Dreizehn
Anthony hatte das Vergnügen zu sehen, wie bei seinen beiden Gefährten sofort der Groschen fiel. Aber seine Freude währte nicht lange, denn ein zweiter Gedanke traf ihn mit voller Wucht.
«Mein Gott – der Wagen!», rief er laut aus.
Er sprang auf.
«Was war ich bloß für ein Idiot! Sie sagte, dass sie beinahe überfahren worden wäre – und ich hörte kaum hin. Kommen Sie, schnell!»
«Sie sagte, dass sie vom Yard aus direkt nach Hause fahren wollte», erinnerte sich Kemp.
«Ja! Warum bin ich bloß nicht mit ihr gefahren!»
«Wer ist im Haus?», fragte Race.
«Ruth Lessing war da, um auf Mrs Drake zu warten. Es ist möglich, dass sie noch immer über die Trauerfeier sprechen!»
«Und noch über alles Mögliche, wenn ich Mrs Drake richtig einschätze», sagte Race. Abrupt fügte er hinzu: «Hat Iris Marie noch andere Verwandte?»
«Nicht dass ich wüsste.»
«Ich ahne, in welche Richtung Ihre Gedanken und Vermutungen gehen. Aber – ist es machbar?»
«Ich glaube schon. Überlegen Sie selbst, wie viel auf das Wort eines einzigen Menschen hin akzeptiert worden ist.»
Kemp zahlte die Rechnung. Während die drei Männer hinauseilten, fragte Kemp:
«Denken Sie, sie ist in akuter Gefahr? Miss Marie, meine ich?»
«O ja, allerdings!»
Anthony fluchte leise vor sich hin und winkte ein Taxi heran. Die drei Männer stiegen ein und riefen dem Fahrer zu, sie auf schnellstem Wege zum Elvaston Square zu bringen.
«Bislang habe ich nur die grobe Richtung verstanden», sagte Kemp langsam. «Demnach sind die Farradays aus dem Schneider.»
«Ja.»
«Gott sei Dank! Aber sicher wird man es doch nicht schon wieder versuchen – so schnell?»
«Je schneller, desto besser», sagte Race. «Bevor wir auch nur eine Chance haben, ihr auf die Spur zu kommen. Aller guten Dinge sind drei – so wird sie denken.»
Dann fügte er hinzu:
«Iris Marie hat mir in Mrs Drakes Beisein erzählt, dass sie Sie heiraten würde, sobald Sie es wünschten.»
Sie konnten sich nur in abgehackten Bruchstücken unterhalten, denn der Taxifahrer hatte ihre Anweisungen wörtlich genommen: Mit der größten Begeisterung raste er um Ecken und Kurven und schnitt dem Gegenverkehr die Vorfahrt ab. Schließlich bog er mit einem flotten Endspurt in den Elvaston Square und brachte den Wagen mit einem rasanten Ruck vor dem Haus zum Stehen.
Nie zuvor hatte der Elvaston Square einen friedlicheren Eindruck gemacht.
Anthony, der sich alle Mühe gab, seine übliche Gelassenheit zu wahren, murmelte:
«Wie im Kino! Man kommt sich irgendwie blöd vor.»
Aber er war schon auf der obersten Treppenstufe angelangt und läutete, während Race das Taxi bezahlte und Kemp hinter ihm die Treppe hochstieg.
Das Stubenmädchen machte ihnen auf.
«Ist Miss Iris schon zurück?», fragte Anthony scharf.
Evans sah ihn überrascht an.
«O ja, gnädiger Herr. Sie kam vor einer halben Stunde nach Haus.»
Anthony stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Im Haus war alles so ruhig und normal, dass er sich seiner melodramatischen Ängste fast schämte.
«Wo ist sie?»
«Ich glaube, im Salon bei Mrs Drake.»
Anthony nickte und sprang in großen Sätzen die Treppenstufen hinauf. Race und Kemp folgten ihm auf den Fersen.
Im Salon verbreitete gedämpftes elektrisches Licht eine friedliche Stimmung. Mit der Hoffnung und Hingabe eines Terriers war Lucilla Drake damit befasst, die Fächer des Schreibtisches zu durchwühlen.
