Sechzehntes Kapitel

 

Er fand Mrs Percival in ihrem eigenen Wohnzimmer im ersten Stock, wo sie Briefe schrieb. Als er eintrat, stand sie nervös auf.

»Ist etwas… was… ist wieder…«

»Bitte setzen Sie sich, Mrs Fortescue. Ich habe noch ein paar Fragen.«

»Oh ja, ja natürlich, Inspektor. Ist es nicht furchtbar? Einfach furchtbar.«

Unruhig setzte sie sich in ihren Lehnstuhl. Inspektor Neele wählte einen harten, geraden Stuhl neben ihr. Er sah sie aufmerksamer an, als er es zuvor getan hatte. In vieler Hinsicht war sie eine ganz gewöhnliche Frau, dachte er. Und eine recht unglückliche dazu. Rastlos, unzufrieden, mit beschränktem Horizont – doch er konnte sich gut vorstellen, dass sie in ihrem Beruf als Krankenschwester fähig und tüchtig gewesen war. Die Heirat mit einem reichen Mann ermöglichte ihr ein Leben voller Müßiggang, doch Müßiggang befriedigte sie nicht. Sie kaufte Kleider, las Romane, aß Pralinen, doch er erinnerte sich gut an ihre beinahe gierige Erregung in der Nacht nach Mr Fortescues Tod. Er sah das nicht als krankhafte Sensationsgier, sondern eher als Ausdruck der kargen Wüste der Langeweile in ihrem Leben. Ihre Lider flatterten und senkten sich unter seinem Blick. Sie wirkte nervös und schuldbewusst, aber er konnte nicht sagen, ob sie das auch wirklich war.

»Leider müssen wir immer wieder dieselben Fragen stellen«, sagte er beruhigend. »Es muss Sie alle sehr ermüden. Ich weiß das, aber verstehen Sie, es hängt so vieles von einem exakten Zeitplan der Ereignisse ab. Sie kamen eher spät zum Tee, stimmt das? Miss Dove kam herauf und gab Ihnen Bescheid?«

»Ja. Ja, das stimmt. Sie kam herauf und sagte mir, dass der Tee serviert sei. Ich hatte nicht gemerkt, dass es schon so spät war. Ich hatte Briefe geschrieben.«

Inspektor Neele schaute zu ihrem Schreibtisch. »Verstehe«, sagte er. »Aus irgendeinem Grund glaubte ich, Sie hätten einen Spaziergang gemacht.«

»Hat sie das gesagt? Ja – jetzt, wo Sie es sagen. Es stimmt. Ich hatte Briefe geschrieben, und es war so stickig hier drinnen, dass ich Kopfschmerzen bekam, also ging ich hinaus und – äh – machte einen Spaziergang. Nur durch den Garten.«

»Verstehe. Haben Sie jemanden angetroffen?«

»Angetroffen?« Sie starrte ihn an. »Wie meinen Sie das?«

»Ich fragte mich nur, ob Sie jemanden gesehen haben – oder ob jemand Sie gesehen hat auf diesem Spaziergang.«

»Den Gärtner habe ich von weitem gesehen. Sonst niemanden.« Sie schaute ihn misstrauisch an.

»Dann kamen Sie herein, gingen in Ihre Wohnung und zogen gerade Ihren Mantel aus, als Miss Dove hereinkam?«

»Ja. Ja, und dann ging ich hinunter.«

»Und wer war schon da?«

»Adele und Elaine, und ein oder zwei Minuten später kam Lance an. Mein Schwager, wissen Sie. Der aus Kenia zurückgekommen ist.«

»Und dann tranken Sie alle Ihren Tee.«

»Ja, und dann ging Lance nach oben, um Tante Effie guten Tag zu sagen, und ich ging wieder zu meinen Briefen. Ich ließ Elaine bei Adele.«

Er nickte aufmunternd. »Ja, Miss Fortescue ist ungefähr fünf oder zehn Minuten länger bei Mrs Fortescue geblieben. War Ihr Mann noch nicht zu Hause?«

»Oh nein. Percy – Val – kam nicht vor halb sieben, sieben nach Hause. Er wurde in der Stadt aufgehalten.«

»Ist er mit dem Zug zurückgekommen?«

»Ja. Am Bahnhof nahm er ein Taxi.«

»War das ungewöhnlich, dass er den Zug nahm?«

»Ab und zu tut er das. Nicht sehr oft. Ich glaube, er musste in eine Stadtgegend, wo man schlecht parken kann. Es war einfacher für ihn, den Zug zu nehmen.«

»Verstehe«, sagte Inspektor Neele. »Ich habe Ihren Mann gefragt, ob Mrs Fortescue vor ihrem Tod ein Testament aufgesetzt hat. Er sagte, er glaube es nicht. Wissen Sie etwas?«

Zu seiner Überraschung nickte Jennifer Fortescue energisch.

