Sookie, macht es wirklich einen Unterschied, ob der Mörder es wusste oder nicht? Das Endergebnis ist dasselbe. Das Baby ist tot und Crystal auch, und sie starb voller Angst und ganz allein.«
Tanya hatte absolut recht.
»Glaubst du, Calvin kann am Geruch erkennen, wer das getan hat?«, fragte ich.
Tanya wirkte unsicher. »Es sind sicher viele Gerüche an der Leiche. Ich weiß nicht, wie er herausfinden will, welche Fährte die richtige ist. Sieh's dir an, so viele Leute berühren sie. Einige tragen zwar Gummihandschuhe, aber die haben auch einen Eigengeruch. Und da, sogar Mitch Norris hilft, sie herunterzuholen, und er ist einer von uns. Wie will Calvin also was erkennen?«
»Es könnte natürlich auch einer von ihnen gewesen sein.« Ich nickte zu den Leuten hinüber, die jetzt um die Leiche herumstanden. Tanya sah mich scharf an.
»Du meinst, die Polizei weiß schon etwas?«, fragte sie. »Hast du etwas gehört?«
»Nein«, erwiderte ich. Herrje, wieso konnte ich meine große Klappe nicht halten? »Es ist bloß ... keiner weiß irgendwas Genaues. Ich dachte eben nur an Dove Beck.«
»Der, mit dem Crystal im Bett erwischt wurde?«
Ich nickte. »Siehst du den großen Typen, den da - den Schwarzen im Anzug. Das ist sein Cousin Alcee.«
»Glaubst du, er könnte etwas damit zu tun haben?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte ich. »Es ist... reine Spekulation.«
»Ich könnte wetten, dass Calvin daran auch schon gedacht hat«, sagte Tanya. »Calvin ist ziemlich clever.«
Ich nickte. Calvin stach nie besonders heraus und war nicht aufs College gegangen (ich übrigens auch nicht), aber mit seinem Verstand stimmte alles.
Dann winkte Sheriff Bud Dearborn Calvin heran. Er stieg aus seinem Pick-up und ging zu der Leiche hinüber, die in einem offenen Leichensack auf eine Bahre gelegt worden war. Calvin näherte sich der toten Crystal sehr vorsichtig, die Hände hinterm Rücken verschränkt, um die Leiche ja nicht zu berühren.
Wir sahen alle zu, einige mit Abscheu und Ekel, andere gleichgültig oder interessiert, bis er fertig war.
Dann richtete er sich auf, drehte sich um und ging zu seinem Pick-up zurück. Tanya stieg aus meinem Wagen aus, trat auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Sie sah ihm ins Gesicht. Er schüttelte den Kopf. Ich kurbelte mein Fenster herunter und hörte, wie er sagte: »Ich konnte nicht viel erkennen. Zu viele andere Gerüche. Sie riecht einfach nur wie ein toter Panther.«
»Lass uns nach Hause fahren, Calvin«, bat Tanya.
»Okay.« Sie hoben beide eine Hand zum Abschied, und dann war ich allein auf dem Parkplatz vor dem Merlotte's und wartete immer noch. Bud Dearborn bat mich, ihm den Eingang für Angestellte zu öffnen, und ich gab ihm die Schlüssel. Nach ein paar Minuten kam er wieder und erzählte mir, dass die Vordertür fest verschlossen gewesen sei und es kein Anzeichen dafür gebe, dass irgendwer in der Bar war, seit sie gestern Abend geschlossen wurde. Er gab mir die Schlüssel zurück.
»Kann ich das Merlotte's also öffnen?«, fragte ich. Ein paar Polizeiwagen waren schon abgefahren, die Leiche war abtransportiert und die Ermittlungen schienen abgeschlossen zu sein. Ich war bereit, noch eine Weile abzuwarten, wenn ich bald ins Haus hinein dürfte.
Doch weil Bud mir sagte, dass es noch weitere zwei oder drei Stunden dauern könnte, beschloss ich, nach Hause zu fahren. Ich hatte mit allen Angestellten gesprochen, die ich erreichen konnte, und die Leute würden bestimmt am Absperrband auf dem Parkplatz erkennen, dass das Merlotte's geschlossen war. Ich verschwendete hier nur meine Zeit. Und meine beiden FBI-Agenten, die stundenlang mit ihren Handys am Ohr herumgerannt waren, schienen sich mittlerweile mehr für dieses Verbrechen als für mich zu interessieren - was natürlich großartig war. Vielleicht würden sie mich ganz vergessen.
Weil also sowieso allen egal war, was ich tat, startete ich meinen Wagen und fuhr davon. Die Nerven, unterwegs noch Besorgungen zu machen, hatte ich allerdings nicht. Ich fuhr direkt nach Hause.
Amelia war schon lange weg, weil sie zur Arbeit in die Versicherungsagentur musste, doch Octavia war da. Sie hatte in ihrem Zimmer das Bügelbrett aufgestellt und plättete den Saum einer Hose, die sie gerade kürzer gemacht hatte. Und ein Berg Blusen wartete auch noch. Einen Zauberspruch, mit dem man die Bügelwäsche erledigen konnte, gab's vermutlich nicht. Ich bot Octavia an, sie in die Stadt zu fahren, aber sie sagte, sie habe gestern mit Amelia all ihre Besorgungen machen können. Dann schlug sie vor, ich solle mich doch auf den Stuhl am Bett setzen und ihr Gesellschaft leisten. »Das Bügeln geht schneller, wenn man sich mit jemandem unterhalten kann«, sagte sie und klang dabei so einsam, dass ich mich schuldig fühlte.
