Fünfundzwanzigstes Kapitel
»Das alte Mädchen sucht Sie, Sir«, flüsterte Sergeant Hay verschwörerisch, als Inspektor Neele die Treppe herunterkam. »Scheint, als hätte sie Ihnen noch mehr zu sagen. Sehr viel mehr.«
»Hölle und Verdammnis«, sagte Inspektor Neele.
»Ja, Sir.« Kein Muskel bewegte sich in Sergeant Hays Gesicht.
Er wollte sich gerade entfernen, da rief Inspektor Neele ihn zurück. »Überprüfen Sie bitte die Referenzen, die uns Miss Dove gegeben hat. Ach ja, und hier sind noch ein paar Fragen. Gehen Sie dem bitte nach, ja?«
Er kritzelte ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und gab es Sergeant Hay, der sagte: »Wird sofort erledigt, Sir.«
Als er an der Bibliothek vorbeiging, hörte er Stimmen und schaute hinein. Miss Marple mochte ihn gesucht haben oder nicht, jetzt war sie jedenfalls ganz in ein vertrauliches Gespräch mit Mrs Percival Fortescue vertieft. Ihre Stricknadeln klapperten eifrig dazu.
»… ich habe es immer für eine Berufung gehalten, Krankenschwester zu werden. Es ist jedenfalls ein edler Beruf«, sagte sie gerade.
Inspektor Neele zog sich leise zurück. Wenn Miss Marple ihn gesehen hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sanft fuhr sie fort: »Diese reizende Krankenschwester pflegte mich, als ich mein Handgelenk gebrochen hatte. Danach ging sie zum Sohn von Mrs Sparrow, einem sehr netten jungen Marineoffizier. Eine richtige Liebesgeschichte war das, sie haben sich nämlich verlobt. So romantisch! Sie haben geheiratet und zwei Kinder bekommen und sind sehr glücklich.« Miss Marple seufzte sentimental. »Es war Lungenentzündung. Bei einer Lungenentzündung hängt alles von der richtigen Pflege ab.«
»Oh ja«, sagte Jennifer Fortescue. »Die Pflege ist wichtig. Heutzutage gibt es natürlich Medikamente, die Wunder wirken. Es ist nicht mehr der lange, hoffnungslose Kampf wie früher.«
»Sie müssen eine exzellente Krankenschwester gewesen sein, meine Liebe. War das nicht auch der Beginn Ihrer Liebesgeschichte? Ich meine, dass Sie herkamen, um Mr Percival Fortescue zu pflegen?«
»Ja, so hat es angefangen.« Ihr Ton war nicht ermunternd, doch das schien Miss Marple nicht aufzuhalten.
»Ich verstehe. Man sollte natürlich dem Dienstbotenklatsch keine Aufmerksamkeit schenken, aber für eine alte Dame wie mich ist es eben furchtbar interessant, etwas über die Leute im Haus zu hören. Wo war ich? Oh ja, da war erst eine andere Pflegerin, nicht wahr? Sie wurde entlassen, wegen Nachlässigkeit oder etwas in der Art.«
»Ich glaube nicht, dass es Nachlässigkeit war«, sagte Jennifer. »Nein, ihr Vater oder sonst jemand wurde schwer krank, und so kam ich her, um sie zu ersetzen.«
»Verstehe«, sagte Miss Marple. »Und Sie verliebten sich und blieben hier. Das ist doch sehr schön, wirklich, sehr schön.«
»Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte Jennifer Fortescue. Ihre Stimme zitterte. »Ich wünsche mir oft, ich wäre wieder auf der Station.«
»Ja, ja. Das verstehe ich. Sie liebten Ihren Beruf.«
»Nicht einmal – erst jetzt, wenn ich daran zurückdenke. Das Leben ist so eintönig, wissen Sie. Tag für Tag vergeht, ich habe nichts zu tun, und Val ist ganz vom Geschäft in Anspruch genommen.«
Miss Marple schüttelte den Kopf. »Die Herren müssen heutzutage so hart arbeiten«, sagte sie. »Es bleibt keine Zeit für Müßiggang, ganz egal, wie viel Geld man hat.«
»Ja, und für die Ehefrauen kann es sehr einsam und langweilig werden. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nie hierher gekommen. Ach, es geschieht mir ja ganz recht. Ich hätte es nie tun dürfen.«
»Was hätten Sie nie tun dürfen, meine Liebe?«
»Ich hätte Val nie heiraten dürfen. Nun ja – « Sie seufzte. »Lassen Sie uns nicht mehr darüber sprechen.«
Miss Marple fügte sich sofort und begann über die neue Rocklänge zu sprechen, die man in Paris trug.
