KAPITEL SIEBEN

Es war Freitagnachmittag, und auf der zweispurigen Autobahn, die von Newcastle an die Küste führte, staute sich der Verkehr. Die Leute hatten frühzeitig Feierabend gemacht, um noch etwas von der Sonne zu haben. Bei heruntergelassenen Fenstern und lauter Musik hatte das Wochenende bereits begonnen. Luke Armstrongs Vater wohnte ganz in der Nähe der Küstenstraße, in einem großen, neu angelegten Wohnviertel gleich außerhalb von Wallsend. Vera wusste, dass es eigentlich nicht ihre Sache war, mit ihm zu reden. Solche Kleinarbeiten hätte sie ihren Mitarbeitern überlassen sollen. Wie sollten sie es sonst auch lernen? Aber sie war nun einmal besonders gut darin. Und wenn sie an Julie Armstrong dachte, die jetzt allein mit ihrer Tochter und ihren Erinnerungen in dem Haus in Seaton saß, war sie sicher, dass sie es niemandem sonst überlassen konnte.

Die Armstrongs bewohnten eine Doppelhaushälfte aus Backstein mit einem kleinen Vorgarten, den eine Lavendelhecke von dem der Nachbarn trennte, sowie einer mit Natursteinen gepflasterten Zufahrt und einer angebauten Garage. Die Bauherren hatten jeden Zentimeter des Areals, das früher drei Kohlezechen beherbergt hatte, gewinnbringend genutzt, und das Ergebnis war ein ganz angenehmes Wohngebiet, wenn man nichts gegen diese Art des gemeinschaftlichen Wohnens hatte: lauter kleine Sackgassen, in denen die Kinder gefahrlos Rad fahren konnten. Die Bäume, die in den Gärten gepflanzt worden waren, wuchsen langsam heran. Draußen vor den Häusern hingen Blumenampeln, in den Einfahrten parkten blitzsaubere Autos. Kein Grund, die Nase zu rümpfen, ermahnte sich Vera.

Sie war nicht sicher, ob Geoff Armstrong überhaupt zu Hause sein würde. Als sie angerufen hatte, war ein Anrufbeantworter angesprungen, doch sie hatte keine Nachricht hinterlassen. Im Grunde war es ihr sogar lieber, ihn unvorbereitet anzutreffen. Langsam fuhr sie die Straße entlang, auf der Suche nach dem richtigen Haus. Es war drei Uhr, aus der Grundschule an der Ecke stürmten die jüngeren Kinder nach draußen. Die Mütter, die auf dem Schulhof warteten, hatten einen rosigen Teint und wirkten leicht benommen nach dem sonnigen Tag. Vera stand bereits vor der Haustür und hatte gerade geklingelt, als Armstrong die Einfahrt hinaufkam. Er hielt ein kleines Mädchen an der Hand, das gerade erst in die Schule gekommen sein konnte und aussah wie der Traum einer jeden Werbeagentur: blonde Locken, Sommersprossen und riesige braune Augen und dazu das obligatorische rote Trägerkleid aus Baumwollstoff.

«Ja?», sagte Geoff Armstrong. Es war nur ein Wort, doch Vera hörte den aggressiven Unterton, der Julie solche Angst gemacht hatte.

Bevor sie noch antworten konnte, wurde die Haustür geöffnet. Im Türrahmen stand eine zierliche Frau. Sie trug einen Bademantel und blinzelte ins Sonnenlicht, schien es aber nicht weiter unangenehm zu finden, sich in diesem Aufzug zu zeigen. Sie wusste offenbar, dass sie trotzdem noch gut aussah.

«Kath arbeitet in der Nachtschicht», erklärte Armstrong ungeduldig. «Ich komme freitags extra früher von der Arbeit, um Rebecca abzuholen, damit sie eine Stunde länger schlafen kann.»

«Tut mir leid, Herzchen», sagte Vera, an die Frau gewandt. «Das hat mir keiner gesagt.» Dann kramte sie ihren Polizeiausweis hervor, sodass beide ihn sehen konnten. «Darf ich reinkommen?»

Sie setzten sich in die kleine Küche, nachdem Rebecca mit einem Glas Saft und ein paar Keksen vor einer Kindersendung geparkt worden war. Kath setzte Wasser auf und zog sich dann zurück, um sich anzuziehen. Als Vera sich erneut entschuldigen wollte, weil sie sie geweckt hatte, winkte sie nur ab.

«Bei dem Wetter kann doch sowieso kein Mensch schlafen. Die Leute hören im Garten Radio, die Kinder spielen draußen. Außerdem ist das doch auch wichtig. Der arme Luke.» Sie blieb noch einen Moment in der Tür stehen und ging dann nach oben. Sie hörten sie über sich: Schritte, eine Schranktür, die geöffnet wurde, dann das Rauschen der Dusche.