«Ojemine! Wo habe ich bloß den Brief von Mrs Marsham hingelegt? Momentchen mal…», murmelte sie laut.
«Wo ist Iris?», fragte Anthony unvermittelt.
Lucilla drehte sich um und starrte ihn an.
«Iris? Sie – entschuldigen Sie mal!»
Sie richtete sich auf. «Darf ich fragen, wer Sie sind?»
Race trat einen Schritt hinter Anthony hervor, und Lucillas Gesicht erhellte sich. Sie sah Chief Inspector Kemp noch nicht, der soeben als Dritter den Raum betrat.
«Ach, Colonel Race! Wie gütig von Ihnen, dass Sie kommen! Aber ich wünschte, Sie hätten ein wenig früher hier sein können – ich hätte Sie zu gern wegen des Begräbnisses um Rat gefragt – der Rat eines Mannes ist immer so wertvoll. Und ich habe mich wirklich so aufgeregt, wie ich schon zu Miss Lessing sagte, dass selbst ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Und ich muss sagen, dass Miss Lessing dieses Mal wirklich sehr mitfühlend war – sie versprach, alles zu tun, was in ihren Kräften stand, um mir die Last abzunehmen –, aber, wie sie sehr verständig bemerkte, natürlich bin ich diejenige, die am besten wissen könnte, was Georges Lieblingschoräle waren. Nicht dass ich es wirklich weiß, George ging ja leider nicht allzu oft in die Kirche – aber als Frau eines Pfarrers natürlich – ich meine, als Witwe – da weiß ich schließlich, was am besten passt.»
Race nutzte eine kurze Atempause, um seine Frage dazwischenzuschieben:
«Wo ist Miss Marie?»
«Iris? Sie ist vor einiger Zeit nach Hause gekommen. Sie sagte, sie hätte Kopfschmerzen und würde gleich hoch auf ihr Zimmer gehen. Diese jungen Mädchen heutzutage haben, scheint’s, nicht mehr viel Ausdauer – sie essen nicht genügend Spinat, wissen Sie – und sie scheint auch nicht viel dafür übrig zu haben, über die Beerdigung zu sprechen. Aber irgendjemand muss diese Dinge ja schließlich erledigen – und man möchte doch das Gefühl haben, dass alles aufs Beste arrangiert ist und den Toten die rechte Ehre erwiesen wird – Leichenautos zum Beispiel habe ich nie für pietätvoll gehalten – wenn Sie mich verstehen. Das ist doch nicht dasselbe wie Pferde mit ihren langen schwarzen Schweifen – aber ich habe natürlich zugestimmt, und Ruth – ich nannte sie Ruth und nicht Miss Lessing – Ruth und ich kamen großartig miteinander zurecht. Ich sagte, sie könne alles ruhig uns überlassen.»
«Ist Miss Lessing schon gegangen?», fragte Kemp.
«Ja, wir haben alles geregelt, und Miss Lessing ist vor ungefähr zehn Minuten gegangen. Sie hat auch die Anzeigenentwürfe für die Zeitungen mitgenommen – von Blumenspenden bitten wir natürlich abzusehen, unter den gegebenen Umständen – und Kanonikus Westbury hält den Trauergottesdienst – »
Während der Redestrom weiterfloss, stahl sich Anthony behutsam zur Tür heraus. Er hatte das Zimmer bereits verlassen, als Lucilla plötzlich ihren Redeschwall unterbrach, um zu fragen:
«Wer war denn eigentlich der junge Mann, der mit Ihnen kam? Ich habe nicht sofort begriffen, dass Sie ihn mitgebracht hatten. Ich dachte erst, er wäre vielleicht einer von diesen grauenhaften Journalisten. Mit denen haben wir so viel Ärger gehabt.»
Anthony eilte leichtfüßig die Treppen hinauf. Als er Schritte hinter sich hörte, wandte er den Kopf und grinste Chief Inspector Kemp an.
«Sie haben auch die Flucht ergriffen? Armer alter Race!»