Ich erzählte ihr von meinem Vormittag und den Umständen von Crystals Tod. Octavia hatte in ihrem Leben schon so manches Schlimme gesehen, daher war sie nicht vollkommen entsetzt. Sie stellte die angemessenen Fragen und brachte den Schrecken zum Ausdruck, den wohl jeder empfand, aber sie hatte Crystal eigentlich gar nicht gekannt. Ich hätte schwören können, dass sie irgendetwas auf dem Herzen hatte.
Octavia stellte das Bügeleisen ab und sah mir direkt ins Gesicht. »Sookie«, begann sie, »ich brauche einen Job. Ich weiß, dass ich für dich und Amelia eine Last bin. Früher habe ich mir tagsüber das Auto meiner Nichte geborgt, wenn sie Nachtschicht hatte. Doch seit ich hier wohne, muss ich immer euch bitten, mich in die Stadt zu fahren. Und ich weiß, dass so etwas auf Dauer lästig ist. Bei meiner Nichte habe ich als Gegenleistung für Kost und Logis die Wohnung geputzt, gekocht und auf die Kinder aufgepasst. Doch du und Amelia haltet selbst alles so sauber, dass ich keine große Hilfe bin.«
»Ich freue mich, dass du hier bist, Octavia«, sagte ich, wenn auch nicht ganz aufrichtig. »Du hast mir schon so oft geholfen. Weißt du nicht mehr? Du hast mir Tanya vom Hals geschafft. Und jetzt scheint sie mit Calvin zusammenzusein und wird mich sicher nicht mehr belästigen. Ich verstehe natürlich, dass du dich besser fühlen würdest, wenn du einen Job hättest. Vielleicht ergibt sich ja mal etwas. Aber bis dahin bist du hier gut aufgehoben. Uns wird schon etwas einfallen.«
»Ich habe meinen Bruder in New Orleans angerufen«, sagte sie zu meiner Überraschung. Ich hatte nicht mal gewusst, dass sie einen Bruder hatte. »Er sagt, die Versicherung hat meinen Anspruch auf Schadensersatz anerkannt. Es ist keine große Summe, wenn man bedenkt, dass ich fast alles verloren habe, aber für einen guten Gebrauchtwagen wird es reichen. Allerdings gibt es nichts mehr, wohin ich zurückkehren könnte. Das Geld langt nicht, um mein Haus wiederaufzubauen, und es gibt nicht allzu viele Wohnungen, die ich mir leisten könnte.«
»Es tut mir so leid«, erwiderte ich. »Wenn ich bloß etwas für dich tun könnte, Octavia.«
»Du hast schon so viel für mich getan«, sagte sie. »Und dafür bin ich dankbar.«
»Oh, bitte. Nicht«, bat ich ganz kläglich. »Danke lieber Amelia.«
»Magie ist das Einzige, wovon ich etwas verstehe«, sagte Octavia. »Ich war so froh, dass ich dir in der Sache mit Tanya helfen konnte. Erinnert sie sich noch an etwas?«
»Nein«, erwiderte ich. »Ich glaube, sie erinnert sich gar nicht mehr daran, dass Calvin sie hierhergebracht hat, oder an den Zauberbann. Meine beste Freundin wird sie nie werden, aber wenigstens versucht sie jetzt nicht mehr, mir das Leben zu vermiesen.«
Tanya war mir von einer Frau namens Sandra Pelt, die einen echten Groll gegen mich hegte, auf den Hals gehetzt worden, und sollte mich ausspionieren. Und weil Calvin an Tanya offenbar Gefallen gefunden hatte, sorgten Amelia und Octavia mit ein wenig Magie dafür, dass Tanya von Sandras Einfluss befreit wurde. Tanya wirkte zwar noch immer etwas ruppig, doch das war wohl einfach ihr Naturell.
»Meinst du, wir sollten eine Rekonstruktion machen, um Crystals Mörder zu finden?«, fragte Octavia.
Ich dachte nach und versuchte, mir eine ektoplasmische Rekonstruktion auf dem Parkplatz hinter dem Merlotte's vorzustellen. Wir müssten mindestens noch eine weitere Hexe finden, dachte ich, weil Octavia und Amelia ein so großes Gelände sicher nicht allein abdecken konnten. Auch wenn die beiden wahrscheinlich glaubten, sie könnten es.
»Ich fürchte, dabei würden wir gesehen werden«, sagte ich schließlich. »Was schlecht für dich und Amelia wäre. Und außerdem wissen wir nicht, wo genau der Mord stattgefunden hat. Aber das müsstest du wissen, oder?«
»Ja«, gab Octavia zu. »Wenn sie nicht dort auf dem Parkplatz gestorben ist, hätte es keinen Sinn.« Sie klang ein wenig erleichtert.
»Wir erfahren vermutlich erst durch die Obduktion, ob sie dort gestorben ist oder schon bevor sie ans Kreuz genagelt wurde.« Noch eine ektoplasmische Rekonstruktion würde ich ohnehin nicht durchstehen, dachte ich. Zweimal hatte ich schon gesehen, wie Tote - in glitzernd flüssiger, aber durchaus erkennbarer Gestalt - noch einmal die letzten Minuten ihres Lebens durchmachten. Eine unbeschreiblich gruselige und deprimierende Erfahrung.
Octavia wandte sich wieder der Bügelwäsche zu, und ich ging in die Küche und machte mir eine Suppe warm. Ich musste etwas essen, und das Öffnen einer Dose erforderte genau so viel Anstrengung, wie ich gerade noch aufbringen konnte.
