Erstes Kapitel
Miss Somers war an der Reihe, den Tee zu kochen. Miss Somers war die zuletzt eingetretene und mit Abstand am wenigsten brauchbare Schreibkraft im Büro. Sie war nicht mehr ganz jung, und ihr Gesicht hatte den sanft-besorgten Ausdruck eines Schafes. Das Wasser hatte noch nicht ganz gekocht, als Miss Somers den Tee aufgoss – die arme Miss Somers war sich nie ganz sicher, wann das Wasser kochte. Das war nur eine der vielen Sorgen, die ihr das Leben schwer machten.
Sie schenkte den Tee ein und verteilte die Tassen, mit zwei lappigen, süßen Keksen auf jeder Untertasse.
Miss Griffith, die effiziente Bürovorsteherin, ein grauhaariger Feldwebel und seit sechzehn Jahren bei Consolidated Investment Trust, sagte scharf: »Wasser wieder nicht ganz gekocht, Somers!«, und Miss Somers unterwürfiges Gesicht lief rosa an: »Herrje, und dabei dachte ich diesmal wirklich, es hätte gekocht.«
Miss Griffith dachte bei sich: Sie wird es vielleicht noch einen Monat machen, weil wir so viel zu tun haben… Nein, wirklich! Das Durcheinander, das die dumme Person mit dem Brief an Eastern Development angerichtet hat – und das war eine ganz einfache Aufgabe. Und dann immer dieses Theater mit dem Tee. Wenn es nicht so schwierig wäre, intelligente Schreibkräfte zu finden – und die Keksdose war auch letztes Mal nicht ordentlich verschlossen. Wirklich –
Wie so manche von Miss Griffith’ missbilligenden inneren Kommentaren blieb auch dieser unvollendet. Denn in diesem Augenblick schwebte Miss Grosvenor herein, um Mr Fortescues geheiligten Tee zu bereiten. Mr Fortescue bekam anderen Tee, anderes Porzellan und besondere Kekse. Nur der Kessel und das Wasser aus dem Hahn im Waschraum waren dieselben. Und selbstverständlich kochte bei dieser Gelegenheit, für Mr Fortescues Tee, das Wasser. Dafür sorgte Miss Grosvenor.
Miss Grosvenor war eine unglaublich glamouröse Blondine. Sie trug ein gut geschnittenes schwarzes Kostüm und ihre wohlgeformten Beine steckten in den besten und teuersten Nylonstrümpfen, die man auf dem Schwarzmarkt finden konnte.
Sie segelte durch das Schreibzimmer, ohne jemanden eines Blickes oder Wortes zu würdigen. Die Tippsen hätten ebenso gut Ungeziefer sein können, denn Miss Grosvenor war Mr Fortescues höchst persönliche Sekretärin. Missgünstigen Gerüchten zufolge war sie sogar ein bisschen mehr als das, aber die entsprachen nicht der Wahrheit. Mr Fortescue hatte vor kurzem zum zweiten Mal geheiratet, eine ebenso anspruchsvolle wie schöne Frau, die seine volle Aufmerksamkeit verlangte. Miss Grosvenor war für Mr Fortescue nicht mehr als ein notwendiger Bestandteil seiner Büroeinrichtung – ebenso luxuriös und ebenso teuer.
Miss Grosvenor schwebte zurück, das Tablett vor sich hertragend wie eine Opfergabe. Durch das innere Büro und das Wartezimmer, in dem die wichtigeren Kunden sitzen durften, durch ihr eigenes Vorzimmer und schließlich, nach leisem Anklopfen, in das Allerheiligste, Mr Fortescues Büro.
Es war ein großer Raum mit schimmerndem Parkettboden, auf dem kostbare Orientteppiche lagen, ausladenden Clubsesseln aus glänzendem, cremefarbenem Leder und elegant mit hellem Holz getäfelten Wänden. Hinter einem mächtigen Schreibtisch aus Edelholz, Zentrum und Brennpunkt des Raumes, saß Mr Fortescue selbst.
Mr Fortescue war nicht ganz so eindrucksvoll wie sein Büro, aber er tat sein Bestes. Er war ein korpulenter, schwammiger Mann mit einer glänzenden Glatze. Er hatte die Gewohnheit, im Büro salopp geschnittene Tweedanzüge zu tragen, die eher für das Landleben gedacht waren. Er saß mit gerunzelter Stirn über seinen Akten, als Miss Grosvenor schwanengleich zu ihm hinglitt. Sie platzierte das Tablett neben seinen Ellbogen und murmelte diskret: »Ihr Tee, Mr Fortescue«, bevor sie sich zurückzog.
Mr Fortescues Beitrag zu diesem Ritual war ein Grunzen.
Wieder an ihrem Schreibtisch, widmete sich Miss Grosvenor den laufenden Geschäften. Sie telefonierte zweimal, korrigierte einige Briefe, die zur Unterschrift für Mr Fortescue bereitlagen, und nahm einen Anruf entgegen.
»Leider ganz unmöglich«, sagte sie hoheitsvoll, »Mr Fortescue ist in einer Konferenz.« Sie legte den Hörer auf und blickte auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach elf.
