Siebenundzwanzigstes Kapitel
»Unmöglich«, sagte Inspektor Neele.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Miss Marple fasziniert an. Wie sie vorausgesagt hatte, war er nicht wirklich überrascht. Sein Ausruf galt nicht der Wahrscheinlichkeit, sondern der Durchführbarkeit ihrer Theorie. Lance Fortescue entsprach der Beschreibung: Miss Marple hatte ein klares Bild umrissen. Aber Inspektor Neele sah einfach nicht, wie Lance die Taten ausgeführt haben konnte.
Miss Marple beugte sich vor und sagte in dem geduldigen, überzeugenden Ton, in dem man gewöhnlich einem kleinen Kind eine einfache Rechenaufgabe erklärt: »Er war immer schon so. Ich meine, er war immer schon schlecht. Durch und durch schlecht, und gleichzeitig immer schon anziehend. Besonders auf Frauen wirkt er so. Sein Verstand arbeitet brillant, und er liebt das Risiko. Er ist immer Risiken eingegangen, und weil er so charmant ist, glauben die Leute lieber das Beste als das Schlechteste von ihm. Er kam im Sommer, um seinen Vater zu treffen. Ich glaube keine Sekunde, dass sein Vater ihm geschrieben hat – oder haben Sie einen Beweis dafür?« Sie schwieg abwartend.
Neele schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich habe keinen Beweis dafür. Ich habe nur einen Brief, den Lance ihm nach seinem Besuch geschrieben haben soll. Aber den kann er leicht am Tag seiner Ankunft hier unter die Papiere seines Vaters gemischt haben.«
»Klug von ihm.« Miss Marple nickte. »Nun, wie ich sagte, er ist möglicherweise hergeflogen und hat eine Versöhnung angestrebt, aber Mr Fortescue wollte nichts davon wissen. Lance hatte vor kurzem geheiratet, und die kargen Einkünfte, die ihm seine verschiedenen und zweifellos unehrlichen Tätigkeiten einbrachten, reichten nicht mehr aus. Er war sehr in Pat verliebt (ein liebes Mädchen), und er wollte mit ihr ein respektables, beständiges Leben beginnen. Und das bedeutete seiner Ansicht nach vor allem, viel Geld zu haben. Als er im Haus Zur Eibe war, musste er von den Amseln gehört haben. Vielleicht hat sein Vater sie erwähnt. Vielleicht Adele. Er schloss daraus, dass MacKenzies Tochter im Haushalt lebte, und sah sofort die Möglichkeit, ihr einen Mord anzuhängen. Denn sehen Sie, als ihm klar wurde, dass er nicht bekommen würde, was er wollte, beschloss er kaltblütig, seinen Vater umzubringen. Vielleicht hat er bemerkt, dass sein Vater nicht ganz… gesund war, und befürchtete, dass die Firma bis zu seinem natürlichen Tod bankrott sein würde.«
»Er wusste also, dass sein Vater krank war.«
»Ja, das erklärt doch manches. Vielleicht hat der Zufall, dass sein Vater Rex hieß, in Verbindung mit den Amseln, ihn an den Kinderreim denken lassen. Er würde die ganze Sache als Werk eines Verrückten erscheinen lassen – und mit dem alten Racheschwur der MacKenzies in Verbindung bringen. So konnte er Adele ebenfalls loswerden und verhindern, dass die Firma die hunderttausend Pfund verlor. Aber es musste noch eine dritte Figur mitspielen, die Magd, die im Garten Wäsche aufhängt. Ich vermute, daher kam die niederträchtige Idee – einer unschuldigen Komplizin, die er zum Schweigen bringen würde, bevor sie reden konnte. Und die ihm ein echtes Alibi für den ersten Mord verschaffte. Der Rest war einfach. Er kam kurz vor fünf hier an, als Gladys gerade das zweite Tablett in die Halle trug. Er ging zur Seitentür, sah sie und winkte sie heran. Sie zu erwürgen und zur Wäscheleine zu tragen, konnte nicht länger als drei oder vier Minuten gedauert haben. Dann klingelte er am Haupteingang, wurde eingelassen und zum Tee mit der Familie gebeten. Nach dem Tee ging er zu Miss Ramsbottom hinauf. Als er wieder herunterkam, schlich er in die Bibliothek zurück und fand Adele allein mit ihrer letzten Tasse Tee vor. Er setzte sich neben sie aufs Sofa. Und während sie sich unterhielten, schmuggelte er das Zyankali in ihre Tasse. Das war gar nicht schwierig. Es ist ein weißes Pulver, wie Zucker. Er konnte wie zufällig einen echten Zuckerwürfel zusammen mit dem Gift in ihre Tasse fallen lassen und lachend sagen: ›Oh, schau, ich habe noch mehr Zucker in deinen Tee getan.