»Oh ja«, sagte sie. »Adele hat ein Testament gemacht. Sie hat es mir gesagt.«

»Tatsächlich! Wann war das?«

»Oh, noch nicht sehr lange her – vor einem Monat, glaube ich.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Inspektor Neele.

Eifrig beugte sich Mrs Percival vor. Ihr Gesicht war nun ganz belebt. Sie genoss es, für ein Mal mehr zu wissen und dieses Wissen zu teilen.

»Val wusste nichts davon. Niemand wusste etwas. Ich habe es auch nur zufällig erfahren. Ich kam gerade aus dem Schreibwarengeschäft, als ich Adele aus dem Anwaltsbüro kommen sah. Ansell & Worrall, wissen Sie, an der High Street.«

»Ah«, sagte Neele. »Die lokalen Anwälte?«

»Ja. Und ich sagte zu Adele: ›Was machst du denn hier?‹ Und sie lachte und sagte: ›Das würdest du wohl gerne wissen.‹ Und als wir zusammen die Straße entlanggingen, sagte sie: ›Ich werde es dir sagen, Jennifer. Ich habe mein Testament aufgesetzt.‹ – ›Aber warum denn, Adele?‹, antwortete ich. ›Du bist doch nicht krank oder so was?‹ Und sie sagte nein, natürlich nicht, sie hätte sich nie besser gefühlt. Aber jeder sollte ein Testament haben. Sie wollte nicht zu diesem arroganten Familienanwalt nach London, zu Mr Billingsley. Sie sagte, der alte Heuchler würde es nur der Familie erzählen. ›Nein‹, sagte sie, ›mein Testament ist meine Sache, Jennifer, und ich mache es auf meine Art und niemand soll etwas wissen.‹ – ›Nun, Adele‹, sagte ich, ›ich werde es bestimmt niemandem sagen!‹ – ›Das ist auch egal‹, sagte sie, ›du weißt ja nicht, was drin steht!‹ Aber ich habe niemandem etwas gesagt, nicht einmal Percy. Frauen müssen zusammenhalten, finden Sie nicht, Inspektor?«

»Das ist eine noble Haltung, Mrs Fortescue.«

»Missgünstig bin ich bestimmt nicht«, sagte Jennifer. »Ich mochte Adele nicht besonders, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich hielt sie für den Typ, der vor nichts zurückschreckt, um ans Ziel zu gelangen. Und jetzt ist sie tot. Vielleicht habe ich sie falsch eingeschätzt, die arme Seele.«

»Nun, vielen Dank, Mrs Fortescue, Sie haben mir sehr geholfen.«

»Das ist sehr gern geschehen. Ich bin froh, wenn ich etwas tun kann. Es ist alles so schrecklich. – Wer ist denn eigentlich die alte Dame, die heute früh angekommen ist?«

»Eine Miss Marple. Sie kam freundlicherweise her, um uns Auskunft über Gladys zu geben. Sie hat Gladys ausgebildet.«

»Wirklich? Wie interessant.«

»Nur noch eines, Mrs Percival. Wissen Sie irgendetwas über Amseln?«

Jennifer Fortescue zuckte sichtlich zusammen. Sie ließ ihre Handtasche fallen und bückte sich, um sie aufzuheben. »Amseln, Inspektor? Amseln? Was für Amseln?«

Ihre Stimme klang atemlos. Inspektor Neele lächelte ein wenig, als er antwortete: »Einfach Amseln. Tote, lebendige oder sogar, sagen wir, symbolische?«

Scharf antwortete Jennifer Fortescue: »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Sie wissen also gar nichts über Amseln, Mrs Fortescue?«

Langsam sagte sie: »Sie meinen wohl die in der Pastete, letzten Sommer. Dummes Zeug.«

»Und auf dem Schreibtisch waren auch welche, nicht?«

»Ein dummer Streich. Ich weiß nicht, wer Ihnen davon erzählt hat. Mein Schwiegervater, Mr Fortescue, war sehr verärgert.«

»Nur verärgert? Oder mehr?«

»Oh, ich verstehe. Ja, ich glaube… ja, es stimmt. Er hat uns gefragt, ob Fremde auf dem Gelände gewesen waren.«

»Fremde?« Inspektor Neele hob fragend die Brauen.

