KAPITEL FÜNF

«Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?» Die dicke Polizistin stand auf, und Julie dachte sich, dass sie ziemlich starke Beinmuskeln haben musste, um dieses ganze Gewicht auf einmal aus dem Sessel zu wuchten. Wenn man sie so anschaute, hatte man das Gefühl, man könnte sie nur mit einem Kran bewegen, einem dieser riesigen Kräne, die unten bei Wallsend über dem Fluss aufragten. Und stark, dachte Julie, das betraf nicht nur ihren Körper. Diese Polizistin war eine starke Frau. Wenn sie einmal einen Entschluss gefasst hatte, konnte sie nichts mehr davon abbringen. Julie fand diesen Gedanken merkwürdig tröstlich.

«Ich denke, Sie brauchen etwas frische Luft», sagte die Polizistin.

Julie blickte sie wohl mindestens so verständnislos an, wie Luke manchmal geschaut hatte, wenn er so gar nicht begriff, wovon man eigentlich redete.

«Sie werden bald kommen und Luke abholen», sagte die Polizistin sanft. Vera hieß sie. Das hatte sie Julie ganz am Anfang des Gesprächs gesagt, aber es war ihr gerade erst wieder eingefallen. «Und die Nachbarn werden alle aus den Fenstern hängen. Ich dachte, da müssen Sie vielleicht nicht unbedingt dabei sein. Aber wenn Sie wollen, können Sie ihn auch verabschieden. Ihre Entscheidung.»

Julie sah den im Badewasser versunkenen Körper ihres Sohnes wieder vor sich und verspürte Übelkeit. Sie wollte nicht daran denken.

«Wo sollen wir denn hingehen?»

«Wohin Sie wollen. Ist doch ein schöner Tag für einen Strandspaziergang. Sie können Laura mitnehmen.»

«Luke war immer gern am Strand», sagte Julie. «Einmal ging er einen ganzen Sommer lang jeden Tag zum Angeln. Mein Vater hatte ihm eine alte Angel geschenkt. Er hat natürlich nie etwas gefangen, aber zumindest hat er in der Zeit keinen Blödsinn gemacht.»

«Na also.»

Sie hatten Laura dazu gebracht, sich in Sals Gästezimmer hinzulegen. Die Polizistin begleitete Julie nach oben, um das Mädchen zu fragen, ob es mit auf den Spaziergang kommen wolle. Julie hatte den Eindruck, dass diese Vera ziemlich neugierig war. Solche Leute, die ihre Nase ständig in die Angelegenheiten anderer steckten, waren ihr schon öfter begegnet. Als gute Polizistin musste man wahrscheinlich so sein. Und jetzt schien Vera sich in den Kopf gesetzt zu haben, mehr über Laura zu erfahren. Wenn sie zusammen spazieren gingen, würde sie Laura dazu bringen wollen, ihr etwas von sich zu erzählen. Bestimmt glaubte sie, Julie habe das Mädchen vernachlässigt und sich nur um Luke gekümmert.

Laura schlief immer noch. «Ich will sie nicht wecken», sagte Julie rasch. «Am besten lassen wir sie einfach hier bei Sal.»

«Ganz wie Sie wollen, Herzchen.» Veras Tonfall war gelassen und entspannt, doch Julie spürte, dass sie enttäuscht war.

Als sie aus Sals Haus kamen und zu Veras Wagen gingen, war ringsum kein Mensch zu sehen, doch Julie war überzeugt, dass alle sie beobachteten. Sie hätte es ja selbst ganz genauso gemacht, hätte sich ins Schlafzimmer geschlichen, das nach vorne rausging, und sich hinter der Gardine die Nase an der Scheibe platt gedrückt, wenn sich irgendein anderes Drama in der Straße abgespielt hätte. Irgendein Drama, an dem sie nicht direkt beteiligt war.

Vera hielt vor den Dünen von Deepden. Auf der einen Seite der Fahrbahn lag ein kleines Naturschutzgebiet: ein hölzerner Unterstand über einem kleinen Teich, zwei aus Planken bestehende Gehwege. Ein Stück weiter weg befand sich der Bungalow, wo die Vogelkundler ihren Beobachtungsposten aufschlugen; der Garten war so zugewuchert, dass man das Haus kaum erkennen konnte. Auf der dem Meer zugewandten Seite lag ein mit kleinen gelben Blumen gesprenkeltes Wiesenstück, dahinter erstreckten sich die Dünen. Manchmal, wenn Geoff Lust hatte, glückliche Familie zu spielen, waren sie mit den Kindern hierhergefahren, das hatten sie immer toll gefunden. Plötzlich stand Julie ein Bild des etwa achtjährigen Luke vor Augen, hoch in der Luft, wie er von einem Sandhügel sprang. Vielleicht gab es ja ein Foto davon. Sie sah ihn genau vor sich: die abgeschnittene, ausgefranste Jeans, das rote T-Shirt, den halb freudig, halb ängstlich aufgerissenen Mund.

