KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

Felicity hatte James zum Schulbus gebracht und ging nun langsam die Straße entlang nach Fox Mill zurück. Seit Peters Geburtstag hatte sich eigentlich nichts grundlegend verändert. Sie wusch immer noch die Wäsche, fuhr immer noch zum Einkaufen, kochte immer noch jeden Abend. Sie sorgte dafür, dass James seine Hausaufgaben machte, und fragte Peter beim Abendessen, wie sein Tag gewesen war. Und später legte sie sich neben ihn ins Bett.

Am Abend zuvor hatte sie im Bett versucht, mit ihm über die Tote zu reden. Durchs offene Zimmer duftete der Garten herein, doch neben dem Geruch nach frisch gemähtem Gras und Jelängerjelieber konnte man glauben, auch das Meer zu riechen. Felicity kehrte im Geist zum Ausguck zurück, zu der frischen salzigen Luft, zum Tang und zu den Blumen, die auf dem Wasser trieben.

«Glaubst du, sie wissen schon, wer sie getötet hat?», hatte sie Peter gefragt.

Sie lag auf dem Rücken und schaute zur Decke hinauf. Sie spürte, dass er noch wach war, doch seine Antwort ließ so lange auf sich warten, dass sie sich schon fragte, ob er sich vielleicht schlafend stellen wollte.

«Nein», sagte er schließlich. «Ich glaube, sie tappen völlig im Dunkeln. Sie waren heute noch einmal da, um mit mir zu reden. Diese Polizistin und ein jüngerer Mann.»

«Was wollten sie denn?» Sie drehte sich zu ihm um, konnte seine Gesichtszüge im Dunkeln nur schwach ausmachen. Früher hätte sie jetzt wohl die Hand ausgestreckt, ihm die Stirn, die Augen, den Hals gestreichelt. Sie wäre ihm über die Lippen gefahren, hätte einen Finger in seinen Mund geschoben. Früher hatte sie das intime Gefühl genossen, seine Haut unter den Fingern zu spüren. Heute berührten sich nicht einmal ihre Füße.

«Sie wollten wissen, ob ich die Blumen bestimmen kann. Aber ich weiß nicht … Vielleicht war das auch nur ein Vorwand.»

«Aber sie können doch nicht im Ernst glauben, dass einer von uns etwas mit dieser Sache zu tun hat.»

«Nein», erwiderte er leichthin. «Natürlich nicht.» Und dann hatte er sie an sich gezogen, ein wenig so wie früher, als sie frisch verheiratet waren. Wie ein Vater, der seine Tochter tröstete. Und Felicity hatte ruhig dagelegen und so getan, als würde sie sich trösten lassen.

Während sie jetzt durch die Schatten der Holunderbüsche über die Straße ging, dachte sie sich, dass es trotzdem nicht mehr so sein würde wie früher, auch wenn es so schien. Gleich darauf verwarf sie den Gedanken schon wieder als melodramatischen Unfug. Das eigentlich Schlimme war, dass sie mit niemandem darüber reden konnte. Sie hatte zwar ihren Freundinnen von der Leiche erzählt, hatte das Erlebnis in den letzten Tagen sogar so oft geschildert – am Telefon und in diversen Küchen bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein –, dass sie bald selbst nicht mehr wusste, was eigentlich der Wahrheit entsprach. Hatte sie die Geschichte womöglich ein wenig ausgeschmückt? Doch den Verdacht, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, konnte sie auch mit ihren Freundinnen nicht teilen: dass nämlich jemand, den sie kannte, womöglich ein Mörder war. Davon konnte sie ihnen genauso wenig erzählen wie von ihrer Beziehung zu Samuel.