»Wie rücksichtsvoll von Ihnen, dass Sie uns eben nicht unterbrochen haben«, sagte Miss Marple, als sie Inspektor Neele im Arbeitszimmer aufsuchte. »Ich musste noch einen oder zwei Punkte abklären.« Mit leichtem Vorwurf fügte sie hinzu: »Wir haben unser Gespräch gar nicht zu Ende geführt.«
»Ich muss mich entschuldigen, Miss Marple.« Inspektor Neele rang sich ein charmantes Lächeln ab. »Ich war wohl sehr unhöflich. Erst bat ich Sie zu einer Unterredung, und dann redete ich selber die ganze Zeit.«
»Ach, das macht ja nichts«, antwortete Miss Marple sofort, »denn sehen Sie, ich war noch nicht ganz bereit, alle meine Karten auf den Tisch zu legen. Ich möchte wirklich keinen Verdacht aussprechen, bevor ich mir ganz sicher bin. In meinem Innersten ganz sicher. Und jetzt bin ich es.«
»Wessen sind Sie sich sicher, Miss Marple?«
»Nun, zum einen, wer Mr Fortescue getötet hat. Was Sie mir über die Orangenmarmelade erzählt haben, zementiert es geradezu. Es zeigt nicht nur das Wie, sondern auch das Wer, und es entspricht der Mentalität.«
Inspektor Neele blinzelte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Miss Marple, als sie seine Reaktion sah. »Ich habe manchmal Schwierigkeiten, mich klar auszudrücken.«
»Ich weiß noch nicht einmal genau, wovon wir sprechen, Miss Marple.«
»Nun, dann sollten wir vielleicht noch einmal ganz von vorne beginnen. Wenn Sie die Zeit erübrigen können? Ich würde Ihnen gerne meine Theorie vorlegen. Sehen Sie, ich habe so viele Unterhaltungen geführt, mit Miss Ramsbottom und Mrs Crump und ihrem Mann. Er ist natürlich ein Lügner, aber das macht nichts, denn wenn man einmal weiß, dass jemand lügt, kommt es auf dasselbe heraus. Ich wollte nur die Anrufe abklären und die Nylonstrümpfe und all das.«
Inspektor Neele blinzelte wieder. Er fragte sich, worauf er sich da eingelassen hatte. Wie hatte er Miss Marple je für eine scharfsinnige, ebenbürtige Kollegin halten können? Doch selbst in ihrem verwirrten Zustand konnte sie ja die eine oder andere wichtige Information aufgeschnappt haben. Inspektor Neeles berufliche Erfolge beruhten vor allem auf seiner Fähigkeit, zuzuhören. Und er war auch jetzt bereit, zuzuhören.
»Bitte, Miss Marple«, sagte er. »Beginnen Sie ruhig ganz von vorn.«
»Ja, natürlich«, sagte Miss Marple. »Am Anfang ist Gladys. Das heißt, ich kam wegen Gladys hierher. Und Sie waren so freundlich und ließen mich ihre Sachen durchsehen. Und zusammen mit den Nylonstrümpfen und den Anrufen und diesem und jenem ergibt es ein völlig klares Bild. Ich meine, in Bezug auf Mr Fortescue und das Taxin.«
»Sie haben also eine Theorie, wer das Taxin in Mr Fortescues Orangenmarmelade getan hat?«
»Keine Theorie«, sagte Miss Marple, »ich weiß es.«
Zum dritten Mal blinzelte Inspektor Neele.
»Es war natürlich Gladys«, sagte Miss Marple.