Trotz des schönen Wetters standen kaum Autos hier. Es war Donnerstagvormittag, die Kinder waren noch in der Schule, und so konnten nur ein paar rüstige Rentner mit ihren Hunden die Sonne genießen. Plötzlich fiel Julie etwas ein.

«Ich muss doch zur Arbeit. Ins Altenheim. Mary wartet sicher schon auf mich.»

«Sal hat sie gleich heute früh angerufen. Mary hat schon eine Vertretung für Sie gefunden. Sie schickt Ihnen ganz herzliche Grüße und ihr Beileid.»

Julie blieb abrupt stehen und verursachte damit einen kleinen Erdrutsch. Feiner, trockener Sand rieselte ihr zwischen den Füßen hindurch. Mary Lee, die Leiterin des Altenheims, war eine pragmatische, unsentimentale Frau. Herzliche Grüße, das passte gar nicht zu ihr.

«Haben Sie meinen Eltern auch Bescheid gesagt?»

«Ja. Noch gestern Nacht, gleich nachdem ich hier eingetroffen bin. Sie wollten vorbeikommen. Aber Sie meinten, Sie wollten lieber ein bisschen allein sein.»

«Ehrlich?» Julie versuchte sich zu erinnern, aber die vergangene Nacht war hinter einem Nebel aus Gefühlen verschwunden. So ähnlich hatte sie sich damals gefühlt, als sie Bevs Junggesellinnenabschied gefeiert hatten und sie mit einer Alkoholvergiftung in der Notaufnahme gelandet war. Dasselbe unwirkliche Albtraumgefühl, zerhackte Bilder, aufblitzende Schatten.

Sie gingen weiter, erreichten den höchsten Punkt der Dünen und schlitterten hangabwärts Richtung Strand. Julie hatte ihre Turnschuhe ausgezogen und sie sich an den Schnürsenkeln zusammengebunden über die Schulter gehängt. Vera trug Sandalen, die sie anbehielt. Noch im Wagen hatte sie einen riesigen weißen Sonnenhut und eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt. «Die Sonne bekommt mir nicht so gut», hatte sie erklärt. Eigentlich sah sie ein bisschen so aus, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Wäre Julie ihr bei einem ihrer Besuche bei Luke im St. George’s begegnet, hätte sie sie für eine Patientin gehalten. Keine Frage.

Sie befanden sich am südlichen Ende eines langen Strandstücks, das sich über gut sechs Kilometer erstreckte. Richtung Norden lief der Sand in einer schmalen Landzunge aus, wo der Leuchtturm stand, der im Hitzedunst kaum zu erkennen war.

«Das Leben mit Luke war sicher nicht leicht», sagte Vera.

Julie blieb wieder stehen. Sie spürte den salzigen Wind, den es nur direkt am Meer gab. In der Ferne erkannte sie drei winzige Gestalten: zwei alte Leutchen und ein Hund, die mit einem Ball spielten. Sie hoben sich vor dem blendend hellen Licht nur als Umrisse ab.

«Sie glauben, ich habe ihn getötet», sagte sie.

«Haben Sie das denn?» Der Gesichtsausdruck der Polizistin war hinter Hut und Sonnenbrille verborgen.

«Nein.» Plötzlich versiegten die Worte, all die Worte, die aus Julie herausgesprudelt waren, seit sie ihren toten Sohn gefunden hatte. Sie konnte der Frau nicht erklären, dass sie niemals dazu fähig wäre, Luke auch nur irgendwie zu verletzen, nachdem sie die letzten sechzehn Jahre damit zugebracht hatte, ihn vor aller Welt zu beschützen. Sie öffnete den Mund und hatte das Gefühl, am trockenen Sand zu ersticken. «Nein», sagte sie noch einmal.

«Natürlich nicht», sagte Vera. «Wenn ich auch nur den kleinsten Verdacht hätte, dass Sie es waren, säßen wir jetzt zusammen auf dem Revier, das Aufnahmegerät liefe, und Sie hätten einen Anwalt bei sich. Sonst würde ja nichts von dem, was Sie mir sagen, vor Gericht als Beweis zugelassen. Aber fragen musste ich natürlich. Sie könnten ihn nämlich durchaus umgebracht haben. Als Sie nach Hause gekommen sind, war er noch gar nicht lange tot. Und physisch wären Sie sicher dazu in der Lage gewesen. Außerdem ist der Täter in den meisten Fällen ein Familienmitglied.» Sie schwieg kurz und wiederholte dann noch einmal: «Fragen musste ich.»