Die nächsten Stunden zogen sich endlos hin, und nichts geschah. Sam meldete sich nicht. Die Polizei sagte nicht Bescheid, ob ich das Merlotte's wieder aufmachen konnte. Die FBI-Agenten kamen nicht wieder, um mir weitere Fragen zu stellen. Schließlich beschloss ich nach Shreveport zu fahren. Als ich das Haus verließ, war Amelia bereits von der Arbeit zurück und kochte zusammen mit Octavia etwas zum Abendessen. Eine gemütliche Szene. Doch ich war einfach zu ruhelos, um mich ihnen anzuschließen.
Zum zweiten Mal innerhalb genauso vieler Tage fuhr ich also ins Fangtasia. Doch darüber wollte ich gar nicht erst nachdenken. Stattdessen hörte ich auf der ganzen Fahrt einen Bibelsender Schwarzer, und die Predigten halfen mir, besser mit den Ereignissen des Tages fertig zu werden.
Als ich ankam, war es bereits Abend, allerdings noch zu früh für die meisten Gäste der Bar. Eric saß an einem Tisch in der Mitte des Raumes, mit dem Rücken zu mir. Er trank TrueBlood und sprach mit Clancy, der im Rang unter Pam stand, soweit ich wusste. Clancy saß mit dem Gesicht zu mir und schnaubte, als er mich auf den Tisch zukommen sah. Ein Sookie-Stackhouse-Fan war Clancy definitiv nicht. Aber da er ein Vampir war, konnte ich nicht herausfinden warum. Vermutlich mochte er mich einfach bloß nicht.
Eric drehte sich nach mir um und hob die Augenbrauen. Er sagte etwas zu Clancy, der aufstand und in Richtung Büro verschwand. Eric wartete, bis ich mich zu ihm an den Tisch gesetzt hatte. »Hallo Sookie«, begrüßte er mich dann. »Bist du gekommen, um mir zu sagen, wie wütend du auf mich bist wegen dieses Treuegelöbnisses? Oder möchtest du heute das lange Gespräch führen, das wir früher oder später führen müssen?«
»Nein«, sagte ich, und eine Weile saßen wir schweigend da. Ich fühlte mich erschöpft, aber ein seltsamer Friede überkam mich. Eigentlich hätte ich Eric wegen des Dolches und weil er Quinns Ersuchen so arrogant abgelehnt hatte, die Hölle heiß machen müssen. Ich hätte ihm alle möglichen Fragen stellen sollen ... aber ich brachte die nötige Energie nicht auf.
Ich wollte einfach nur neben ihm sitzen.
Musik spielte. Irgendwer hatte WDED, den Radiosender für jeden Vampir, eingeschaltet. Die Animals sangen gerade »The Night«. Als er sein TrueBlood ausgetrunken hatte und nur noch einige letzte Blutstropfen die Flaschenwände rot färbten, legte Eric seine kalte weiße Hand auf meine. »Was ist heute geschehen?«, fragte er mit ruhiger Stimme.
Und ich fing an zu erzählen, angefangen beim Besuch des FBI. Eric unterbrach mich nicht mal, um seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen oder Fragen zu stellen. Und selbst, als ich damit geendet hatte, wie die Polizisten Crystals Leiche vom Kreuz nahmen, schwieg er noch eine Weile. »Das ist sogar für deine Verhältnisse ein ereignisreicher Tag, Sookie«, sagte er schließlich. »Und was Crystal angeht, der bin ich, glaube ich, nie begegnet. Aber es klingt, als sei sie nichts wert gewesen.«
Eric hielt sich nie lange mit Höflichkeiten auf. Auch wenn mir das eigentlich gefiel, war ich doch froh, dass diese Haltung nicht allzu weit verbreitet war. »Keiner ist ›nichts wert‹«, entgegnete ich. »Obwohl ich zugeben muss, dass Crystal es vermutlich nicht mal auf meine lange Auswahlliste geschafft hätte, wenn ich aussuchen müsste, wen ich zu mir ins Rettungsboot holen würde.«
Erics Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln.
»Aber«, fügte ich hinzu, »sie war schwanger, darum geht's, und es war das Baby meines Bruders.«
»Schwangere Frauen waren zu meiner Zeit doppelt so viel wert, wenn sie getötet wurden«, erzählte Eric.
Er hatte noch nie von sich aus Informationen über sein Leben vor dem Vampirdasein preisgegeben. »Wie meinst du das: wert?«, fragte ich.
»Im Krieg oder im Kampf mit Fremden konnten wir töten, wen wir wollten«, erklärte er. »Aber bei Streitereien in unserem eigenen Stamm mussten wir in Silber zahlen, wenn wir jemanden der Unseren getötet hatten.« Es sah aus, als könnte er sich nur mit Mühe erinnern. »Und wenn es um eine Frau mit Kind ging, war der Preis doppelt so hoch.«
»Wie alt warst du, als du geheiratet hast? Hattest du Kinder?« Ich wusste zwar, dass Eric verheiratet war, aber sonst nichts aus seinem Wikingerleben.
»Ich galt als Mann, seit ich zwölf war«, begann er. »Mit sechzehn habe ich geheiratet. Meine Frau hieß Aude. Aude hatte... wir hatten... sechs Kinder.«
Ich hielt den Atem an. Eric blickte tatsächlich in die abgrundtiefe Zeitkluft hinab, die sich zwischen seiner Gegenwart - in einer Bar in Shreveport, Louisiana - und seiner Vergangenheit - einer seit tausend Jahren toten Ehefrau - auftat.
