Fünf

 

Der Morgen des zweiten November dämmerte düster und nass heran. Im Esszimmer des Hauses am Elvaston Square war es so dunkel, dass beim Frühstück das Licht angemacht werden musste.

Iris war heruntergekommen, anstatt wie sonst ihren Kaffee und etwas Toast im Bett zu sich zu nehmen. Leichenblass und verhuscht saß sie da und schob ihr Essen auf dem Teller hin und her. George raschelte nervös mit der Times, und am anderen Ende des Tisches heulte Lucilla Drake hemmungslos in ein Taschentuch.

«Ich weiß, dass der liebe Junge sich etwas Schreckliches antun wird. Er ist so sensibel – und er würde nicht sagen, es ginge auf Leben und Tod, wenn es nicht so wäre.»

Mit scharfer Stimme sagte George hinter seiner Zeitung:

«Bitte mach dir keine Sorgen, Lucilla! Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich darum kümmere.»

«Ja, lieber George, du bist immer so gut! Aber ich fühle ganz sicher, dass jedes Zögern tödlich sein könnte. Diese ganzen Nachforschungen, die du erst noch anstellen willst – dadurch verlieren wir kostbare Zeit.»

«Nein, nein, das geht ganz schnell.»

«Er schreibt: ‹unbedingt bis zum Dritten›, und morgen ist der Dritte. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn meinem lieben Jungen etwas zustieße.»

«Wird schon nicht so schlimm sein.»

George nahm einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

«Und ich habe ja auch noch diese Konversionsanleihe – »

«Bitte, Lucilla, überlass das alles schön mir!»

«Mach dir keine Sorgen, Tante Lucilla!», mischte sich nun auch Iris ein. «George wird alles richtig machen. So etwas ist doch schon mal vorgekommen.»

«Schon lange nicht mehr – »

«Zuletzt vor drei Monaten», sagte George.

«– nicht mehr, seit der arme Junge von seinen schrecklichen Schwindlerfreunden auf dieser abscheulichen Ranch betrogen wurde.»

George tupfte seinen Schnurrbart mit der Serviette ab und stand auf. Beim Hinausgehen klopfte er Mrs Drake freundlich auf den Rücken.

«Kopf hoch, meine Liebe. Ich sage Ruth, dass sie gleich telegrafieren soll.»

Iris folgte ihm hinaus in die Halle.

«George, lass uns die Feier heute Abend absagen! Tante Lucilla hat sich so aufgeregt. Wir sollten lieber zu Hause bei ihr bleiben.»

«Auf keinen Fall!»

Georges Gesichtsfarbe wechselte von Rosa zu Violett.

«Wir lassen uns von diesem verdammten Nichtsnutz doch nicht unser Leben durcheinander bringen! Das ist Erpressung – die reine Erpressung. Wenn’s nach mir ginge, bekäme er keinen Pfennig zu Gesicht.»

«Damit wäre Tante Lucilla niemals einverstanden.»

«Lucilla ist ein Schaf – immer gewesen. Diese Frauen, die erst jenseits der vierzig ein Kind kriegen, scheinen nie Vernunft annehmen zu wollen. Verwöhnen die Blagen von der Wiege an – erfüllen ihnen jeden verdammten Wunsch. Wäre Victor, als er jünger war, nur ein einziges Mal mitgeteilt worden, dass er selbst sehen müsste, wie er sich aus seinem Schlamassel befreit, dann wär vielleicht was aus ihm geworden. Widersprich mir nicht, Iris! Ich arrangiere im Laufe des Tages etwas, so dass Lucilla sich heute Abend friedlich schlafen legen kann. Und falls es sein muss, nehmen wir sie eben mit.»

«O nein, sie hasst Restaurants – und wird immer so früh müde. Außerdem sind die Hitze und der Rauch nicht gut für ihr Asthma.»

«Ich weiß. Ich hab’s nicht ernst gemeint. Geh zu ihr, Iris, und muntere sie ein bisschen auf. Sag ihr, alles wird gut.»

Damit wandte er sich zum Gehen. Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss.

Langsam ging Iris in Richtung Esszimmer zurück, da klingelte das Telefon. Sie nahm selbst den Hörer ab.

«Hallo – wer?»

Die bleiche Hoffnungslosigkeit verschwand aus ihrem Gesicht und wich freudiger Erregung.

«Anthony!»

«Persönlich. Ich habe es gestern schon mal versucht, aber kriegte dich nicht an die Strippe. Hast du bei George ein gutes Wort für mich eingelegt?»

«Inwiefern?»

«Nun, George bestand so eindringlich auf seiner Einladung zu deiner Feier heute Abend. Ganz das Gegenteil von seiner üblichen ‹Hände weg von meinem lieblichen Mündel›-Masche. Wollte absolut, dass ich auch komme. Ich dachte, du hättest vielleicht ein bisschen diskrete Arbeit im Hintergrund geleistet.»