Zurück in ihrem leeren Haus, dachte sie sich, dass ihr Gesellschaft fehlte. Der Mord hatte Peters Geburtstagsfeier ruiniert. Felicity würde ein neues Fest geben, eine Grillparty, sie würde die Jungs noch einmal einladen, um richtig zu feiern. Doch dann spürte sie die Verzweiflung, die in diesem Plan mitschwang, und ihr war klar, dass es ein schrecklicher Abend werden würde, wenn sie das tatsächlich machte, schlimmer noch als der letzte. Ein Reinfall. Sie überlegte, stattdessen ihre Töchter mit Partnern und Kindern einzuladen. Sie würde ein großes Familienfest geben. In ihrer Rolle als Mutter und Großmutter fühlte sich Felicity immerhin sicher. Sie beschloss, die Idee am Abend mit Peter zu besprechen. Dann hatten sie wenigstens etwas, worüber sie reden konnten, und würden nicht wie sonst in drückendem Schweigen beim Abendessen sitzen müssen.

Wenn Joanna, ihre jüngste Tochter, zu Besuch kam, wohnte sie mit ihrem Mann immer draußen im Gartenhäuschen. Das war schon so gewesen, als Joanna noch studierte. An einem Wochenende war sie mit einer ganzen Gruppe von Freunden angerückt, und Felicity hatte befunden, dass es für alle Beteiligten das Beste sein würde, sie dort unterzubringen. Da konnten sie die ganze Nacht aufbleiben, trinken und Musik hören, ohne Peter auf die Nerven zu fallen oder James vom Schlafen abzuhalten. Jetzt beschloss sie, das Häuschen für den bevorstehenden Besuch vorzubereiten. Sie packte Putzlappen, Schaufel und Handfeger, Staubtücher und Politur in einen Eimer und ging über die Wiese zum Gartenhaus. Wenn ihre Mutter früher auf dem kalten Steinboden kniete und Kirchenbänke wienerte, auf denen nie jemand sitzen würde, hatte sie oft vom therapeutischen Nutzen des Putzens gesprochen. Felicity wollte diese Theorie in die Praxis umsetzen.

Sie hatte das Gartenhaus seit dem Wochenende nicht mehr betreten, als Vera Stanhope hier gewesen war, und seit Weihnachten hatte niemand mehr darin gewohnt. Es roch muffig und feucht, trotz des warmen Wetters. Das war Felicity noch nie so deutlich aufgefallen. Vielleicht hatte Lily Marsh sich ja daran gestört. Vielleicht war sie deshalb einfach ohne Antwort verschwunden. Felicity legte einen Stein an die Haustür, damit sie nicht zufiel, und öffnete dann alle Fenster. Wenn die Tür offen stand, schien der Mühlbach noch näher als sonst. Sie hörte das Wasser draußen rauschen, als sie sich an die Arbeit machte.

Sie zog das Bett ab und legte Betttuch und Kissenbezüge unten an die Treppe, befreite die Kommode vom Staub und polierte sie dann mit Bohnerwachs. Anschließend stieg sie auf einen Stuhl, putzte das Schlafzimmerfenster und schob es auf, um auch an die Außenseite zu kommen. Bereits jetzt besserte sich ihre Laune, und sie ertappte sich sogar dabei, wie sie ein Lied vor sich hin summte, das James in der Schule gelernt hatte. Sie holte den Besen aus dem Schrank in der Küche, kehrte damit unter dem Bett und fegte den Staub zu einem Haufen zusammen. Als sie ihn auf die Schaufel gekehrt hatte, fiel ihr auf, dass sie keine Mülltüten mitgebracht hatte, und so trug sie die Schaufel vorsichtig nach unten.

Sie putzte die Kacheln im Bad, schrubbte die Kochplatten, wischte die Küchenschränke aus und fegte noch mehr Staub zusammen. Dann beschloss sie, dass sie einen Kaffee brauchte. Im Gartenhaus gab es nur ein Glas mit löslichem Kaffee und Milchpulver, doch Felicity fand, dass sie sich etwas Besseres verdient hatte. Sie ließ Fenster und Türen offen stehen, um noch eine Weile zu lüften, und ging zum Haus zurück. Das lange Gras strich ihr fedrig um die Beine, als sie über die Wiese ging.