»Sind sie alle am Leben geblieben?«, fragte ich sehr leise.
»Drei sind am Leben geblieben«, erwiderte Eric, und er lächelte. »Zwei Jungen und ein Mädchen. Zwei sind bei der Geburt gestorben. Und mit dem sechsten Kind ist auch Aude gestorben.«
»Woran?«
Er zuckte die Achseln. »Das Kind und sie bekamen Fieber. Wahrscheinlich irgendeine Infektion. Aber damals starben die Leute meistens, wenn sie krank wurden. Aude und das Kind sind beide nur Stunden nacheinander gestorben. Ich habe sie in einem herrlichen Schrein beerdigt«, erzählte er stolz. »Meine Gemahlin trug ihre wertvollste Brosche am Gewand, und das Kind habe ich ihr an den Busen gelegt.«
Noch nie hatte er so sehr wie ein Mann aus vergangenen Zeiten geklungen. »Wie alt warst du da?«
Eric dachte nach. »Anfang zwanzig«, sagte er, »vielleicht dreiundzwanzig. Aude war älter als ich. Sie war schon mit meinem älteren Bruder verheiratet gewesen, doch als er in einer Schlacht fiel, war es meine Pflicht, sie zu heiraten, damit unsere Familien verbunden blieben. Aber ich hatte sie schon immer gemocht, und sie war auch willens. Aude war nicht dumm, sie hatte bereits zwei Kinder meines Bruders verloren und hat sich gefreut, dass sie noch welche bekam, die überlebten.«
»Was ist aus deinen Kindern geworden?«
»Als ich zum Vampir wurde?«
Ich nickte. »Da waren sie doch noch nicht sehr alt.«
»Nein, sie waren noch klein. Es geschah bald nach Audes Tod«, erzählte Eric. »Ich habe sie vermisst, weißt du, und ich brauchte jemanden, der die Kinder aufzog. So etwas wie Hausmänner gab es damals nicht.« Er lachte. »Ich musste auf Beutezüge gehen und mich darum kümmern, dass die Sklaven draußen auf den Feldern das taten, was sie tun sollten. Also brauchte ich eine neue Ehefrau. Eines Abends bin ich die Familie einer jungen Frau, die ich zu heiraten hoffte, besuchen gegangen. Sie wohnten ein, zwei Meilen entfernt. Ich hatte einige Gastgeschenke dabei, mein Vater war ein Häuptling, und ich galt als gut aussehender junger Mann und gerühmter Kämpfer, war also eine gute Partie. Ihre Brüder und ihr Vater hießen mich freudig willkommen, und sie schien ... nett. Ich versuchte, sie etwas kennenzulernen. Der Abend verlief gut, und ich machte mir große Hoffnungen. Aber ich hatte eine Menge getrunken dort, und auf meinem Weg nach Hause an diesem Abend ...« Eric hielt kurz inne, und ich sah, dass sein Brustkorb sich hob. Bei der Erinnerung an die letzten Augenblicke seines Lebens als Mensch hatte er tatsächlich einmal tief Luft geholt. »Es war Vollmond. Und plötzlich sah ich am Straßenrand einen verletzten Mann liegen. Normalerweise hätte ich mich zuerst umgesehen und nach seinen Angreifern Ausschau gehalten, doch ich war betrunken. Ich ging einfach hin, um ihm zu helfen. Und was dann geschah, kannst du dir wahrscheinlich denken.«
»Er war gar nicht wirklich verletzt.«
»Nein. Aber ich, gleich danach, denn er war sehr hungrig. Er hieß übrigens Appius Livius Ocella.« Eric lächelte, wenn auch ziemlich unfroh. »Er brachte mir vieles bei, und als Erstes, dass ich ihn nicht Appius nennen solle. Ich hätte ihn schließlich noch nicht mal erkannt, sagte er.«
»Und was als Zweites?«
»Was ich tun musste, damit ich ihn erkannte.«
»Oh.« Ich glaubte zu verstehen, was er meinte.
Eric zuckte die Achseln. »So schlimm war's nicht... als wir die Gegend verließen, hatte ich ihn erkannt. Und bald hörte ich auf, mich nach meinen Kindern und meinem Zuhause zu sehnen. Ich war bis dahin nie von meinem Stamm weggekommen. Mein Vater und meine Mutter lebten noch. Ich wusste, dass auch meine Brüder und Schwestern sich um meine Kinder kümmern und sie anständig erziehen würden. Und ich hatte ihnen genug hinterlassen, so dass sie keinem zur Last fielen. Ich machte mir natürlich Sorgen, aber was nützte das schon. Ich musste mich von ihnen fernhalten. Zu jener Zeit fiel in den kleinen Dörfern jeder Fremde sofort auf, und wenn ich mich in die Nähe meiner Familie gewagt hätte, hätten sie mich erkannt und Jagd auf mich gemacht. Sie hätten gewusst, was aus mir geworden war, oder zumindest, dass ich... böse war.«
»Und wohin bist du mit Appius gegangen?«
»In die größten Städte, die wir finden konnten, und davon gab es damals nur sehr wenige. Die meiste Zeit waren wir auf Reisen, immer abseits der Straßen, so dass wir uns von anderen Reisenden ernähren konnten.«
Ich schauderte. Es tat weh, sich den extravaganten und schlagfertigen Eric als einen vorzustellen, der durch die Wälder schlich und auf leichte Blutbeute hoffte. Und der Gedanke, dass er sein Unglück noch dazu so lange geheim gehalten hatte, war einfach schrecklich.