«Nein – nein – ich habe nichts damit zu tun.»

«Also ein echter Gesinnungswandel?»

«Nicht ganz. Es ist – »

«Hallo – bist du noch da?»

«Ja, Anthony.»

«Du hast eben etwas gesagt. Was ist, Liebling? Ich höre dein Seufzen durch die ganze Leitung. Ist etwas nicht in Ordnung?»

«Nein, nein, es ist nichts. Morgen geht’s mir wieder gut. Morgen wird alles gut sein.»

«Welch süßer Glauben. Heißt es nicht ‹Ein Morgen gibt es nicht›?»

«Anthony, bitte!»

«Iris – etwas stimmt doch nicht?»

«Doch, doch – nein! Ich kann jetzt nicht darüber reden. Ich habe es jemandem versprochen, verstehst du.»

«Erzähl’s mir, Liebling!»

«Nein – ich kann es wirklich nicht. Aber Anthony – wirst du mir etwas erzählen?»

«Wenn ich es kann.»

«Hast du Rosemary je – geliebt?»

Eine kleine Pause folgte, dann hörte man Lachen.

«Also das war’s! Ja, Iris, ich war ein bisschen in Rosemary verliebt. Du weißt ja, wie hübsch sie war. Aber dann, eines Tages, als ich gerade mit ihr sprach, da sah ich dich die Treppe herunterkommen – und da war’s um mich geschehen. Die Gefühle für Rosemary waren wie fortgeblasen. Es gab nur noch dich auf der Welt. Das ist die nackte, kalte Wahrheit. Grüble nicht über solche Dinge nach. Schließlich hatte sogar Romeo seine Rosalinde, bevor er sich unsterblich in Julia verliebte.»

«Danke, Anthony. Ich bin froh.»

«Bis heut Abend dann. Du hast Geburtstag, oder?»

«Erst nächste Woche – wir feiern aber schon heute.»

«Klingt nicht gerade sehr begeistert.»

«Bin ich auch nicht.»

«Ich nehme an, George weiß, was er tut, aber es kommt mir verrückt vor, am selben Ort zu feiern, wo – »

«Ach, ich war schon mehrmals im Luxembourg seit – seit Rosemary – ich meine, man kommt nicht daran vorbei.»

«Nein, und es ist ja auch egal. Ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich, Iris. Hoffentlich gefällt es dir. Au revoir!»

Er legte auf.

Iris kehrte zu Lucilla Drake zurück, um mit ihr die Lage zu erörtern, sie zu überzeugen und zu beruhigen.

 

Sobald George in seinem Büro ankam, bat er Ruth Lessing zu sich.

Als sie eintrat, ruhig und lächelnd, in ihrem gepflegten schwarzen Kostüm, ließ seine Anspannung etwas nach.

«Guten Morgen!»

«Guten Morgen, Ruth. Wir haben wieder Sorgen. Schauen Sie sich das an!» Er hielt ihr das Telegramm hin, und sie nahm es ihm aus der Hand.

«Schon wieder Victor Drake!»

«Ja, hol ihn der Teufel!»

Sie schwieg, mit dem Telegramm in der Hand. Ein markantes, dunkles Gesicht – das Kräuseln um die Nase, wenn er lachte – die spöttische Stimme: «Ganz der Typ, der am Ende den Chef heiratet…» Wie lebhaft stand ihr alles wieder vor Augen! Als ob es gestern gewesen wäre, dachte sie.

Georges Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück.

«Ist es nicht ungefähr ein Jahr her, dass wir ihn dorthin verfrachtet haben?»

Sie dachte nach.

«Ja, ich glaube schon. Ich glaube, es war der 27. Oktober.»

«Sie sind ein erstaunliches Mädchen! So ein Gedächtnis!»

Sie dachte, dass sie einen besseren Grund hatte, sich daran zu erinnern, als er ahnen konnte. Es war unmittelbar nach ihrer Begegnung mit Victor Drake gewesen, dass sie Rosemarys unbekümmerte Stimme am Telefon gehört hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass sie die Frau ihres Chefs hasste.

«Vermutlich müssen wir von Glück reden, dass er es überhaupt so lange dort ausgehalten hat», sagte George. «Auch wenn es uns vor drei Monaten schon mal fünfzig Pfund gekostet hat.»

«Dreihundert jetzt scheint ein bisschen viel.»

«Allerdings. So viel bekommt er nicht. Wir müssen die üblichen Erkundigungen einholen.»

«Ich setze mich mit Mr Ogilvie in Verbindung.»

Alexander Ogilvie war George Bartons Vertreter in Buenos Aires – ein nüchterner, dickköpfiger Schotte.

«Ja, telegrafieren Sie ihm sofort. Victors Mutter hat wieder mal Zustände. Praktisch hysterisch. Bisschen schwierig wegen der Feier heute Abend.»