«Dann glauben Sie mir also?»

«Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. Sie könnten ihn durchaus getötet haben, weil er Sie beispielsweise bis zum Äußersten gereizt hat und Sie nicht mehr mit ihm klargekommen sind. Aber das hätten Sie uns erzählt. Außerdem waren Sie der festen Überzeugung, er hätte sich das Leben genommen. Als ich kam, dachten Sie, er hätte Selbstmord begangen, und machten sich Vorwürfe deswegen.»

Sie gingen jetzt über festen Sand, den die Flut zurückgelassen hatte. Julie krempelte die Beine ihrer Jeans hoch und ließ das Wasser über ihre Füße schwappen. Die Polizistin musste ein Stück zurückbleiben, um ihre Sandalen nicht nass zu machen, und Julie schaute aufs Meer hinaus, damit Vera ihre Tränen nicht sah.

«Aber irgendwer hat ihn umgebracht», sagte Vera. Julie konnte sie kaum verstehen. Obwohl das Meer ganz ruhig war und kaum Wellen warf, hörte man doch immer noch ein leises Schmatzen, wenn das Wasser wieder zurückwich. «Irgendwer hat ihn erwürgt und ihn anschließend nackt ausgezogen. Irgendwer hat die Badewanne gefüllt, ihn hineingelegt und die Blumen auf dem Wasser verstreut.»

Julie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, deshalb schwieg sie.

«Hatten Sie die Blumen im Haus?», fragte Vera.

Julie drehte sich wieder zu ihr um. «Ich habe nie Blumen im Haus. Laura hat Heuschnupfen. Ihr tränen die Augen davon.»

«Was ist mit dem Garten?»

«Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst. In unserem Garten wächst absolut nichts. Mein Vater kommt hin und wieder vorbei und mäht den Rasen, aber wir haben uns nie die Mühe gemacht, irgendwas zu pflanzen. Da ist ja gerade mal genug Platz für die Wäschespinne.»

«Dann hat der Mörder die Blumen also selbst mitgebracht. Wir gehen jetzt der Einfachheit halber mal von einem männlichen Mörder aus. Mörder sind meistens Männer. Was natürlich nicht heißt, dass wir irgendetwas ausschließen. Aber wieso hatte er Blumen dabei? Fällt Ihnen dazu etwas ein?»

Julie schüttelte den Kopf, doch plötzlich erinnerte sie sich doch.

«Sie haben Blumen dort verstreut, wo Thomas ertrunken ist. Sie haben die Blüten in den Fluss geworfen. Alle Nachbarn aus der Straße, wo seine Mutter wohnte, selbst die, die ihn gar nicht kannten oder ihn nicht mochten. Sie wollten damit ihr Mitgefühl ausdrücken. Dass sie wissen, was für ein schlimmer Verlust das ist, wenn jemand sterben muss, weil ein paar Jungs herumblödeln. Luke war auch dort. Ich hatte ihm bei Morrison’s ein paar Narzissen gekauft.»

«Blumen als Zeichen von Trauer und Anteilnahme», sagte Vera. «Ein universelles Symbol.»

Julie wusste nicht recht, was sie damit meinte.

«Wollen Sie damit sagen, dass es Lukes Mörder leidgetan hat?»

«Vielleicht.»

«Aber wenn es ihm leidtut … irgendwie ja schon im Voraus leidgetan haben muss, falls die Blumen das wirklich bedeuten … warum hat er ihn dann überhaupt umgebracht? Es hat ihn ja wohl keiner gezwungen, bei mir einzubrechen und ihn zu töten.»

«Es war kein Einbruch», sagte Vera.

«Wie bitte?»

«Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich jemand gewaltsam Zutritt verschafft hat. Kein eingeschlagenes Fenster oder so was. Es sieht alles danach aus, als hätte Luke ihn selbst hereingelassen. Oder Laura.»

«Das war sicher Luke», sagte Julie unglücklich. «Er ließ sich immer gleich von jedem um den Finger wickeln. Wenn er Geld hatte, bekam jeder Bettler auf der Straße etwas ab. Er hätte jeden reingelassen, der klingelt und ihm irgendeine Geschichte erzählt. Laura ist da vernünftiger.»

«Haben Laura und Luke sich gut verstanden?»

