22
Hercule Poirot fuhr in einem Mietwagen nach Broadhinny zurück.
Er war müde, weil er nachgedacht hatte. Nachdenken erschöpfte ihn immer. Und sein Nachdenken hatte ihn nicht völlig befriedigt. Es war, als wäre ein Muster, das man durchaus hätte sehen können, in einen Stoff gewebt, und als ob er dennoch, obgleich er den Stoff in der Hand hielt, das Muster nicht erkannte. Aber es war da. Darauf kam es an. Es war wirklich da.
Nicht weit außerhalb von Kilchester begegnete sein Auto dem Lieferwagen Summerhayes’, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Johnnie saß am Steuer, und er hatte einen Fahrgast.
Als Poirot in Long Meadows ankam, ging er ins Wohnzimmer. Er entfernte ein Sieb voll Spinat vom bequemsten Sessel im Zimmer und nahm Platz. Aus dem ersten Stock hörte er das Rattern einer Schreibmaschine. Robin Upward, der sich mit einem Drama herumschlug. Er hatte schon drei Fassungen davon zerrissen, hatte er Poirot erzählt. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Robin mochte den Tod seiner Mutter ganz aufrichtig betrauern, aber er blieb doch Robin Upward, der sich vor allem für sich selbst interessierte.
»Madre«, sagte er feierlich, »hätte gewollt, dass ich mit meiner Arbeit fortfahre.«
Hercule Poirot hatte schon viele Leute Ähnliches sagen gehört. Die trauernden Hinterbliebenen hegten niemals Zweifel an den Wünschen ihrer Lieben, und diese Wünsche entsprachen gewöhnlich dem, was sie selbst gern tun wollten.
Aber in diesem Fall stimmte es wahrscheinlich. Mrs Upward hatte viel von Robins Arbeit gehalten und war ungewöhnlich stolz auf ihn gewesen.
Poirot lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Maureen Summerhayes kam polternd ins Zimmer gestürzt. Ihr Haar wehte wild hinter ihr her.
»Ich weiß nicht, was aus Johnnie geworden ist«, klagte sie. »Er wollte bloß zum Postamt fahren. Er hätte schon seit Stunden zurück sein sollen. Und ich kann das Formular vom Landwirtschaftsministerium nicht finden. Ich habe überall nachgesehen.«
»Der Spinat ist auf dem Sofa«, versuchte Poirot zu helfen.
Doch der Spinat interessierte Maureen im Moment nicht.
»Das Formular ist vorige Woche gekommen«, sagte sie nachdenklich. »Und ich muss es irgendwohin getan haben. Vielleicht als ich den Pullover von Johnnie stopfte.«
Sie eilte zum Schreibtisch hinüber und zog die Schubladen heraus. Den größten Teil des Inhalts warf sie achtlos auf den Boden. Hercule Poirot litt entsetzlich, während er ihr zuschaute.
Plötzlich stieß sie einen Triumphschrei aus.
»Ich hab’s!«
Begeistert eilte sie aus dem Zimmer.
Hercule Poirot seufzte, schloss erneut die Augen… da klingelte das Telefon.
Er nahm den Hörer ab.
»Allo, allo, allo!«
»Ach, Sie sind’s, Monsieur Poirot«, sagte Kommissar Spence. »Gerade der Mann, mit dem ich sprechen wollte.«
Spences Stimme war kaum wieder zu erkennen. Ein sehr besorgter Mann hatte einem sehr zuversichtlichen Platz gemacht.
»Stopfen mich mit einem Haufen Blödsinn voll über die falsche Fotografie«, sagte er vorwurfsvoll, doch nachsichtig. »Wir haben neues Material. Das Mädchen vom Postamt in Broadhinny. Major Summerhayes hat es gerade hergebracht. Ist an dem Abend praktisch gegenüber vom Haus gestanden und hat gesehen, wie eine Frau hineinging. Nach halb neun, aber vor neun Uhr. Und es war nicht Deirdre Henderson. Es war eine blonde Frau. Das bringt uns dorthin zurück, wo wir waren. Sie wissen schon – Eve Carpenter und Shelagh Rendell. Die Frage ist nur, welche?«
Poirot öffnete den Mund, sagte aber nichts. Langsam legte er den Hörer auf.
Er stand da und starrte vor sich hin, ohne etwas zu sagen.
Wieder klingelte das Telefon.
»Alb! Alb! Alb!«
»Monsieur Poirot?«
»Am Apparat.«
»Das dachte ich mir. Hier spricht Maude Williams. In einer Viertelstunde im Postamt?«
»Ich werde dort sein.«
Er legte den Hörer auf.
Als er den Hügel hinabging, wurde er von einem von Spences Männern angehalten, der eben aus Laburnums kam.
»Morgen, Monsieur Poirot.«
Poirot erwiderte den Gruß höflich. Er bemerkte, dass Sergeant Fletcher erregt aussah.
»Der Kommissar hat mich hergeschickt, damit ich einmal eine gründliche Haussuchung mache«, erklärte er. »Sie wissen ja – irgendeine Kleinigkeit, die uns entgangen wäre. Man kann ja nie wissen. Wir hatten natürlich den Schreibtisch durchsucht, aber der Kommissar meinte plötzlich, der hätte vielleicht ein Geheimfach – hat wohl zu viel Spionageromane gelesen. Nun, ein Geheimfach hatte er nicht. Aber danach habe ich mich an die Bücher gemacht. Manchmal stecken Leute einen Brief in ein Buch, das sie gerade lesen, wissen Sie.«
»Und haben Sie etwas gefunden?«
»Keinen Brief oder so was, nein. Aber ich habe etwas Interessantes gefunden – ich glaube wenigstens, dass es interessant ist. Sehen Sie mal.«
Er packte aus einem Stück Zeitungspapier ein altes, recht schäbiges Buch aus.