»So hat er sich ausgedrückt«, verteidigte sich Mrs Percival.

»Fremde«, wiederholte Neele nachdenklich. »Schien er verängstigt?«

»Verängstigt? Ich verstehe nicht.«

»Nervös. Wegen der Fremden, meine ich.«

»Ja, ja, das stimmt. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Es ist doch schon ein paar Monate her. Ich hielt es einfach für einen hässlichen, dummen Streich. Crump vielleicht. Crump ist ein sehr unausgeglichener Mann, und ich bin mir ganz sicher, dass er trinkt. Er kann manchmal richtig frech werden. Ich frage mich, ob er einen heimlichen Groll gegen Mr Fortescue hegte. Wäre das möglich, Inspektor?«

»Möglich ist alles.« Damit ging Inspektor Neele hinaus.

 

Percival Fortescue war in London, aber Inspektor Neele fand Lancelot mit seiner Frau in der Bibliothek, wo sie Schach spielten.

»Ich unterbreche Sie nur ungern«, sagte Neele entschuldigend.

»Wir schlagen nur die Zeit tot, nicht, Pat?«

Pat nickte.

»Sie werden es für eine dumme Frage halten, aber wissen Sie irgendetwas über Amseln, Mr Fortescue?«

»Amseln?« Lance schien belustigt. »Was für Amseln, die eigentlichen Vögel?«

Mit einem entwaffnenden Lächeln gestand Neele: »Ich weiß es selber nicht genau, Mr Fortescue. Aber Amseln wurden mehrmals erwähnt.«

»Himmel!« Lance wirkte plötzlich hellwach. »Doch nicht die alte Amsel-Mine?«

Scharf fragte Neele: »Die Amsel-Mine? Was ist das?«

Lance runzelte die Stirn. »Das Dumme ist, Inspektor, ich weiß es nicht mehr genau. Eine unscharfe Erinnerung an ein unsauberes Geschäft in der Vergangenheit meines Vaters. Irgendetwas an der Westküste Afrikas. Ich glaube, Tante Effie hat es ihm einmal vorgeworfen, aber ich weiß nichts Genaueres.«

»Tante Effie? Das ist Miss Ramsbottom?«

»Ja.«

»Ich werde sie danach fragen.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Eine außergewöhnliche alte Dame. Sie macht mich ganz nervös.«

Lance lachte. »Ja, Tante Effie ist schon eine Nummer. Aber sie kann Ihnen sehr nützlich sein, wenn Sie sie zu nehmen wissen. Vor allem, wenn Sie sich für die Vergangenheit interessieren. Sie hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und am liebsten schwelgt sie in Erinnerungen, die anderen schaden könnten.« Er überlegte. »Da ist noch etwas. Ich bin nach oben gegangen, um sie zu begrüßen, wissen Sie, kurz nach meiner Ankunft. Gleich nach dem Tee. Und sie sagte etwas über Gladys. Das ermordete Zimmermädchen. Da wussten wir natürlich noch nicht, dass sie tot war. Aber Tante Effie war überzeugt, dass Gladys etwas wusste und es der Polizei verschwiegen hatte.«

»Das stimmt auch«, sagte Inspektor Neele. »Aber nun wird sie auch nichts mehr sagen, das arme Ding.«

»Nein. Tante Effie hatte ihr geraten, gleich zu sagen, was sie wusste. Zu dumm, dass sich das Mädchen nicht daran gehalten hat.«

Inspektor Neele stählte sich für die Begegnung, als er Miss Ramsbottoms Festung betrat. Zu seiner Überraschung fand er dort Miss Marple vor. Die beiden Damen diskutierten Missionen im Ausland.

»Ich werde Sie allein lassen, Inspektor.« Miss Marple erhob sich hastig.

»Nicht nötig, Madam«, sagte der Inspektor.

»Ich habe Miss Marple eingeladen, hier zu wohnen«, sagte Miss Ramsbottom. »Kein Grund, diesem lächerlichen Golf Hotel Geld nachzuwerfen! Ein sündiges Nest von Profitjägern ist das! Kartenspiel und Gelage die ganze Nacht! Nein, da ist sie in einem christlichen Haushalt schon besser aufgehoben. Ich habe ein Gästezimmer neben meinem. Dr. Mary Peters, die Missionarin, hat zuletzt darin gewohnt.«

»Das ist sehr, sehr freundlich von Ihnen«, sagte Miss Marple. »Doch ich sollte mich einem Trauerhaus nun wirklich nicht aufdrängen.«

»Trauer! Unsinn«, sagte Miss Ramsbottom. »Wer hat denn in diesem Haus um Rex getrauert? Oder um Adele? Oder ist es wegen der Polizei? Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, Inspektor?«

»Ganz und gar nicht, gnädige Frau.«

»Da sehen Sie«, sagte Miss Ramsbottom.