«Er macht das so nett», murmelte Kemp. «Und ich bin in diesen Gefilden nicht so beliebt.»
Sie waren im zweiten Stock angelangt und wollten gerade die Treppe zum dritten hinaufgehen, als Anthony leise Schritte herunterkommen hörte. Er zog Kemp in das nächstbeste Badezimmer.
Die Schritte gingen an ihnen vorbei die Treppen hinunter.
Anthony glitt heraus und rannte die nächste Treppe hinauf. Iris’ Zimmer war, wie er wusste, das kleine am Ende des Flurs. Er klopfte sachte an die Tür.
«Hallo – Iris!»
Es kam keine Antwort – und er klopfte und rief noch einmal. Dann versuchte er, den Türgriff zu drehen, aber die Tür war verschlossen.
Er hämmerte mit den Fäusten dagegen.
«Iris – Iris – »
Nach einigen Augenblicken hörte er auf und guckte an der Tür hinunter. Er stand auf einem jener altmodischen Läufer aus Wolle, die man vor die Türen legt, um die Zugluft abzuhalten. Dieser war eng vor die Tür gestopft. Anthony stieß ihn mit den Füßen zur Seite. Der Spalt unter der Tür war ziemlich groß – irgendwann, so folgerte er, hatte man ihn ausgesägt, um einen Teppich unter der Tür zu verlegen, anstatt der gebeizten Dielen.
Er bückte sich und sah durchs Schlüsselloch, konnte aber nichts erkennen. Plötzlich jedoch hob er den Kopf und schnupperte. Dann legte er sich flach auf den Boden und presste seine Nase gegen den Spalt unter der Tür.
Mit einem Sprung war er wieder auf den Beinen und rief:
«Kemp!»
Der Chief Inspector gab keine Antwort. Anthony rief noch einmal.
Es war jedoch Colonel Race, der die Treppen hochgelaufen kam. Anthony ließ ihm keine Zeit, etwas zu sagen.
«Gas – da strömt Gas aus!», rief er. «Wir müssen die Tür aufbrechen!»
Race hatte eine kräftige Statur. Er und Anthony machten kurzen Prozess mit dem Hindernis. Mit lautem Splittern und Krachen gab das Schloss nach.
Sie wichen für einen Moment zurück, und Race sagte:
«Sie liegt drüben beim Kamin. Ich stürze rein und schlage das Fenster ein. Sie holen sie!»
Iris lag neben dem Gasofen – Mund und Nase dicht an die weit geöffnete Düse gepresst.
Ein oder zwei Minuten später legten ein heftig nach Luft schnappender Anthony und ein nicht minder würgender Race das bewusstlose Mädchen auf dem Treppenabsatz unter dem offenen Korridorfenster ab.
Race sagte:
«Ich kümmere mich um sie. Sie holen einen Arzt! Schnell!»
Anthony raste die Treppen hinunter.
«Keine Angst!», rief Race ihm hinterher. «Sie wird es schaffen. Wir waren rechtzeitig da!»
Unten in der Halle wählte Anthony eine Nummer und bemühte sich, in die Muschel zu sprechen, wobei ihn Lucilla Drakes unaufhörliche Ausrufe im Hintergrund allerdings behinderten.
Endlich drehte er sich mit einem Seufzer der Erleichterung um.
«Hab ihn erwischt. Er wohnt auf der anderen Seite des Platzes. Er wird in wenigen Minuten hier sein.»
«– aber ich muss doch wissen, was passiert ist! Ist Iris krank?»
Es war ein letztes Wehklagen von Lucilla.
«Sie war in ihrem Zimmer», sagte Anthony. «Tür verschlossen. Ihr Kopf im Gasofen und das Gas voll aufgedreht.»
«Iris?»
Mrs Drake stieß einen schrillen Schrei aus.
«Iris hat Selbstmord begangen? Ich kann es nicht glauben! Ich glaube es nicht!»
Auf Anthonys Gesicht erschien der Schatten seines üblichen Grinsens.
«Sie brauchen es auch nicht zu glauben», sagte er. «Es ist nämlich nicht wahr.»