Zwei
Giuseppe Bolsano war ein schmächtiger Mann mittleren Alters, mit einem intelligenten Gesicht, das an ein Äffchen erinnerte. Er war nervös, wenngleich nicht übermäßig. Englisch sprach er fließend, da er, wie er erklärte, seit seinem siebzehnten Lebensjahr in England lebte und überdies mit einer Engländerin verheiratet war.
Kemp behandelte ihn mit Anteilnahme.
«Nun, Giuseppe, lassen Sie mal hören, ob Ihnen zu der Geschichte noch etwas eingefallen ist.»
«Die Sache mir ist sehr unangenehm. Ich bin es, der bedient diesen Tisch. Ich, der schenkt ein Wein. Leute werden meinen, dass ich habe verloren meinen Kopf, dass ich tat das Gift in Weingläser. Es war nicht so, aber Leute werden meinen. Jetzt sagt Mr Goldstein, besser ist es, eine Woche fernbleiben von meiner Arbeit – damit Leute mich nicht fragen zu viele Fragen und zeigen auf mich. Er ist guter Mann und gerecht, und weiß, dass es nicht ist meine Schuld und dass ich schon viele Jahre dort arbeite, also er entlässt mich nicht, wie andere Restaurantbesitzer tun würde. Mr Charles auch sehr freundlich, aber trotzdem ist großes Unglück für mich – und macht mich Angst. Ich haben einen Feind, ich mich frage?»
«Nun», fragte Kemp, sein Gesicht noch hölzerner und unbewegter als sonst, «haben Sie einen Feind?»
Das traurige Affengesicht verzog sich zu einem Lachen. Giuseppe streckte die Arme aus.
«Ich? Ich habe keinen Feind auf der Welt. Viele gute Freunde, aber keine Feinde.»
Kempte brummte.
«Und gestern Abend? Erzählen Sie mir alles über den Champagner.»
«Es war Clicquot, Jahrgang 1928 – ein sehr guter und teurer Wein. Das entsprach Mr Barton – er liebte gutes Essen und Trinken – immer nur das Beste.»
«Hat er den Wein vorher bestellt?»
«Ja. Er hatte alles vorher mit Charles geklärt.»
«Was war mit dem leeren Platz am Tisch?»
«Auch das er hatte abgesprochen. Er sagte Charles, und Charles sagte mir, dass eine junge Dame den Platz würde einnehmen später im Abend.»
«Eine junge Dame?»
Race und Kemp sahen einander an.
«Wissen Sie, wer die junge Dame war?»
Giuseppe schüttelte den Kopf.
«Nein, ich weiß nichts über das. Sie sollte später kommen, ist alles, was ich hörte.»
«Erzählen Sie uns noch weiter über den Champagner. Wie viele Flaschen?»
«Zwei Flaschen und eine dritte in Reserve. Die erste Flasche war ziemlich schnell leer getrunken. Die zweite ich öffne, kurz bevor die Vorstellung beginnt. Ich fülle die Gläser und lege die Flasche in Eiskübel.»
«Wann haben Sie Mr Barton zuletzt trinken sehen?»
«Lassen Sie mich denken. Als die Vorstellung vorbei war, sie tranken auf das Wohl von junger Dame. Es ist ihr Geburtstag, ich habe verstanden. Dann sie gingen und tanzten. Es ist danach, wenn sie wiederkommen, dass Mr Barton trinkt, und in eine Minute – einfach so! – er ist tot.»
«Haben Sie noch einmal nachgeschenkt, während die Herrschaften tanzten?»
«Nein, Herr Inspektor. Gläser waren voll, als sie tranken auf Wohl von Mademoiselle, und sie tranken nicht viel, nur ein paar Schlücker. Es war noch ausreichlich in den Gläsern übrig.»
«Ist irgendjemand – wer auch immer – in die Nähe des Tisches gekommen, während sie alle tanzten?»
«Niemand, Herr Inspektor, absolut niemand, ich bin ganz sicher.»
«Sind alle gleichzeitig zur Tanzfläche hinübergegangen?»
«Ja.»
«Und kamen gemeinsam zurück?»
Giuseppe verdrehte die Augen – er strengte sichtlich sein Gedächtnis an.
«Mr Barton, er kam zuerst zurück – mit junger Dame. Er war stämmiger als die Übrigen – er tanzte nicht so lange, Sie verstehen. Dann kamen blonder Herr, Mr Farraday, und die junge Dame in Schwarz. Lady Alexandra Farraday und dunkler Herr kamen zuletzt.»
«Sie kennen Mr Farraday und Lady Alexandra?»
«Ja, Herr Inspektor. Ich habe sie gesehen oft im Luxembourg. Sie sind sehr vornehm.»
«Nun, Giuseppe, hätten Sie es gesehen, wenn einer von diesen Leuten etwas in Mr Bartons Glas getan hätte?»
«Das ich kann es nicht sagen, Herr Inspektor. Zu meinem Bereich gehören anderen beide Tische in der Nische, und noch zwei in Hauptteil von Restaurant. Ich muss servieren Essen. Ich nicht halten Wache an Mr Bartons Tisch. Nach Varieteprogramm fast alle gehen tanzen, so dass dann ich stehe still – deshalb ich bin sicher, dass niemand dann zu Mr Bartons Tisch ist gegangen. Aber sobald Leute sich hinsetzen, ist viel zu tun.»
Kemp nickte.
«Aber ich denke», fuhr Giuseppe fort, «dass es sehr schwer wäre, etwas in Mr Bartons Glas zu tun, ohne dass jemand bemerkt. Für mich hat den Anschein, dass nur Mr Barton selbst konnte es machen. Aber Sie denken nicht so, oder?»
Er sah den Polizeibeamten gespannt an.
«Das ist also Ihre Meinung zu der Geschichte?»
«Natürlich ich weiß nichts – aber ich überlege. Genau vor einem Jahr diese wunderschöne Dame, Mrs Barton, hat sich umgebracht. Könnte nicht sein, dass Mr Barton ist so verzweifelt, dass er sich auch auf selbe Weise umbringen will? Es würde sein poetisch. Natürlich ist nicht gut für Restaurant – aber ein Herr, der will sich umbringen, denkt nicht daran.»
Er blickte eifrig vom einen zum anderen.
Kemp schüttelte den Kopf.
«Ich fürchte, so einfach ist es nicht», sagte er.
Er stellte noch einige Fragen, dann wurde Giuseppe entlassen.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, sagte Race:
«Ich frage mich, ob es das ist, was wir denken sollen?»
«Trauernder Ehemann begeht Selbstmord am Todestag seiner Frau? Zwar war es nicht genau der Jahrestag – aber annähernd.»
«Es war Allerseelen», sagte Race.
«Sehr richtig. Ja, es ist denkbar, dass diese Idee dahintersteckte – aber dann kann der Betreffende, wer immer es war, nichts davon gewusst haben, dass es diese Briefe gab und dass Barton Sie ins Vertrauen gezogen hatte und die Briefe auch Iris Marie gezeigt hatte.»
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
«Ich werde um zwölf Uhr dreißig im Hause Kidderminster erwartet. Wir hätten vorher noch Zeit, um die Leute an den anderen beiden Tischen zu treffen – jedenfalls einige von ihnen. Sie begleiten mich doch, Colonel?»