In diesem Augenblick drang ein ungewöhnlicher Laut durch die beinahe schalldichte Tür von Mr Fortescues Büro. Gedämpft, doch unzweifelhaft als unterdrückter Schmerzensschrei zu erkennen. Im selben Moment erklang der Summer auf Miss Grosvenors Schreibtisch wie ein lang gezogener, verzweifelter Hilferuf. Miss Grosvenor, die vor Schreck einen Augenblick wie gelähmt dagesessen hatte, erhob sich unsicher. Ein unerwartetes Ereignis wie dieses brachte ihre Sicherheit ins Wanken. Doch sie bewegte sich in ihrer gewohnt statuenhaften Art auf Mr Fortescues Tür zu, klopfte und trat ein.
Was sie sah, erschütterte ihre Haltung noch mehr. Ihr Arbeitgeber saß vor Schmerzen gekrümmt hinter seinem Schreibtisch. Der Anblick seiner Zuckungen wirkte beängstigend.
»Oh Gott, Mr Fortescue, sind Sie krank?«, fragte Miss Grosvenor und war sich gleichzeitig bewusst, wie idiotisch ihre Frage war. Es bestand gar kein Zweifel, dass es Mr Fortescue sehr schlecht ging. Sein Körper wurde von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt. Sie trat näher. Die Worte kamen ruckhaft, keuchend:
»Tee – was zum Teufel – haben Sie in den Tee – holen Sie Hilfe – schnell, einen Arzt – «
Miss Grosvenor stürzte aus dem Zimmer. Sie war nicht länger die hochnäsige blonde Sekretärin – sie war eine durch und durch verängstigte Frau, die den Kopf verlor.
Sie rannte ins Schreibzimmer und rief: »Mr Fortescue hat einen Anfall – er stirbt – wir müssen einen Arzt holen – er sieht furchtbar aus – er wird bestimmt sterben!«
Reagiert wurde sofort und auf sehr unterschiedliche Weise.
Miss Bell, die jüngste Schreibkraft, sagte: »Wenn es ein epileptischer Anfall ist, sollten wir ihm einen Korken in den Mund stecken. Hat jemand einen Korken?«
Niemand hatte einen Korken.
Miss Somers sagte: »In seinem Alter ist es wahrscheinlich eher ein Schlaganfall.«
Miss Griffith sagte: »Wir müssen einen Arzt holen – sofort!«
Doch ihre übliche Effizienz wurde dadurch gebremst, dass es in ihren sechzehn Dienstjahren noch nie nötig gewesen war, einen Arzt ins Büro zu rufen. Sie hatte wohl einen Hausarzt, aber der war in Streatham Hill. Wo gab es hier in der Nähe einen Arzt?
Niemand wusste es.
Miss Bell griff nach dem Telefonbuch und suchte Ärzte unter A. Aber es war kein Branchenverzeichnis, und Ärzte waren nicht untereinander aufgelistet wie Taxiunternehmen. Jemand schlug vor, ein Krankenhaus anzurufen – aber welches Krankenhaus? »Es muss schon das richtige Krankenhaus sein«, sagte Miss Somers nachdrücklich, »sonst kommen die nicht. Wegen des Staatlichen Gesundheitsdienstes, meine ich. Es muss im Bezirk sein.«
Der Vorschlag, 999 anzurufen, schockierte Miss Griffith, das war doch die Polizei, nein, das kam ganz und gar nicht in Frage. Als Bürgerinnen eines Landes, in dem jeder die Vorzüge des Staatlichen Gesundheitsdienstes genoss, zeigten diese doch relativ intelligenten Frauen ein erstaunliches Unwissen, was das richtige Vorgehen in dieser Situation anging. Miss Bell suchte weiter unter S wie Sanität. Miss Griffith sagte: »Sein Hausarzt – er muss doch einen Hausarzt haben.« Jemand rannte nach dem privaten Adressbuch. Miss Griffith schickte den Büroboten, einen Arzt aufzutreiben, egal wie, egal wo. Im privaten Adressbuch fand Miss Griffith Sir Edwin Sandeman mit einer Adresse in der Harley Street. Miss Grosvenor war auf einem Stuhl zusammengebrochen und jammerte in einem deutlich weniger arroganten Ton als sonst: »Ich hab den Tee wie immer gemacht – wirklich, wie immer – da kann doch nichts Schlechtes drin gewesen sein.«
»Schlechtes drin?« Miss Griffith hielt inne, die Hand auf der Telefonwählscheibe. »Warum sagen Sie das?«
»Er hat es gesagt – Mr Fortescue – er sagte, es war der Tee.«
Miss Griffith Hand schwebte unentschlossen über der Wählscheibe. Miss Bell, jung und optimistisch, meinte: »Wir sollten ihm ein bisschen Senf und Wasser geben. Ist denn gar kein Senf im Büro?«
Es war kein Senf im Büro.
Wenig später begegneten sich Dr. Isaacs von Bethnal Green und Sir Edwin Sandeman im Aufzug, während gleich zwei Krankenwagen vor dem Haus hielten. Das Telefon und der Bürobote hatten ihre Wirkung getan.