Sie hatten sich auf die hohen Barhocker vor der Frühstückstheke gesetzt, und Vera dachte sich, dass sie wahrscheinlich zum Schießen aussahen, wie zwei übergewichtige Zwerge auf langstieligen Pilzen. «War Luke denn oft hier?», fragte sie Geoff Armstrong.

«Bevor er krank wurde, ja. Öfter als Laura. Ich hatte gedacht, sie freut sich, als Kath ein Baby bekam. Eine kleine Schwester. Aber irgendwie kann sie Rebecca nicht leiden. Luke hatte einen viel besseren Draht zu ihr, schon als sie noch ganz klein war.»

«Und seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er nicht mehr hier?»

«Nein. Kath wollte ihn eigentlich letztes Wochenende holen, aber ich war mir nicht sicher …»

«Sie waren in Sorge wegen der Kleinen?»

«Nicht, dass er ihr etwas tun würde oder so was. Aber ich dachte, es würde sie vielleicht verstören, wenn er sich seltsam benimmt.» Armstrong schwieg einen Moment. «Als ich noch zu Hause wohnte, konnte ich nie besonders gut mit Luke. Kath meint, das wäre verletzter Stolz. Ich wollte einen kräftigen, ehrgeizigen, sportlichen Sohn, der so ist wie ich, nur eben noch besser. Wahrscheinlich habe ich mich irgendwie geschämt, weil er so anders war als die anderen Jungs.»

Vera dachte, dass Geoff Armstrong sich seit der Trennung von Julie offensichtlich verändert haben musste. Kath schien einen mildernden Einfluss auf ihn zu haben. Vielleicht hatte sie ihm aber auch nur beigebracht, den Schein zu wahren.

«Sie haben ihm gegenüber oft die Beherrschung verloren.»

Er sah sie entsetzt an, und Vera rief sich in Erinnerung, dass er ein trauernder Vater war. Sie hatte kein Recht, so mit ihm zu reden.

«Es war eine schlimme Zeit damals», sagte er. «Ich hatte meine Stelle verloren, wir hatten kein Geld, und Julie und ich stritten ständig. Zuletzt habe ich aber immer versucht, mehr auf ihn einzugehen. Dann ist dieser Junge ertrunken, mit dem er so viel zusammen war, und das hat Luke völlig aus der Bahn geworfen. Man kam überhaupt nicht mehr an ihn ran.»

«Haben Sie ihn im Krankenhaus besucht?»

«Kath und ich sind zusammen hin. Alleine hätte ich das sicher nicht gepackt. Die ersten paar Male war er total mit Medikamenten vollgepumpt. Ich weiß gar nicht, ob er mitgekriegt hat, dass wir da waren. Aber irgendwie schien er immer noch wahnsinnige Angst zu haben. Andauernd ist er zusammengezuckt, wenn jemand unvermittelt auf ihn zukam oder so. Als es ihm besserging, haben wir ihn einmal einen Nachmittag rausgeholt. Wir waren Pizza essen, ein bisschen in Morpeth spazieren. Er hat wieder mehr geredet, war aber immer noch schreckhaft. Er meinte, es wäre seine Schuld gewesen, dass der Junge ertrunken ist. Und als wir an die Brücke kamen, drüben am Fluss bei der Kirche, Sie wissen schon, da hat er völlig die Nerven verloren. Er hat nur noch geheult und gezittert. Wir haben es gerade noch so geschafft, ihn wieder halbwegs zu beruhigen, bevor wir ins Krankenhaus zurückmussten.»

«Hat er Ihnen denn gesagt, wovor er solche Angst hat? Gab ihm irgendwer die Schuld am Tod des Jungen?»

«Er konnte sich schon vor dem Zusammenbruch nicht sonderlich gut ausdrücken. Klar haben wir ihn gefragt, aber das schien es nur noch schlimmer zu machen.»

«Aber Sie haben ihn dann noch zweimal besucht, als er wieder zu Hause war?»

«Ja, da machte er einen viel besseren Eindruck. Julie meinte zwar, er will das Haus nicht verlassen. Aber er schien gefasst.»

«Seine Schwester hat sich sicher gefreut, ihn wieder zu Hause zu haben.»

Armstrong beugte sich vor und stützte die Arme auf die Frühstückstheke. Er hatte harte, schwielige Hände mit auffallend kurzen Nägeln. «Kann schon sein.» Er schwieg einen Moment, musterte seine Hände. «Aber es war auch für sie nicht leicht. Meistens kam sie nicht sonderlich gut mit Luke aus. Sie kommt wohl zu sehr nach ihrem Vater, um wirklich tolerant zu sein. Vielleicht hat es sie auch einfach genervt, dass ihre Mutter sich eigentlich immer nur mit ihm befasst hat.»