»Es waren allerdings nur wenig Leute unterwegs«, fuhr er fort. »Und die Dorfbewohner vermissten ihre Nachbarn immer sofort. Also mussten wir ständig weiter. Junge Vampire sind besonders hungrig, und anfangs tötete ich beim Blutsaugen sogar, wenn ich es gar nicht wollte.«
Ich holte tief Luft. Herrje, das taten Vampire eben. Wenn sie jung waren, töteten sie. Damals gab es noch keinen Ersatz für frisches Blut. Es hieß: Töte oder stirb. »War er gut zu dir? Dieser Appius Livius Ocella?« Konnte es einem noch schlimmer ergehen als ständig mit dem eigenen Mörder unterwegs zu sein?
»Er hat mir alles beigebracht, was er wusste. Und wie ich war er im Heer gewesen und ein Kämpfer, das verband uns. Na gut, er mochte Männer, daran musste ich mich erst gewöhnen. Ich hatte das noch nie gemacht. Aber einem jungen Vampir erscheint alles Sexuelle als unheimlich aufregend, und so hat mir sogar das gefallen... gelegentlich.«
»Du musstest dich fügen«, entgegnete ich.
»Oh, er war viel stärker... obwohl ich muskulöser war als er - größer, längere Arme. Aber er war schon so viele Jahrhunderte lang ein Vampir, dass er aufgehört hatte zu zählen. Und er war natürlich mein Schöpfer. Ich musste ihm gehorchen.« Eric zuckte die Achseln.
»Ist das so eine mystische Sache oder bloß eine erfundene Regel?«, fragte ich neugierig, als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte.
»Beides«, erwiderte Eric. »Es ist wie ein Zwang, dem man unmöglich widerstehen kann, selbst wenn man will... selbst wenn man unbedingt weg will.« Sein bleiches Gesicht wirkte verschlossen und grüblerisch.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Eric irgendwas tat, was er nicht tun wollte, nicht mal wenn er der Untergebene war. Er hatte natürlich auch jetzt einen Boss, er war nicht unabhängig. Doch er musste weder Kniefall noch Kratzfuß machen, und die meisten seiner Entscheidungen traf er selbst.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich.
»Das würde ich dir auch nicht wünschen.« Ironisch verzog er den Mund. Gerade als ich begann, mir über diese Ironie Gedanken zu machen - schließlich hatte er mich einfach auf Vampirart geheiratet, ohne vorher zu fragen -, wechselte Eric das Thema und warf die Tür zu seiner Vergangenheit zu. »Die Welt hat sich sehr verändert, seit ich ein Mensch war. Die letzten hundert Jahre waren besonders aufregend. Und jetzt sind auch noch die Werwölfe an die Öffentlichkeit getreten, und all die anderen Zweigestaltigen. Wer weiß? Vielleicht treten als Nächstes die Hexen oder die Elfen aus dem Dunkel.« Er lächelte mich an, wenn auch etwas kühl.
Bei diesen Worten kam mir gleich der wunderbare Gedanke, dass ich dann ja meinen Urgroßvater Niall jeden Tag sehen könnte. Ich hatte erst vor ein paar Monaten überhaupt von seiner Existenz erfahren, und wir hatten noch nicht allzu viel Zeit miteinander verbracht. Doch allein die Tatsache, dass ich noch einen lebenden Vorfahren hatte, bedeutete mir schon sehr viel. Ich hatte sonst nämlich nicht gerade viel Verwandtschaft. »Das wäre herrlich«, sagte ich sehnsüchtig.
»Meine Liebe, das wird nie geschehen«, entgegnete Eric. »Die Elfen sind die scheuesten unter allen supranaturalen Geschöpfen. Und es gibt nicht mehr viele ihres Volkes in diesem Land. Im Grunde gibt es auf der ganzen Welt nur noch wenige Elfen. Die Anzahl der Frauen und die Fruchtbarkeit dieser Frauen sinkt mit jedem Jahr. Dein Urgroßvater ist einer der wenigen Überlebenden von königlichem Geblüt. Aber er würde sich nie dazu herablassen, sich mit Menschen abzugeben.«
»Mit mir spricht er«, sagte ich, weil ich nicht genau wusste, was dieses »sich mit Menschen abgeben« heißen sollte.
»Du bist seine Blutsverwandte.« Eric winkte mit seiner freien Hand ab. »Wenn es nicht so wäre, hättest du ihn nie zu Gesicht bekommen.«
Okay, er hatte ja recht. Niall würde nie auf ein Bier und frittierte Hühnchensticks im Korb ins Merlotte's kommen und alle Gäste rundum mit Handschlag begrüßen. Unglücklich blickte ich Eric an. »Wenn er nur Jason irgendwie helfen würde«, meinte ich. »Herrje, ich hätte nie gedacht, dass ich so was mal sagen würde. Niall scheint Jason überhaupt nicht zu mögen, aber Jason wird wegen Crystals Tod eine Menge Ärger kriegen.«
»Sookie, wenn du mich nach meiner Meinung fragst: Ich habe keine Ahnung, warum Crystal ermordet wurde.« Und es war ihm eigentlich auch egal. Wenigstens wusste man bei Eric immer, woran man war.
Im Hintergrund kündigte der DJ von WDED gerade den nächsten Song an: »Und jetzt Thom Yorkes mit ›And It Rained All Night‹.« Während meines Vier-Augen-Gesprächs mit Eric schienen die Geräusche in der Bar alle gedämpft und ganz weit weg gewesen zu sein. Nun stürmten sie mit Macht wieder auf mich ein.