Im Haus setzte sie Wasser auf und warf einen Blick auf den Anrufbeantworter. Eine neue Nachricht. Samuel hatte angerufen. Korrekt und distanziert wie immer. Vielleicht kannst du mich ja gelegentlich zurückrufen, falls du Zeit hast. Nichts Dringendes. Doch selbst diese zurückhaltende Kontaktaufnahme machte sie schon nervös. Sie überlegte, dass er sich vielleicht mit ihr treffen wollte, malte sich aus, wie sie sein Haus in Morpeth betrat, wie er sie begrüßte. Sie rief zurück, doch niemand nahm ab. Bei aller Enttäuschung gefiel ihr das auch. Sie würde es später noch einmal versuchen, das war wenigstens etwas, worauf sie sich freuen konnte. Ein verzögerter Genuss. Sie goss den Kaffee in einen Warmhaltebecher, um ihn mit ins Gartenhaus zu nehmen, sich dort damit auf die Stufen zu setzen und aufs Wasser hinauszuschauen. Plötzlich kam sie sich regelrecht kindisch vor. Mary Barnes hatte doch bestimmt erst vor ein paar Monaten Frühjahrsputz im Gartenhaus gehalten und würde es auch noch einmal putzen, wenn Felicity sie darum bat, weil Jo zu Besuch kam. Sie hatte sich aufgeführt wie ein kleines Mädchen, das Hausfrau spielen wollte. Im letzten Moment fiel ihr die Mülltüte wieder ein, und sie kehrte noch einmal um, um sie zu holen.

Während sie ihren Kaffee trank, dachte sie an Samuel, seinen schlanken Rücken, an dem man jeden Wirbel spürte. Jetzt führe ich mich schon wieder auf wie ein junges Mädchen, dachte sie. Es wird langsam Zeit, dass ich erwachsen werde. Trotzdem lächelte sie dabei vor sich hin. Dann ging sie ins Gartenhaus zurück und schloss die Fenster wieder, zog die Toilette ab, um das Putzmittel wegzuspülen, fegte den Staub auf die Schaufel und leerte sie in die Mülltüte. Da sah sie plötzlich etwas glitzern. Sie legte die Schaufel ab, bückte sich und fischte den Gegenstand heraus. Ein Ring. Ein auffallend schöner Ring. Ein blau-grüner Stein in einer ovalen Fassung aus Silber. Jugendstil. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich, dachte sie, gehört er einem der Mädchen. Joanna vermutlich. Das war genau ihr Stil. Wie hatte sie nur so unachtsam sein und nicht merken können, dass sie ihn verloren hatte.

Erst als sie wieder im Haus war, im Korbsessel im Schlafzimmer saß und sich darauf einstimmte, Samuel noch einmal anzurufen, fiel ihr wieder ein, wo sie diesen Ring schon gesehen hatte. An Lily Marshs Finger. Der Ring war Felicity aufgefallen, als Lily James beim Aussteigen aus dem Bus den Geigenkoffer abgenommen hatte. Schon da hatte sie die junge Frau insgeheim darum beneidet. Wahrscheinlich war er ihr ein wenig zu groß gewesen und ihr während der Hausführung einfach vom Finger gerutscht. Felicity legte den Ring aufs Bett, wo er auf dem dicken weißen Baumwollstoff der Tagesdecke ganz wunderbar zur Geltung kam. Sie war in Versuchung, ihn einfach zu behalten. Probeweise streifte sie ihn auf den Mittelfinger. Er passte wie angegossen. Wer sollte das je erfahren? Seit der Geschichte mit Samuel erschienen ihr alle möglichen Missetaten in greifbarere Nähe gerückt. Sie genoss den Gedanken, etwas völlig Untypisches zu tun, womit sie den Erwartungen sämtlicher Freunde und Verwandten widersprach, die sie als durch und durch guten Menschen beschrieben hätten. Mit dem Ring am Finger wählte sie Samuels Nummer. Diesmal nahm er sofort ab.