«Was wollen Sie denn damit sagen?» Dass die Polizistin sie des Mordes verdächtigte, war ja schon ein starkes Stück, aber Laura! «Laura ist vierzehn, sie ist noch ein Kind!»

«Es gibt nun mal bestimmte Fragen, die ich Ihnen stellen muss», erwiderte Vera. «Das wissen Sie selber, Sie sind doch nicht blöd.» Sie schwieg einen Augenblick. «Und Sie wissen auch, dass ich irgendwann mit ihr reden muss. Im Moment geht das noch nicht, aber wenn sie so weit ist, muss ich mich mit ihr unterhalten. Da ist es besser, wenn ich vorher weiß, wie das Verhältnis zwischen den beiden war. Kann es zum Beispiel sein, dass Luke ihr etwas anvertraut hat? Wenn ihm etwas Sorgen gemacht hat, würde sie das wissen?»

«So eng waren sie nicht», sagte Julie. «Für Laura war es nicht leicht, so einen Bruder zu haben. Er kriegte ja immer die ganze Aufmerksamkeit. Natürlich habe ich versucht, mich auch um sie zu kümmern, aber um ihn habe ich mir einfach immer Sorgen gemacht. Ich glaube, es war sehr schwierig für sie, mit ihm auf derselben Schule zu sein. Alle wussten, dass er ständig Ärger hatte. Und alle machten sich über ihn lustig. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie ihm etwas Böses wollte.»

«Nein», sagte Vera. «Natürlich nicht.»

Zwei halbwüchsige Jungs rannten über die Dünen zum Strand herunter. Richtige Nichtsnutze – das merkte man daran, wie sie sich gegenseitig mit Sand bewarfen und sich Schimpfwörter zubrüllten. Sie waren etwa so alt wie Luke. Wahrscheinlich schwänzten sie die Schule. Julie presste die Lippen zusammen und konnte sich nur schwer davon abhalten, loszuheulen.

«Mit welchem Taxiunternehmen sind Sie gestern nach Hause gekommen?» Die Frage kam völlig unerwartet. Julie spürte, dass Vera sie ablenken wollte, und war ihr dankbar dafür.

«Foxhunters in Whitley Bay. Wir hatten den Wagen schon vorher bestellt. Der Fahrer hat erst Lisa und Jan abgesetzt. Ich war die Letzte.» Sie schwieg kurz. «Er kann das sicher bestätigen. Ich war ja erst ganz kurz wieder zu Hause, als ich bei Sal Sturm geklingelt habe. Wenn er erst zum Wenden bis ans Ende der Straße gefahren ist, hat er mich vielleicht noch vor ihrer Haustür gesehen.»

«Mich interessiert mehr, wen er sonst noch in der Straße gesehen hat. Ist Ihnen vielleicht jemand aufgefallen?»

Julie schüttelte den Kopf.

«Denken Sie nochmal ganz in Ruhe nach», sagte Vera. «Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein. Versuchen Sie, die ganze Situation nochmal wie einen Film im Kopf nachzuspielen, und erzählen Sie es mir. Von dem Moment an, als das Taxi vor Ihrem Haus hielt.»

Und so schloss Julie an diesem breiten, menschenleeren Strand die Augen, während über ihr die Möwen kreischten und die Wellen um ihre Füße spielten, und spürte noch einmal das Schwindelgefühl, das sie überfallen hatte, als sie aus dem Taxi gestiegen war. «Ich war betrunken», sagte sie. «Nicht sturzbesoffen, aber doch nicht so ganz da. Alles hat sich gedreht. Kennen Sie das?» Sie hatte das Gefühl, dass Vera auch schon einige Male betrunken gewesen sein musste. Wahrscheinlich konnte man sich mit ihr sogar ziemlich gut betrinken.

«Ja.» Sie ließ Julie ein wenig Zeit. «Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches gehört?»

«Gar nichts. Mir ist eher aufgefallen, wie still es war. Sonst hört man immer den Verkehr von der Hauptstraße, die durch das Dorf geht. Eigentlich hört man ihn schon gar nicht mehr, weil er eben immer da ist. Aber gestern Nacht war es ganz still. Zumindest, als ich die Tür aufgeschlossen habe.» Sie runzelte die Stirn.

«Und später? Als die Tür schon offen war?»

«Da fuhr draußen auf der Straße ein Wagen an.»

«War das vielleicht das Taxi, das gewendet hat?»

«Nein. Es war ein Auto, das gerade angelassen wurde, der Motor hat aufgeheult. Das ist ja ein ganz anderes Geräusch, als wenn der Motor bereits läuft.»