»Die Polizei und die Werpanther werden herausfinden, wer es getan hat«, meinte Eric. »Ich mache mir größere Sorgen wegen dieser FBI-Agenten. Worauf haben sie es abgesehen? Wollen sie dich von hier fortschaffen? Dürfen sie das in diesem Land?«
»Sie wollten Barrys Identität herausfinden. Und dann wollten sie wissen, wozu wir fähig sind und wie wir es machen. Vielleicht sollten sie uns bitten, für sie zu arbeiten. Crystals Tod hat unser Gespräch unterbrochen, bevor sie irgendwas sagen konnten.«
»Und du willst nicht für sie arbeiten.« Eric sah mich mit seinen hellblauen Augen entschlossen an. »Du willst nicht fort von hier.«
Ich zog meine Hand unter seiner hervor und sah, wie ich die Hände verschränkte, ja geradezu rang. »Natürlich will ich nicht, dass Menschen sterben, weil ich ihnen nicht helfe«, sagte ich und spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. »Aber ich bin egoistisch genug, um nicht überall dorthin gehen zu wollen, wo sie mich hinschicken, um nach Überlebenden zu suchen. Mit dem emotionalen Stress, jeden Tag Katastrophen zu sehen, käme ich nicht zurecht. Und ich will auch nicht von zu Hause weg. Ich habe versucht, mir vorzustellen, was ich für sie tun müsste. Und es ängstigt mich zu Tode.«
»Du willst Herrin deines eigenen Lebens sein«, sagte Eric.
»Genauso wie jeder andere auch.«
»Immer wenn ich denke, dass du recht einfach zu verstehen bist, sagst du etwas Vielschichtiges«, meinte Eric.
»Willst du dich beschweren?« Ich versuchte zu lächeln, doch es misslang.
»Nein.«
Ein dickes junges Mädchen mit spitzem Kinn trat zu uns an den Tisch und legte Eric ein Autogrammbuch hin. »Würden Sie mir bitte ein Autogramm geben?«, fragte sie. Eric warf ihr ein strahlendes Lächeln zu und kritzelte seinen Namen auf die leere Seite. »Danke«, hauchte sie atemlos, ehe sie zurück an ihren Tisch ging. Ihre Freundinnen, alle gerade alt genug, um in die Bar hineinzudürfen, johlten, weil sie so mutig gewesen war, und sie beugte sich vertraulich vor und erzählte ihnen alles über ihre Begegnung mit dem tollen Vampir. Erst als sie fertig war, ging eine der Menschen-Kellnerinnen zu ihnen an den Tisch und nahm ihre weiteren Bestellungen auf. Das Personal hier war wirklich sehr gut ausgebildet.
»Was hat sie gedacht?«, fragte Eric mich.
»Oh, sie war ziemlich nervös und dachte, wie toll du aussiehst, aber...« Es fiel mir schwer, es in Worte zu fassen. »Aber dass du eben viel zu gut für sie aussiehst, so gut, dass sie nie eine Chance bei dir hätte. Sie ist sehr ... sie hält nicht allzu viel von sich selbst.«
Und dann überfiel mich eine meiner Fantasien. Eric geht zu ihr hinüber, verbeugt sich, küsst sie ehrerbietig auf die Wange und ignoriert ihre hübscheren Freundinnen. Nach dieser Geste fragen sich alle Männer im Fangtasia, was der Vampir nur in dem jungen Mädchen sehen mag. Und plötzlieh kann sich das unattraktive Mädchen vor den Aufmerksamkeiten all der Männer, die den Kuss gesehen haben, kaum noch retten. Ihre Freundinnen respektieren sie, da Eric sie respektiert hat. Ihr Leben hat sich verändert.
Aber es geschah natürlich nichts dergleichen. Eric hatte das junge Mädchen schon vergessen, ehe ich meine Worte beendete. Und vermutlich wäre es nicht mal dann wie in meiner Fantasie gelaufen, wenn er zu ihr hinübergegangen wäre. Enttäuschung überfiel mich. Märchen wurden eben nie wahr. Ob mein dem Elfenvolk angehörender Urgroßvater wohl eine jener Geschichten über Elfen, Hexen oder Zauberer kannte, die wir Märchen nennen, fragte ich mich. Erzählten Elfeneltern ihren Elfenkindern eigentlich Geschichten von Menschen? Bestimmt nicht, da wäre ich jede Wette eingegangen.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie abgetrennt von allem, als träte ich von meinem eigenen Leben zurück und betrachtete es wie aus weiter Ferne. Die Vampire schuldeten mir noch Geld und Gegenleistungen für meine Dienste. Die Werwölfe hatten meinen Status als Freundin des Rudels erneuert für die Hilfe, die ich ihnen im eben beendeten Krieg geleistet hatte. Eric und ich hatten einander die Treue gelobt, was zu heißen schien, dass ich verlobt oder sogar verheiratet war. Mein Bruder war ein Werpanther und mein Urgroßvater ein Elf. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder bei mir selbst ankam. Mein Leben war einfach zu verrückt. Ich fühlte mich, als hätte ich nichts mehr unter Kontrolle, als drehte ich mich schon viel zu schnell, um noch anhalten zu können.