«Parr.»

«Ich bin es, Felicity. Ich wollte zurückrufen.» Sie meldete sich immer mit Namen, obwohl sie sicher war, dass er sie an der Stimme erkannte. Selbst wenn sie keiner belauschte, hielten sie doch immer die Illusion aufrecht, einfach nur Freunde zu sein. Bis sie dann allein in seinem Haus waren.

«Schön, dass du dich meldest.» Er schwieg einen Moment. «Geht es dir gut?»

«Ganz gut», sagte sie. «Soweit …»

«Und James?»

«Ja, alles in Ordnung.»

«Ich hatte mich gefragt, ob du nochmal was von der Polizei gehört hast.»

«Sie haben wohl gestern bei Peter im Büro vorbeigeschaut.»

«Die Polizistin war auch bei mir. Zu Hause.» Felicity verspürte einen plötzlichen Widerwillen. Ihr missfiel die Vorstellung, dass sich diese fette, hässliche Frau zwischen Samuels wunderschönen Möbeln bewegte. «Ich bin mir nicht ganz sicher», fuhr er fort, «was sie eigentlich von mir wollte.»

Felicity wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und so erzählte sie Samuel plötzlich, ohne Zusammenhang, von ihrer Entdeckung. «Ich habe gerade einen Ring von Lily Marsh gefunden. Er lag im Gartenhaus. Wahrscheinlich hat sie ihn verloren, als ich sie dort herumgeführt habe.»

«Hast du der Polizei davon erzählt?» Die Dringlichkeit in seiner Stimme überraschte sie.

«Nein, bis jetzt noch nicht.» Ihr Tonfall sollte ein wenig kokett und spielerisch klingen. «Er ist wirklich richtig schön.»

«Du wirst ihn doch nicht etwa behalten wollen?» Samuel klang schockiert. «Du musst das melden. Sofort. Wenn du es nicht machst, glauben sie noch, du hast etwas zu verbergen.»

«So wichtig kann das doch nicht sein. Sie wissen doch schon, dass sie hier im Gartenhaus war.»

«Trotzdem», sagte Samuel. «Sie werden den Ring als wichtiges Beweisstück betrachten.»

«Schon gut. Ich habe ja nur Spaß gemacht.» Manchmal, dachte sie, war er schon ein großer Moralprediger.

«Es geht mir doch nur um dich.» So etwas Intimes sagte er sonst nie am Telefon, und es rührte sie ungemein. «Bitte ruf Inspector Stanhope an. Jetzt gleich.»

«Ja, gut.»

«Versprochen?»

«Ja», sagte Felicity. «Versprochen.» Dann setzte sie noch hinzu: «Hast du heute Nachmittag Zeit?»

«Nein, ich muss zu einer Besprechung.» Sie konnte nicht sagen, ob das stimmte oder ob es ihn nur immer noch nervös machte, mit ihr zusammen zu sein. Vielleicht fürchtete er ja, die Polizistin könnte an seine Tür hämmern und Einlass begehren, während sie sich gerade liebten. Das wäre sicher furchtbar für ihn: in einer Situation ertappt zu werden, über die er keine Kontrolle hatte. Offenbar hatte sich auch ihre Beziehung zu Samuel grundlegend verändert, seit sie Lily Marshs Leiche gefunden hatten.

«Ich muss jetzt Schluss machen», sagte er. «Sie brauchen mich vorne an der Ausleihe.» Damit beendete er das Gespräch, ohne sich richtig von ihr zu verabschieden.

Felicity blieb noch einen Moment sitzen und sah aus dem Fenster zum Leuchtturm hinüber, der durch den Hitzedunst schimmerte. Dann griff sie wieder zum Hörer und rief bei der Polizei an.