‹ – ›Das macht doch nichts‹, hätte sie gesagt, umgerührt und getrunken. So einfach, und so wagemutig. Ja, er ist schon ein wagemutiger Kerl.«
Langsam sagte Neele: »Das ist tatsächlich möglich – ja. Aber ich sehe nicht – wirklich, Miss Marple, ich sehe nicht, was er zu gewinnen hatte. Abgesehen davon, dass die Firma bald bankrott sein würde, wenn Mr Fortescue noch lange weiterlebte. Aber ist sein Anteil wirklich so groß, dass er drei Morde deswegen planen und begehen würde? Das glaube ich nicht. Das glaube ich wirklich nicht.«
»Das ist tatsächlich schwierig«, gab Miss Marple zu. »Ja, da stimme ich Ihnen zu. Da haben wir ein Problem. Ich nehme an…« Sie zögerte »… ich bin furchtbar unwissend in diesen finanziellen Dingen… aber ich nehme an, die Amsel-Mine ist tatsächlich wertlos?«
Neele überlegte. Verschiedene Puzzleteilchen fügten sich in seinem Kopf zusammen. Lances Bereitschaft, Percy die wertlosen und riskanten Geschäfte abzunehmen. Seine Abschiedsworte heute in London, mit denen er Percival riet, die Amsel-Mine und die damit verbundene Rachedrohung loszuwerden. Eine Goldmine. Eine wertlose Goldmine. Aber vielleicht war die Mine ja gar nicht wertlos. Doch das schien irgendwie unwahrscheinlich. Der alte Rex Fortescue hatte sich kaum ausgerechnet da geirrt. Es konnten natürlich neue Ergebnisse vorliegen. Wo war die Mine noch gleich? In Westafrika, hatte Lance gesagt. Aber jemand anders – Miss Ramsbottom – hatte gesagt, sie sei in Ostafrika. Hatte Lance ihn absichtlich irregeführt, indem er West statt Ost sagte? Miss Ramsbottom war alt und vergesslich, trotzdem konnte sie Recht haben. Ostafrika – Lance hatte in Ostafrika gelebt. Hatte er Zugang zu neuen Erkenntnissen?
Plötzlich fiel ein weiteres Teilchen an seinen Platz. Als er im Zug saß und die Times las. Uran-Vorkommen in Tanganjika entdeckt. Angenommen, diese Uranvorkommen waren auf dem Gelände der alten Amsel-Mine? Das würde alles erklären. Lance musste davon gewusst haben, er war schließlich vor Ort gewesen, und Uranvorkommen bedeuteten ein Vermögen. Ein ungeheures Vermögen. Er seufzte. Er sah Miss Marple an.
»Und wie«, sagte er vorwurfsvoll, »soll ich das je beweisen können?«
Miss Marple nickte aufmunternd, wie eine Tante ihrem klugen Neffen zunickt, der sich auf ein Examen vorbereitet. »Sie werden es beweisen. Sie sind ein sehr kluger Mann, Inspektor Neele. Das ist mir gleich aufgefallen. Jetzt, wo Sie wissen, wer es ist, werden Sie die Beweise schon finden. Zum Beispiel wird man in dem Ferienlager sein Bild erkennen. Er wird Schwierigkeiten haben, zu erklären, warum er sich dort eine Woche als Albert Evans ausgegeben hat.«
Ja, dachte Inspektor Neele, Lance Fortescue war brillant und skrupellos – aber er war auch tollkühn. Die Risiken, die er einging, waren manchmal zu groß. Ich krieg ihn, dachte er, ich krieg ihn! Dann, wieder von Zweifel übermannt, sagte er zu Miss Marple: »Es ist natürlich alles reine Spekulation.«
»Ja – aber Sie sind sich sicher, nicht wahr?«
»Ja. Immerhin kenne ich den Typ.«
Die alte Dame nickte. »Ja – das ist es. Deshalb bin ich mir auch so sicher.«
»Wegen Ihrer Vertrautheit mit der Verbrecherseele?«, neckte Neele.