Sie hörten, wie oben eine Tür zufiel, dann kamen Schritte die Treppe hinunter, und Kath schaute in die Küche. Sie trug ihre Schwesterntracht und hatte sich die Haare hochgesteckt.

«Darf ich? Oder wollen Sie lieber mit Geoff allein reden?»

«Immer rein mit Ihnen», sagte Vera. «Jetzt kommt nämlich der schwierige Teil des Gesprächs, da kann ich Ihre weibliche Vernunft gebrauchen. Dann geht Ihr Mann vielleicht nicht gleich an die Decke.»

«Was meinen Sie denn damit?»

«Ich muss Sie beide fragen, wo Sie waren, als Luke ermordet wurde. Das heißt nicht, dass ich glaube, Sie hätten etwas mit dem Mord zu tun, aber fragen muss ich. Das verstehen Sie doch?»

«Natürlich», sagte Kath.

«Geoff?»

Er nickte widerwillig.

«Ich war bei der Arbeit», sagte Kath. «Ich arbeite in der gynäkologischen Abteilung des Royal Victoria. Wir waren zu dritt. An dem Abend war die Hölle los. Zwei Notfälle aus der Unfallstation, ich hatte nicht mal Zeit, eine Pause zu machen. Und Geoff war die ganze Nacht hier bei Rebecca.»

«Übernehmen Sie immer die Nachtschicht?»

«Ja, zumindest seit ich wieder angefangen habe, nach Rebeccas Geburt. Das funktioniert ganz gut für uns. Geoff ist selbständig. Die meisten Aufträge bekommt er von einem Bauunternehmer in Shields, Barry Middleton. Geoff übernimmt alle Stuck- und Schreinerarbeiten für ihn. Barry hat einen guten Ruf, es gibt regelmäßig Arbeit, aber Geoff kann sich seine Zeit trotzdem selbst einteilen und Familie, Schule und Ferien mit einplanen. Wenn ich morgens nach Hause komme, hat er Rebecca schon für die Schule fertig gemacht, und freitags holt er sie auch ab. Und wenn ich abends ins Krankenhaus muss, geht sie sowieso bald ins Bett. So kommen wir zwar beide nicht oft unter die Leute, aber Rebecca hat so viel wie möglich von uns.»

«Ist Ihre Tochter in der Nacht, als Luke ermordet wurde, irgendwann aufgewacht?»

Sie hatte die Frage eigentlich an Geoff gerichtet, doch wieder antwortete Kath. «Sie wacht niemals auf! Das ist ein echtes Phänomen. Seit sie sechs Wochen alt ist, schläft sie durch. Wenn sie einmal im Bett liegt, hört man bis sieben Uhr morgens keinen Pieps mehr von ihr.»

Eine unbehagliche Stille hing im Raum. Noch während sie sprach, schien Kath zu begreifen, wie man ihre Worte auch auslegen konnte. «Aber er würde sie natürlich niemals allein lassen!», setzte sie eilig hinzu. «Sie haben ihn doch mit ihr gesehen. Er würde niemals aus dem Haus gehen und sie hier allein lassen.»

«Geoff?»

«Natürlich habe ich sie nicht allein gelassen», sagte er, und Vera spürte, wie er sich am Riemen riss, wie um ihr und Kath zu beweisen, dass er dazu fähig war, dass er nicht mehr einfach so die Beherrschung verlor. «Ich käme nicht mal bis zum Ende der Straße, ohne mir die schrecklichsten Sachen auszumalen. Dass ein Brand ausbricht. Dass sie plötzlich krank wird. Das würde ich niemals tun. Außerdem konnte ich Luke doch besuchen, wann ich wollte. Wieso sollte ich dann mitten in der Nacht hinfahren?»

«Fein», sagte Vera. «Dann können wir ja jetzt weitermachen, wo das aus der Welt geschafft ist.» Dabei war es gar nicht aus der Welt. Zumindest nicht völlig. Er konnte ja auch jemand anders gebeten haben, bei Rebecca zu bleiben. Und wenn er verzweifelt genug gewesen wäre, hätte er sie sicher auch allein gelassen, ganz gleich, was er vor seiner Frau behauptete. Gleich morgen mussten ihre Leute den Nachbarn auf den Zahn fühlen und überprüfen, ob jemand zum Babysitten bestellt worden war oder irgendwer Geoffs Wagen aus der Garage hatte fahren sehen. Sie holte tief Luft. «Können Sie sich vorstellen, wer Luke getötet haben könnte? Julie sagt, es hätte niemanden gegeben, der ihm etwas wollte, aber eine Mutter glaubt natürlich nie, dass ihr Sprössling auch nur irgendetwas falsch machen kann. Ich brauche einen Hinweis, einen Ausgangspunkt für die Ermittlungen.»