«Stimmt», bestätigte Vera.

«Es muss ein Stück weiter in der Straße geparkt haben, an der Kreuzung, wo es dann zur Stadt weitergeht. Zumindest kam das Geräusch von da.»

«Dann sind Sie also mit dem Taxi an dem Wagen vorbeigefahren, als Sie nach Hause kamen.»

«Bestimmt.»

«Aber aufgefallen ist es Ihnen wahrscheinlich nicht, oder? Ein fremdes Auto, das keinem der Nachbarn gehört?» Veras Ton klang so betont beiläufig, dass Julie gleich merkte, wie wichtig die Antwort auf diese Frage war.

«Nein», sagte sie. «Ich glaube nicht.» Trotzdem schloss sie noch einmal die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie waren über die kleine Brücke gekommen, und sie hatte sich zum Fahrer vorgebeugt und ihn gebeten, langsamer zu fahren, weil sie schon fast da seien. Gleich da an der Ecke kommt eine ganz gemeine Rechtskurve. Gleichzeitig hatte sie in der Handtasche nach ihrer Geldbörse gekramt, um nicht im letzten Moment das Geld zusammensuchen zu müssen, was ihr immer unangenehm war. Lisa und Jan hatten ihr schon mehr als ihren jeweiligen Anteil gegeben, genug Geld musste sie also haben. Es kam ihnen niemand entgegen, das Taxi war in ihre Straße eingebogen, ohne anzuhalten. Und da stand ein Auto. Fast an der Ecke. Direkt vor Mr Greys Bungalow. Sie hatte sich noch gewundert, weil Mr Grey nicht mehr selber fuhr, seit man bei ihm Parkinson diagnostiziert hatte, und die ganze Straße wusste, dass sein einziger Sohn in Australien lebte. Das fiel ihr jetzt wieder ein, weil sie sich gefragt hatte, ob es vielleicht einem Arzt gehörte, ob es irgendeinen Notfall gegeben hatte. Sie hatte geschaut, ob Licht im Haus brannte, aber drinnen war alles dunkel. Und das Auto war ohnehin viel zu klein. So was fuhr kein Arzt.

Das alles erzählte sie Vera jetzt.

«Aber ich weiß nicht, was es für eine Marke war.»

«Macht nichts, Herzchen. Das ist doch schon mal ein Anfang. Vielleicht haben Ihre Nachbarn ja was gesehen.»

Die beiden Jungs spielten inzwischen mit einem Fußball und warfen ihn so fest in den nassen Sand, dass ihre Klamotten mit Matschspritzern gesprenkelt waren. Die Mütter kriegen einen Anfall, dachte Julie.

«Fahren wir nach Hause», sagte Vera. «Einverstanden?»

Fast hätte Julie geantwortet, dass sie nie mehr zurück nach Hause wollte.

«Laura ist inzwischen sicher wach. Sie braucht Sie.» Damit drehte Vera sich um und stapfte auf die Dünen zu, und Julie blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Als sie in ihre Straße einbogen, hatte sie das Gefühl, als sähe sie alles dort zum ersten Mal. In Gedanken war sie immer noch am Strand, sie hatte das Kreischen der Möwen im Ohr und die Weite vor Augen. Es fiel ihr schwer, diese Straße als ihr Zuhause zu betrachten. Eine Sackgasse, dahinter urbar gemachtes Ackerland. Früher wurde dort die Schlacke aus dem Bergwerk abgeladen, inzwischen erstreckten sich Felder bis zur Küste. Auf der einen Straßenseite standen kleinere Bungalows speziell für ältere Leute, die alle mit einer Rampe und einem Geländer versehen waren, auf der anderen Reihenhäuser, die früher einmal Sozialwohnungen gewesen, inzwischen aber alle in Privatbesitz waren. Wäre das auch passiert, fragte sich Julie, wenn wir woanders gewohnt hätten?

Vera bat sie, ihr ganz genau zu zeigen, wo sie das Auto in der Nacht zuvor gesehen hatte, und Julie gab sich alle Mühe, konnte sich aber nicht recht konzentrieren. Stattdessen überlegte sie ununterbrochen, was sie hätte tun können, um ihren Sohn zu retten. Sie hätte umziehen, nicht mit den Mädels ausgehen oder Luke doch in eine Sonderschule geben sollen, ein Internat vielleicht, wo man sich richtig um ihn gekümmert hätte.

Vera brachte den Wagen langsam zum Stehen, direkt vor dem Haus. Vor der Tür stand immer noch der Polizist, doch Julie wusste, dass Luke fort war.