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»Das führt uns ja ins Irrenhaus«, rief Spence.
»Na, ganz so arg ist es nicht«, erwiderte Poirot beschwichtigend.
»Das sagen Sie. Jedes neue Beweismaterial macht die Dinge noch schwieriger. Jetzt erzählen Sie mir, dass Mrs Upward drei Frauen angerufen hat, um sie für den Abend einzuladen. Warum drei? Wusste sie selbst nicht, wer von ihnen Lily Gamboll war? Oder geht es gar nicht mehr um Lily Gamboll? Nehmen Sie das Buch mit dem Namen Evelyn Hope. Das lässt doch vermuten, dass Mrs Upward und Eva Kane dieselbe Person sind.«
»Was genau mit James Bentleys Eindruck von dem übereinstimmt, was Mrs McGinty ihm gesagt hat.«
»Ich dachte, er wäre nicht sicher.«
»Er war sich nicht sicher. James Bentley könnte gar nicht irgendeiner Sache sicher sein. Er hat nicht ordentlich zugehört, als Mrs McGinty ihm etwas sagte. Aber wenn James Bentley den Eindruck hatte, dass Mrs McGinty von Mrs Upward sprach, kann das durchaus stimmen. Eindrücke sind oft richtig.«
»Unsere letzte Nachricht aus Australien – sie ist übrigens nach Australien gegangen, nicht nach Amerika – besagt, dass die fragliche Mrs Hope dort vor zwanzig Jahren starb.«
»Das habe ich schon gehört«, sagte Poirot.
»Sie wissen immer alles, nicht wahr, Poirot?«
Poirot überhörte diese Stichelei.
»Auf der einen Seite haben wir Mrs Hope, die in Australien starb, und auf der anderen?«
»Auf der anderen Seite haben wir Mrs Upward, die Witwe eines reichen Fabrikanten. Sie lebte mit ihm bei Leeds, und sie hatte einen Sohn. Bald nach der Geburt des Sohnes starb ihr Mann. Der Junge war schwindsüchtig, und nach dem Tod ihres Mannes lebte sie zumeist im Ausland.«
»Und wann beginnt diese Saga?«
»Diese Saga beginnt vier Jahre nachdem Eva Kane England verlassen hat. Upward hat seine Frau irgendwo im Ausland kennen gelernt und sie nach der Hochzeit mit nachhause gebracht.«
»So hätte Mrs Upward also Eva Kane sein können. Wie hieß sie als Mädchen?«
»Hargraves. Aber was hat ein Name zu sagen?«
»Sehr richtig. Eva Kane, oder Evelyn Hope, kann in Australien gestorben sein – aber sie kann auch nur dafür gesorgt haben, dass es nur so aussah, und dann als Miss Hargraves auferstanden sein und reich geheiratet haben.«
»Es ist alles so lange her«, sagte Spence. »Aber nehmen wir mal an, es sei wahr. Nehmen wir an, sie habe ein Bild von sich aufbewahrt und Mrs McGinty hat es gesehen – dann kann man nur annehmen, dass sie Mrs McGinty getötet hat.«
»Das wäre wohl möglich. Robin Upward sprach an dem Abend im Radio. Mrs Rendell sagte, sie wäre an dem Abend hingegangen, erinnern Sie sich? Und man hätte sie nicht gehört. Und Mrs Sweetiman behauptet, Janet Groom hätte ihr gesagt, dass Mrs Upward in Wirklichkeit gar nicht so gelähmt gewesen sei, wie sie immer tat.«
»Das ist alles schön und gut, Poirot, aber die Tatsache bleibt, dass sie selbst getötet wurde, nachdem sie eine Fotografie erkannt hat. Jetzt wollen Sie so tun, als hätten die beiden Morde nichts miteinander zu tun.«
»Nein, nein. Das sage ich nicht. Sie haben schon miteinander zu tun.«
»Ich geb’s auf.«
»Evelyn Hope. Da liegt der Schlüssel zum ganzen Rätsel.«
»Evelyn Carpenter? Meinen Sie die? Nicht Lily Gamboll, sondern Eva Kanes Tochter! Aber die würde doch gewiss nicht ihre eigene Mutter töten.«
»Nein, nein. Das ist kein Muttermord.«
»Was für ein aufreizender Teufel Sie sind, Poirot. Nächstens werden Sie noch behaupten, dass Eva Kane und Lily Gamboll und Janice Courtland und Vera Blake alle in Broadhinny wohnen. Alle vier Verdächtigen.«
»Wir haben mehr als vier Verdächtige. Eva Kane war doch Gouvernante bei den Craigs, vergessen Sie das nicht.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Wo es eine Gouvernante gibt, muss es auch Kinder geben – oder zumindest ein Kind. Was ist aus den Craig-Kindern geworden?«
»Da waren ein Bub und ein Mädel, glaube ich. Verwandte haben sie aufgenommen.«
»Also müssen wir mit noch zwei Personen rechnen. Zwei Personen, die aus dem dritten Grund, den ich erwähnt habe – Hass, Rachsucht –, eine Fotografie aufbewahrt haben können.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Spence.