»Das ist zu liebenswürdig«, sagte Miss Marple dankbar. »Ich werde sofort das Hotel anrufen und mein Zimmer abbestellen.« Sie verließ den Raum, und Miss Ramsbottom wandte sich dem Inspektor zu. »Nun, und was wollen Sie?«, fragte sie scharf.

»Ich hätte gern gewusst, ob Sie mir etwas über die Amsel-Mine erzählen können.«

Miss Ramsbottom lachte schrill und gackernd auf. »Ha! Sie sind also dahinter gekommen! Haben meine Andeutung neulich verstanden. Also, was wollen Sie darüber wissen?«

»Alles, was Sie mir sagen können, gnädige Frau.«

»Das ist nicht viel. Es ist lange her, oh, zwanzig, fünfundzwanzig Jahre. Irgendeine Konzession in Ostafrika. Mein Schwager und ein Mann namens MacKenzie waren Partner. Sie fuhren hin, um die Mine zu inspizieren, und MacKenzie starb dort am Fieber. Rex kam zurück und behauptete, die Mine, die Konzession, wie immer man das nennt, sei wertlos. Mehr weiß ich nicht.«

»Oh, ich glaube, ein bisschen mehr wissen Sie schon.«

»Alles andere ist Hörensagen. Vor Gericht lässt man Hörensagen nicht gelten.«

»Wir sind aber noch nicht vor Gericht.«

»Na gut, die MacKenzies haben einen Riesenwirbel gemacht. Sie behaupteten, Rex hätte MacKenzie betrogen. Das glaube ich sofort. Er war clever und skrupellos, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass er sich immer im Rahmen der Legalität bewegte. Sie konnten nichts beweisen. Mrs MacKenzie war eine tragische Gestalt. Tauchte hier auf und stieß wilde Racheflüche und Drohungen aus. Sagte, Rex hätte ihren Mann ermordet. Dummes, melodramatisches Zeug! Ich glaube, sie war nicht ganz richtig im Kopf. Ja, ich glaube, man hat sie kurz darauf in ein Asyl gesteckt. Kam hierher mit ihren zwei kleinen Kindern, die zu Tode erschrocken waren. Sagte, sie würde sie zur Rache erziehen. Etwas in der Art. Wilder Unfug. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Und vergessen Sie nicht, die Amsel-Mine war nur eine von vielen Gaunereien, die sich Rex in seinem Leben geleistet hat. Sie werden mehr finden, wenn Sie erst einmal danach suchen. Was hat Sie denn auf die Amsel-Mine gebracht? Führt eine Spur zu den MacKenzies?«

»Wissen Sie, was aus der Familie geworden ist?«

»Keine Ahnung«, sagte Miss Ramsbottom. »Übrigens glaube ich nicht, dass Rex MacKenzie tatsächlich umgebracht hat. Vermutlich hat er ihn einfach sterben lassen. Vor Gott ist es dasselbe, aber nicht vor dem Gesetz. Die gerechte Strafe hat ihn dann ereilt. Die Mühlen Gottes mahlen langsam, aber sie mahlen außerordentlich fein – Sie gehen nun besser. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, und Sie sollten auch keine Fragen mehr stellen.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte Inspektor Neele.

»Schicken Sie diese Marple wieder herein«, rief Miss Ramsbottom hinter ihm her. »Sie ist natürlich frivol, wie alle Anhänger der anglikanischen Kirche, aber sie weiß immerhin, wie man eine wohltätige Institution aufzieht.«

 

Inspektor Neele führte zwei Telefongespräche, eines mit Ansell & Worrall und das zweite mit dem Golf Hotel. Dann rief er Sergeant Hay zu sich und sagte, er würde für kurze Zeit weggehen.

»Ich muss einen Anwalt aufsuchen. Später können Sie mich im Golf Hotel erreichen, wenn etwas Dringendes ist.«

»Jawohl.«

»Und finden Sie alles über Amseln heraus!«, rief Neele über seine Schulter zurück.

»Amseln, Sir?«, wiederholte Hay verdutzt.

»Hab ich doch gesagt – Amseln.«

»Wird gemacht, Sir«, erklärte Hay, nun vollkommen verwirrt.