Aus dem Wohnzimmer hörte man, wie die Kleine ein Lied im Fernsehen mitträllerte. Vera verstand nicht viel von Kindern, hielt aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie derart pflegeleicht waren, für nicht sonderlich hoch. Dieser Haushalt hier war ganz anders als der in Seaton, wo Luke aufgewachsen war. Alles wirkte ruhig und geordnet. Die Familie war ein eingespieltes Team. Julie dagegen schien immer ein wenig Dramatik in ihrem Leben zu brauchen. Vera sah das Paar unverwandt an.

«Luke konnte einen schon auf die Palme bringen», sagte Armstrong. «Dabei wollte er das gar nicht. Er hat nur einfach oft nicht kapiert, was man von ihm wollte. Man bat ihn um etwas, und er schaute einen an, als wäre man selber blöd, weil man von ihm erwartet, dass er das begreift. Ich kann mir schon vorstellen, dass er sich damit manchmal Ärger eingehandelt hat. Manche von den Gestalten, mit denen er so zu tun hatte, sind es gewohnt, dass man sie mit Respekt behandelt.»

«Die Sharps beispielsweise?»

«Möglich, ja.»

«Haben die Sharps Luke die Schuld am Tod ihres Sohnes gegeben?»

Darüber musste Armstrong offenbar ein Weilchen nachdenken. «Ich habe nichts mit denen zu tun», sagte er schließlich. «Ich kann es also nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie sind zumindest nicht für übertriebene Geduld bekannt, wenn Sie wissen, was ich meine. Und unser Luke trieb noch den geduldigsten Menschen zur Weißglut. Wenn ihn beispielsweise einer von denen gefragt hätte, was genau an dem Abend passiert ist, als Thomas ums Leben kam, hätte Luke darauf nichts antworten können. Er wäre in Stress geraten und völlig durcheinandergekommen. Dann wäre ihm irgendwann kein Wort mehr eingefallen, und er hätte denjenigen einfach nur angestarrt. Und wie gesagt, das brachte einen auf die Palme. Es machte einen verrückt, selbst wenn man eigentlich gar nicht glaubte, dass Luke an der Sache schuld war.»

«Aber doch nicht verrückt genug, um bei ihm zu Hause vorbeizuschauen und ihn zu erwürgen», wandte Kath ein.

Armstrong zuckte die Achseln. «Sonst fällt mir keiner ein, der ihn umgebracht haben könnte.»

«Hat Luke Ihnen je von dem Unfall erzählt?»

«Nicht von dem Unfall direkt», sagte Kath. «Aber er war relativ kurz danach hier bei uns. Da hat er von den Blumen gesprochen, die sie in den Fluss geworfen haben. Er hat erzählt, wie schön das war. Julie war mit ihm dort, es schien ihn wirklich zu berühren. Es war sogar ein Foto davon auf der Titelseite des Chronicle, den hatte er mitgebracht, um es uns zu zeigen.»

Rebecca erschien in der Küchentür, blieb schüchtern stehen und beäugte neugierig die fremde Frau.

«Kannst du schon mal mit dem Abendessen anfangen, Geoff?», fragte Kath ihren Mann. «Ich muss mich langsam für die Arbeit fertig machen.»

Sie brachte Vera zur Haustür. In der Küche hatte Geoff das Radio eingeschaltet, und Rebecca und er sangen zu einem Popsong.

Vera hatte noch endlos viele Fragen. Sie wollte wissen, wie Kath und Geoff sich kennengelernt hatten. Was hatte sie an ihm gefunden? Wie hatte sie hinter der schroffen Fassade den hingebungsvollen Vater entdeckt? Aber das war wohl alles nur indiskret und ging sie auch gar nichts an, und so beschränkte sie sich auf eine einzige Bemerkung. «Ich habe gehört, Ihr Mann soll ziemlich jähzornig sein», sagte sie. «Davon merkt man ja nicht mehr viel.»

Kath hielt einen Augenblick inne, die Hand am Türknauf. «Er ist eben glücklich», sagte sie. «Er hat keinen Grund mehr, zornig zu sein.»

Vera fand, dass das etwas einstudiert klang. Viel zu schön, um wahr zu sein. Aber sie hakte nicht nach. Außerdem hatte sie noch einen Termin; sie musste einen weiteren Besuch machen.