Poirot seufzte.
»Wir müssen aber doch damit rechnen. Ich denke, ich kenne die Wahrheit – obwohl da eine Tatsache ist, die mich völlig verwirrt.«
»Ich bin froh, dass etwas Sie verwirrt«, grinste Spence.
»Bestätigen Sie mir etwas, mon cher Spence. Eva Kane hat England verlassen, ehe Craig hingerichtet wurde. Stimmt das?«
»Jawohl.«
»Und sie hat damals ein Kind erwartet?«
»Jawohl.«
»Bon Dieu, wie dumm bin ich gewesen«, sagte Hercule Poirot. »Das Ganze ist doch ganz einfach, nicht wahr?«
Nach dieser Bemerkung gab es beinahe einen dritten Mord – die Ermordung von Hercule Poirot durch Kommissar Spence im Polizeipräsidium von Kilchester.
»Ich möchte eine Voranmeldung«, sagte Hercule Poirot. »Mrs Ariadne Oliver.«
Eine Voranmeldung für Mrs Oliver war nicht leicht zu erreichen. Mrs Oliver arbeitete und durfte nicht gestört werden.
Aber Poirot blieb hartnäckig. Und dann hörte er die Stimme der Schriftstellerin.
Sie war böse und ziemlich atemlos.
»Na, was ist los? Müssen Sie mich gerade jetzt anrufen? Ich habe mir eben eine ganz wunderbare Geschichte von einem Mord in einer Tuchhandlung ausgedacht. Wissen Sie, diese altmodische Art Handlung, die Kombinationen verkauft und komische Westen mit langen Ärmeln.«
»Ich kenne mich in Tuchhandlungen nicht aus«, sagte Poirot. »Und jedenfalls ist das, was ich Ihnen zu sagen habe, viel wichtiger.«
»Das kann es gar nicht sein«, widersprach Mrs Oliver. »Nicht für mich, meine ich. Wenn ich nicht gleich eine Skizze meines Einfalls aufschreibe, vergesse ich ihn.«
Hercule Poirot kümmerte sich nicht um ihre schöpferischen Schmerzen. Er stellte schroff einige scharfe Fragen auf die Mrs Oliver nur unbestimmt antwortete.
»Ja, ja… es ist ein kleines Repertoiretheater… Ich weiß nicht, wie es heißt… Ja, einer davon hieß Cecil Soundso, und der, mit dem ich sprach, hieß Michael…«
»Wundervoll. Mehr wollte ich nicht wissen.«
»Aber warum Cecil und Michael?«
»Gehen Sie wieder an Ihre Kombinationen und langärmeligen Westen, Madame.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum Sie Dr. Rendell nicht verhaften«, sagte Mrs Oliver. »Wenn ich Chef von Scotland Yard wäre, würde ich’s tun.«
»Durchaus möglich. Ich wünsche Ihnen viel Glück beim Mord in der Tuchhandlung.«
»Jetzt ist die ganze Idee weg«, klagte Mrs Oliver. »Sie haben sie verdorben.«
Poirot entschuldigte sich gebührend.
Er legte den Hörer auf und lächelte Spence an.
»Jetzt werden wir – oder wenigstens ich werde es tun – mit einem jungen Schauspieler sprechen, dessen Vorname Michael ist und der die weniger wichtigen Rollen im Kleinen Theater von Cullenquay spielt. Ich bete nur, dass es der richtige Michael ist.«
»Warum denn bloß…?«
Poirot entzog sich geschickt dem aufsteigenden Zorn Kommissar Spences.
»Wissen Sie, cher ami, was ein secret de Polichinelle ist?«
»Wollen Sie mir eine Französischstunde geben?«, fragte Kommissar Spence wütend.
»Ein secret de Polichinelle ist ein Geheimnis, das jeder wissen kann. Darum erfahren die Leute, die es nicht kennen, nie etwas davon – denn wenn alle Leute glauben, dass man etwas weiß, dann erzählt es einem keiner.«
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich es fertig bringe, Sie nicht zu erschlagen«, wunderte sich Kommissar Spence.