»Das war auf einem Bücherbord. Ein altes Buch, schon vor Jahren erschienen. Aber sehen Sie sich einmal das da an.« Er öffnete es und zeigte das Vorsatzblatt. Darauf stand mit Bleistift geschrieben: Evelyn Hope.
»Interessant, meinen Sie nicht? Das ist der Name, falls Sie sich daran erinnern…«
»Der Name, den Eva Kane annahm, als sie England verließ. Ich erinnere mich«, sagte Poirot.
»Scheint, dass es die Fotografie unserer Mrs Upward war, die Mrs McGinty dort im Haus gesehen hat. Das macht es recht verwickelt, nicht wahr?«
»Ja, wirklich«, gab Poirot voll Überzeugung zu. »Ich versichere Ihnen, wenn Sie damit zu Kommissar Spence gehen, wird er sich die Haare mit den Wurzeln ausreißen – ja, bestimmt mit den Wurzeln.«
»Ich hoffe doch, so arg wird’s nicht werden«, erwiderte Sergeant Fletcher.
Poirot antwortete nicht. Er ging den Hügel hinab. Er dachte nicht mehr nach. Das hatte alles keinen Sinn.
Er ging ins Postamt. Maude Williams war dort und sah Strickmuster an. Poirot sprach nicht mit ihr. Er ging hinüber zum Briefmarkenschalter. Als Maude ihre Einkäufe gemacht hatte, kam Mrs Sweetiman zu ihm, und er kaufte einige Briefmarken. Maude verließ den Laden.
Mrs Sweetiman schien in Gedanken und hatte keine Lust auf ein Gespräch. Poirot konnte ziemlich bald nach Maude den Laden verlassen. Rasch holte er sie ein und ging dann im gleichen Schritt neben ihr her.
»Eh bien«, sagte Poirot. »Sie haben mir etwas zu berichten?«
»Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Jemand hat versucht, durchs Fenster in Mrs Wetherbys Zimmer einzusteigen.«
»Wann?«
»Heute früh. Sie war ausgegangen, und Miss Henderson hat den Hund spazieren geführt. Der alte Stockfisch war wie gewöhnlich in seinem Arbeitszimmer. Ich hätte eigentlich in der Küche sein sollen- die liegt, wie das Arbeitszimmer, auf der anderen Seite –, aber es schien mir eine gute Gelegenheit, um… Sie verstehen?«
Poirot nickte.
»Also schlüpfte ich hinauf und ins Schlafzimmer Ihrer Säuerlichkeit. Eine Leiter war ans Fenster gelehnt, und ein Mann machte sich am Fensterriegel zu schaffen. Sie hat seit dem Mord immer alles verschlossen und verriegelt. Niemals ein bisschen frische Luft. Als der Mann mich sah, sauste er nur so nach unten und machte sich aus dem Staub. Die Leiter gehörte dem Gärtner – er hatte den Efeu beschnitten und war zum Essen weggegangen.«
»Wer war der Mann? Können Sie ihn beschreiben?«
»Ich habe ihn kaum gesehen. Als ich ans Fenster kam, war er schon unten und weg. Und als ich ihn zuerst sah, blickte ich gegen die Sonne und konnte sein Gesicht nicht erkennen.«
»Sind Sie sicher, dass es ein Mann war?«
Maude dachte nach.
»Trug Männerkleidung – hatte einen alten Filzhut auf. Es hätte natürlich auch eine Frau sein können…«
»Das ist interessant, sehr interessant. Sonst noch etwas?«
»Noch nicht. Was für Mist die alte Frau aufhebt! Bei der muss ja eine Schraube locker sein. Heute früh kam sie zurück, ohne dass ich sie hörte, und da machte sie mir einen Krach, dass ich schnüffelte. Nächstens werde ich sie noch ermorden. Wenn jemand ermordet sein will, dann ist es diese Frau. Eine wirklich unsympathische Person.«
Poirot sagte leise:
»Evelyn Hope…«
»Wie bitte?« Sie wandte sich ihm mit einem Ruck zu.
»Sie kennen den Namen?«
»Ja… Das ist der Name, den Eva annahm, als sie nach Australien ging. Das… das stand in der Zeitung… im Sunday Comet.«
»Der Sunday Comet hat viel geschrieben, aber das hat er nicht berichtet. Die Polizei fand diesen Namen in einem Buch in Mrs Upwards Haus.«
Maude rief:
»Dann war sie es also doch… und sie ist doch nicht drüben gestorben… Michael hatte Recht.«
»Michael?«
Maude sagte plötzlich:
»Ich habe keine Zeit mehr. Ich werde das Mittagessen zu spät servieren. Ich hab’s im Backrohr, es wird alles austrocknen.«
Sie lief davon. Poirot blieb stehen und sah ihr nach.
Zurück in Long Meadows, setzte Poirot sich wieder in seinen Sessel und dachte weiter nach. Es gab jetzt eine ganze Menge, worüber er nachdenken musste.
Da waren Dinge, die ihm entgangen waren – Kleinigkeiten. Das Muster war da. Jetzt musste es zusammengefügt werden. Maureen, mit einem Glas in der Hand, sprach versonnen, stellte eine Frage… Mrs Olivers Erzählungen von ihrem Abend im Kleinen Theater – Cecil? Michael? Er war fast sicher, dass sie einen Michael erwähnt hatte… Eva Kane, Gouvernante bei den Craigs…
Evelyn Hope…
Natürlich! Evelyn Hope!