»Oh nein, natürlich nicht. Wegen Pat. Ein liebes Mädchen – die Art, die immer den Falschen heiratet. Das hat meine Aufmerksamkeit gleich auf ihn gelenkt.«
»Auch wenn ich mir noch so sicher bin, ein paar Fragen sind noch ungeklärt. Die Sache mit Ruby MacKenzie… ich könnte schwören – «
»– und Sie täuschen sich auch nicht. Sie hatten nur die falsche Person im Auge. Sprechen Sie mit Mrs Percy.«
»Mrs Fortescue«, sagte Inspektor Neele. »Würden Sie mir wohl Ihren Mädchennamen verraten?«
»Oh!« Jennifer schnappte erschrocken nach Luft.
»Sie müssen keine Angst haben, Madam«, sagte Neele, »aber es wäre bestimmt besser, die Wahrheit zu sagen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie vor Ihrer Heirat Ruby MacKenzie hießen?«
»Ich… oje, oje… ach Gott… nun… warum sollte ich nicht?«
»Ja, warum auch nicht?«, sagte der Inspektor freundlich. »Ich habe vor ein paar Tagen im Pinewood Sanatorium mit Ihrer Mutter gesprochen.«
»Sie ist furchtbar wütend auf mich«, sagte Jennifer. »Ich besuche sie nie, weil es sie nur aufregt. Arme Mama, sie war Vater so ergeben, wissen Sie.«
»Und sie zog Sie mit diesen melodramatischen Rachevorstellungen groß.«
»Ja. Wir mussten immer auf die Bibel schwören, dass wir nie vergessen würden. Und dass wir ihn eines Tages töten würden. Natürlich, nachdem ich meine Ausbildung im Krankenhaus angefangen hatte, wurde mir bald klar, dass ihre geistige Gesundheit zu wünschen übrig ließ.«
»Sie müssen aber Ihre eigenen Rachegefühle entwickelt haben, Mrs Fortescue.«
»Ja, natürlich. Rex Fortescue hat meinen Vater so gut wie ermordet. Ich meine damit nicht, dass er ihn tatsächlich erschossen oder niedergestochen hat. Aber ich bin mir sicher, dass er ihn sterbend allein gelassen hat. Und das kommt doch aufs selbe hinaus.«
»Moralisch gesehen, ja.«
»Ich wollte es ihm heimzahlen«, sagte Jennifer. »Als eine Freundin seinen Sohn pflegte, überredete ich sie, den Posten unter einem Vorwand zu verlassen und mich dafür zu empfehlen. Ich weiß nicht einmal, was ich wirklich vorhatte. Wirklich nicht, Inspektor. Ich wollte ihn nicht töten. Erst dachte ich, ich könnte seinen Sohn so schlecht pflegen, dass er sterben würde. Aber wenn man Krankenschwester ist, bringt man so etwas nicht fertig. Es war nicht einmal einfach, Percival gesund zu pflegen. Es dauerte lange, und er gewann mich lieb und bat mich, ihn zu heiraten, und ich dachte: Das ist doch eine viel bessere Rache. Mr Fortescues ältesten Sohn zu heiraten und das Geld, das er meinem Vater abgeluchst hatte, auf diesem Weg zurückzukriegen. Das schien mir viel klüger als alles andere.«
»Ja, tatsächlich«, sagte Inspektor Neele, »viel klüger.« Er fügte hinzu: »Ich nehme an, Sie haben die Amseln auf den Schreibtisch gelegt und in die Pastete geschmuggelt?«
Mrs Percival errötete. »Ja… das war wohl kindisch. Aber Mr Fortescue hatte eines Tages damit geprahlt, wie viele Dummköpfe er in seinem Leben betrogen hatte – oh, auf ganz legale Art. Und da dachte ich, dir will ich es zeigen. Ich wollte ihm einen Schrecken einjagen, und das ist mir auch gelungen. Er war furchtbar bestürzt.« Nervös fügte sie hinzu: »Aber sonst habe ich nichts getan. Wirklich nicht, Inspektor. Sie denken doch nicht, ich würde ernsthaft jemanden umbringen!«
Inspektor Neele lächelte. »Nein«, sagte er. »Übrigens, haben Sie Miss Dove kürzlich Geld gegeben?«
Jennifer sah ihn mit offenem Mund an. »Woher wissen Sie das?«
»Wir wissen eine ganze Menge«, sagte Inspektor Neele und fügte in Gedanken hinzu: Und wir erraten auch eine Menge.