»Sprich nicht allein mit den FBI-Leuten«, sagte Eric. »Ruf mich an, falls sie abends kommen, und Bobby Burnham, falls sie tagsüber auftauchen.«
»Aber er hasst mich!«, sagte ich, jetzt wieder ganz in der Realität angekommen, und das nicht allzu sanft. »Warum sollte ich ihn anrufen?«
»Was?«
»Bobby hasst mich«, wiederholte ich. »Er wäre glücklich, wenn die Bundesbehörden mich für den Rest meines Lebens in irgendeinem unterirdischen Bunker in Nevada festhalten würden.«
Erics Miene war erstarrt. »Das hat er gesagt?«
»Das muss er gar nicht. Ich weiß genau, ob jemand denkt, ich wäre eine Schleimscheißerin.«
»Ich werde mit Bobby reden müssen.«
»Eric, es verstößt gegen kein Gesetz, mich nicht zu mögen«, warf ich ein, weil ich nur zu gut wusste, welch gefährliche Folgen die Beschwerde bei einem Vampir haben konnte.
Er lachte. »Vielleicht sollte ich ein solches Gesetz erlassen«, erwiderte er frotzelnd, und sein Akzent war deutlicher als sonst zu vernehmen. »Wenn du Bobby nicht erreichen kannst - obwohl ich absolut sicher bin, dass er dir helfen wird -, solltest du Mr Cataliades anrufen, auch wenn er unten in New Orleans ist.«
»Geht's ihm gut?« Seit dem Einsturz des Vampirhotels in Rhodes hatte ich nichts mehr von dem Halbdämon und Rechtsanwalt gehört.
Eric nickte. »Es ging ihm nie besser. Er vertritt jetzt Felipe de Castros Interessen in Louisiana. Er würde dir helfen, wenn du ihn darum bittest. Er hat dich ziemlich gern.«
Diese letzte Information verstaute ich gut, darüber musste ich erst noch mal nachdenken. »Hat seine Nichte auch überlebt?«, fragte ich. »Diantha?«
»Ja«, sagte Eric. »Sie war zwölf Stunden verschüttet, doch die Rettungsleute wussten, wo sie liegt. Es hatten sich so viele verkeilte Balken über ihr aufgetürmt, dass es einige Zeit dauerte, die wegzuräumen. Aber schließlich sind sie zu ihr durchgedrungen.«
Ich war froh zu hören, dass Diantha noch am Leben war. »Und der Anwalt John Glassport?«, fragte ich. »Mr Cataliades sagte, er sei mit ein paar blauen Flecken davongekommen.«
»Glassport ist völlig wiederhergestellt. Er hat sein Honorar abgeholt und ist irgendwo in den Weiten Mexikos verschwunden.«
»Mexikos Gewinn ist Mexikos Verderben.« Ich zuckte die Achseln. »Aber es braucht vermutlich einen Anwalt, um an sein Geld zu kommen, wenn der Auftraggeber tot ist. Ich habe meins nie gekriegt. Vielleicht fand Sophie-Anne, dass Glassport mehr für sie getan hat, oder er war klug genug, es einzufordern, obwohl sie beide Beine verloren hatte.«
»Ich hatte ganz vergessen, dass du noch nicht bezahlt wurdest.« Wieder sah Eric äußerst unerfreut drein. »Ich werde mit Victor sprechen. Wenn Glassport seine Dienste für Sophie honoriert bekommen hat, steht dir das auch zu. Sophie hat ein großes Vermögen hinterlassen und keine Kinder. Und Victors König schuldet dir noch etwas. Er wird sich die Sache anhören.«
»Das wäre großartig«, sagte ich, vielleicht ein wenig zu erleichtert.
Eric blickte mich durchdringend an. »Du weißt doch, Sookie, wenn du Geld brauchst, musst du es mir nur sagen. Ich will nicht, dass es dir an irgendetwas mangelt, du sollst alles haben, was du benötigst. Und ich kenne dich gut genug, um überzeugt zu sein, dass du das Geld nie leichtsinnig verschwenden würdest.«
Aus seinem Mund klang das beinahe, als wäre es kein sonderlich vorteilhafter Charakterzug. »Ich weiß das Angebot zu schätzen«, sagte ich und merkte selbst, wie gestelzt ich plötzlich sprach. »Aber ich möchte nur das, was mir zusteht.«
Wieder trat ein langes Schweigen ein, während um unseren Tisch und überall in der Bar der übliche Geräuschpegel herrschte.
»Sag mir die Wahrheit«, begann Eric schließlich. »Kann es sein, dass du hierhergekommen bist, nur um ein wenig Zeit mit mir zu verbringen? Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie wütend du auf mich bist, weil ich dich nicht vorher über den Dolch aufgeklärt habe. Und offenbar willst du das auch nicht tun, jedenfalls nicht heute Abend. Und ich habe mit dir auch noch nicht über meine Erinnerungen an jene Zeit geredet, die wir miteinander verbracht haben, als du mich bei dir zu Hause versteckt hast. Weißt du, warum ich ausgerechnet in der Nähe deines Hauses war, als ich halb nackt durch die eiskalte Nacht rannte?«
Seine Frage kam so unerwartet, dass ich erst mal schwieg. Wollte ich die Antwort wirklich hören? Doch dann sagte ich: »Nein, das weiß ich nicht.«
»Der Fluch, den die Hexe in sich trug, der Fluch, der wirksam wurde, als Chow sie umbrachte... lautete, dass ich dem Begehr meines Herzens immer nahe sein würde, ohne es je zu erkennen. Ein schrecklicher Fluch und einer, den Hallow mit größter Raffinesse formuliert hat. Wir haben ihn in ihrem Zauberbuch gefunden, wo sie ihn mit einem Eselsohr markiert hatte.«
Es gab nichts, was ich darauf hätte erwidern können. Auch wenn ich natürlich darüber nachdenken würde.