Hastig fuhr Jennifer fort: »Sie kam zu mir und sagte, Sie hätten sie beschuldigt, Ruby MacKenzie zu sein. Sie sagte, für fünfhundert Pfund würde sie Sie in dem Glauben lassen. Sie sagte, wenn Sie wüssten, dass ich Ruby MacKenzie bin, würden Sie mich des Mordes verdächtigen. Es war furchtbar schwierig, das Geld zusammenzukratzen, ich konnte Percival natürlich nichts davon sagen. Er hat ja keine Ahnung. Ich musste meinen Verlobungsdiamanten und eine wunderschöne Halskette verkaufen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Percival. Ich glaube, ich kann Ihr Geld zurückbekommen.«
Am nächsten Tag hatte Inspektor Neele eine weitere Unterredung mit Mary Dove.
»Ich frage mich, Miss Dove, ob Sie mir wohl einen Scheck über fünfhundert Pfund geben könnten, zahlbar an Mrs Percival Fortescue?«
Für einmal hatte er das Vergnügen, Mary Dove die Fassung verlieren zu sehen. »Diese Idiotin hat es Ihnen also gesagt.«
»Erpressung, Miss Dove, ist ein schweres Vergehen.«
»Es war nicht wirklich Erpressung, Inspektor. Ich glaube, Sie hätten Schwierigkeiten, einen Fall gegen mich zu konstruieren. Ich habe Mrs Percival nur einen besonderen Dienst erwiesen.«
»Nun, wenn Sie mir diesen Scheck geben, können wir es dabei belassen.«
Miss Dove holte ihr Scheckbuch und ihren Füllfederhalter.
»Das ist sehr unangenehm«, seufzte sie. »Ich bin gerade ziemlich knapp bei Kasse.«
»Sie werden sich wohl bald nach einer neuen Stelle umsehen?«
»Ja. Hier hat sich nichts nach meinen Erwartungen entwickelt. Von meinem Standpunkt aus ist das alles sehr unangenehm.«
Inspektor Neele stimmte ihr zu. »Ja, Sie sind in einer schwierigen Lage, nicht? Jeden Moment hätten wir Ihr Vorleben untersuchen können.«
Mary Dove, wieder kühl und gelassen, hob nur leicht die Brauen. »Mein Vorleben ist makellos, Inspektor.«
»Ja, das ist es«, stimmte Neele fröhlich zu. »Wir haben überhaupt nichts gegen Sie in der Hand, Miss Dove. Es ist jedoch ein eigenartiger Zufall, dass die letzten drei Häuser, in denen Sie so bewundernswert gewirkt haben, ungefähr drei Monate nach Ihrem Weggang ausgeraubt wurden. Die Diebe waren außergewöhnlich gut informiert, wo Wertsachen wie Pelze, Juwelen und so weiter aufbewahrt wurden. Ein eigenartiger Zufall, nicht wahr?«
»Zufälle gibt es, Inspektor.«
»Oh ja«, sagte Neele. »Zufalle gibt es. Aber nicht zu oft, Miss Dove. Ich wage die Prophezeiung, dass wir uns wieder begegnen werden.«
»Das hoffe ich nicht«, sagte Mary Dove. »Ich will ja nicht unhöflich erscheinen, Inspektor Neele, aber das hoffe ich nun wirklich nicht.«