Ich war zum ersten Mal einfach zum Reden ins Fangtasia gekommen, ohne in irgendwelchen Vampir-Angelegenheiten hergebeten worden zu sein. Lag das an diesen Blutsbanden oder hatte es einen viel natürlicheren Grund? »Vermutlich wollte ich ... einfach nur ein wenig Gesellschaft«, sagte ich. »Jedenfalls keine seelenaufrührenden Enthüllungen.«
Er lächelte. »Das ist gut.«
Wirklich? Ich wusste es nicht.
»Du weißt aber, dass wir nicht richtig verheiratet sind, oder?« Das musste ich unbedingt noch loswerden, auch wenn ich am liebsten vergessen hätte, dass das Ganze überhaupt geschehen war. »Ich weiß, dass Vampire und Menschen mittlerweile heiraten dürfen, aber das war keine Zeremonie, die ich anerkenne, und der Bundesstaat Louisiana genauso wenig.«
»Und ich weiß, dass du jetzt in irgendeinem Hinterzimmer in Nevada sitzen würdest, wenn ich es nicht getan hätte, und Gedanken lesen müsstest, während Felipe de Castro mit Menschen Geschäfte macht.«
Wie ich es hasste, wenn mein Verdacht sich bestätigte. »Aber ich habe ihn gerettet«, sagte ich und versuchte, nicht zu jammern. »Ich habe ihm das Dasein gerettet, und er hat mir versprochen, dass ich auf seine Freundschaft zählen kann. Was auch heißt, auf seinen Schutz, dachte ich.«
»Er möchte dich zu deinem Schutz direkt an seiner Seite haben, jetzt, wo er von deinen Fähigkeiten weiß. Er möchte dich als Druckmittel gegen mich einsetzen.«
»Na, das nenn ich Dankbarkeit. Hätte ich bloß zugelassen, dass Sigbert ihn tötet.« Ich schloss die Augen. »Verdammt noch mal, was ich auch tue, immer verliere ich.«
»Jetzt kann er nicht mehr an dich heran«, sagte Eric. »Wir sind verheiratet.«
»Aber, Eric ...« Ich hatte so viele Einwände gegen dieses Arrangement, dass ich gar nicht wusste, wo ich beginnen sollte. Ich hatte mir geschworen, das Thema heute Abend nicht anzuschneiden, aber es stand zu offensichtlich im Raum. Es konnte einfach nicht ignoriert werden. »Und was ist, wenn ich jemand anderen kennenlerne? Was ist, wenn du ... Hey, welche Verpflichtungen ergeben sich eigentlich aus dieser offiziellen Ehe? Sag's mir einfach.«
»Du bist heute Abend zu aufgebracht und zu müde für ein vernünftiges Gespräch«, erwiderte Eric.
Er schüttelte sein Haar über die Schultern zurück, und eine Frau am Nebentisch rief: »Oooooooooh.«
»Wichtig ist, dass Felipe de Castro nicht mehr an dich herankann, dass keiner das kann ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Darauf steht die endgültige Todesstrafe. Und im Fall der Fälle würde meine Rücksichtslosigkeit uns beiden da gute Dienste leisten.«
Ich holte tief Luft. »Okay. Du hast recht. Aber damit ist das Thema nicht erledigt. Ich will alles über unser neues Verhältnis erfahren, und ich will wissen, wie ich da wieder herauskomme, wenn ich es nicht aushalte.«
Seine Augen waren so blau wie ein klarer Herbsthimmel, und sein Blick genauso arglos. »Du wirst alles erfahren, wenn du es wissen willst«, versicherte Eric.
»Hey, weiß der neue König auch von meinem Urgroßvater?«
Erics Gesichtsausdruck wurde steinern. »Ich wage nicht vorauszusagen, wie Felipe de Castro reagiert, wenn er es herausfindet, meine Liebe. Bill und ich sind die Einzigen, die im Moment davon wissen. Und so muss es auch bleiben.«
Wieder griff er über den Tisch nach meiner Hand. Ich konnte jede Faser, jeden Knochen durch das kühle Fleisch spüren. Es war, als hielte man Händchen mit einer Statue, mit einer wunderschönen Statue. Und wieder überkam mich einige Minuten lang ein seltsamer Friede.
»Ich muss gehen, Eric«, sagte ich schließlich bedauernd, auch wenn ich nicht meinen Aufbruch bedauerte, und Eric beugte sich vor und küsste mich sanft auf den Mund. Als ich meinen Stuhl zurückschob, stand er auf und brachte mich zur Tür. Ich spürte geradezu, wie auf dem Weg aus dem Fangtasia hinaus all die neidvollen Blicke der Möchtegerns auf mich eindrangen. Pam stand hinter dem Empfangstresen und blickte uns mit einem kühlen Lächeln an.
Damit wir nicht wie die Turteltäubchen auseinandergingen, sagte ich: »Eric, wenn ich wieder ich selbst bin, werde ich deinen Arsch dafür drankriegen, dass du mich mit diesem Treuegelöbnis in eine solche Lage gebracht hast.«
»Liebste, mein Arsch steht dir jederzeit zur Verfügung«, erwiderte er in seinem charmantesten Tonfall und kehrte an seinen Tisch zurück.
Pam verdrehte die Augen. »Ihr beiden«, seufzte sie.
»Hey, das alles ist nicht meine Schuld«, sagte ich, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Doch für einen guten Abgang reichte es, und so verließ ich eilig die Bar.