«Hätten Sie gern, dass ich bei ihr bleibe?»

«Nein!»

Er lehnte ihren Vorschlag entschieden ab.

«Auf keinen Fall! Sie sind diejenige, die unbedingt dabei sein muss. Ich brauche Sie, Ruth.»

Er ergriff ihre Hand.

«Sie sind zu selbstlos, Ruth.»

«Ich bin ganz und gar nicht selbstlos.»

Sie lächelte und wagte einen weiteren Vorschlag:

«Sollte man nicht versuchen, Mr Ogilvie telefonisch zu erreichen? Dann könnten wir die ganze Sache vielleicht bis zum Abend geklärt haben.»

«Gute Idee! Das Geld ist gut angelegt.»

«Ich mache mich sofort daran.»

Sehr sachte löste sie ihre Hand aus seiner und ging hinaus.

George nahm sich verschiedene Arbeiten vor, die erledigt werden mussten.

Um halb eins verließ er das Büro und nahm ein Taxi zum Luxembourg.

Charles, der allseits bekannte und beliebte Oberkellner, kam ihm entgegen, neigte sein majestätisches Haupt und hieß ihn mit einem Lächeln willkommen.

«Guten Tag, Mr Barton.»

«Tag, Charles. Ist alles so weit vorbereitet für heute Abend?»

«Sie werden zufrieden sein, Mr Barton.»

«Derselbe Tisch?»

«Der mittlere in der Nische, nicht wahr?»

«Ja. Haben Sie auch an das überzählige Gedeck gedacht?»

«Ganz wie Sie es wünschten, Mr Barton.»

«Und den – den Rosmarin besorgt?»

«Ja, Mr Barton. Sehr dekorativ sieht er leider nicht aus. Möchten Sie nicht noch ein bisschen Stechpalme mit roten Beeren dazugebunden haben – oder vielleicht Chrysanthemen?»

«Nein, nein, nur den Rosmarin.»

«Sehr wohl, Mr Barton. Darf ich Ihnen das Menü zeigen? Giuseppe!»

Mit einem Fingerschnipsen zitierte Charles einen kleinen, lächelnden Italiener mittleren Alters herbei.

«Das Menü für Mr Barton.»

Die Menükarte wurde vorgelegt.

Austern, klare Brühe, Seezunge Luxembourg, Moorhuhn, Birne Helene, Hühnerleber in Speck.

George warf einen gleichgültigen Blick darauf.

«Ja, ja, schon in Ordnung.»

Er reichte die Karte zurück. Charles begleitete ihn zur Tür.

Er senkte die Stimme ein wenig und murmelte:

«Darf ich sagen, wie sehr wir es zu schätzen wissen, Mr Barton, dass Sie – äh – uns wieder beehren?»

Ein Lächeln – vielmehr eine grausige Grimasse – erschien auf Georges Gesicht.

«Wir müssen vergessen, was geschehen ist», sagte er. «Können nicht ewig in der Vergangenheit leben. Was vorbei ist, ist vorbei.»

«Sehr wahr, Mr Barton. Sie wissen, wie erschüttert und bewegt wir damals waren. Ich hoffe, dass Mademoiselle eine fröhliche Geburtstagsfeier haben wird. Sie können sicher sein, dass alles wunschgemäß verläuft.»

Mit eleganter Verbeugung zog sich Charles zurück und schoss wie eine zornige Libelle auf einen Hilfskellner zu, der an einem Tisch in der Nähe des Fensters etwas falsch machte.

George verließ das Restaurant mit einem gequälten Lächeln. Er hatte nicht genügend Phantasie, um an den Problemen des Luxembourg Anteil zu nehmen. Natürlich war es nicht die Schuld des Restaurants, dass Rosemary beschlossen hatte, sich ausgerechnet dort das Leben zu nehmen, oder dass jemand beschlossen hatte, sie ausgerechnet dort zu ermorden. Es war unangenehm für das Luxembourg gewesen. Aber wie die meisten Menschen, die auf eine Idee fixiert waren, hatte George nur sein eigenes Vorhaben im Sinn.

Er aß in seinem Club zu Mittag und nahm danach an einer Vorstandssitzung teil.

Auf dem Weg zurück ins Büro rief er aus einer öffentlichen Telefonzelle eine Nummer in Maida Vale an. Mit einem Seufzer der Erleichterung verließ er die Zelle. Es verlief alles nach Plan.

Er kehrte in sein Büro zurück.

Ruth eilte sogleich herbei.

«Wegen Victor Drake – »

«Ja?»

«Es tut mir Leid, aber es sieht ziemlich böse aus. Womöglich kommt es zu einer Strafverfolgung. Er hat sich über längere Zeit aus der Firmenkasse bedient.»

«Hat Ogilvie Ihnen das erzählt?»

«Ja. Ich habe ihn am Morgen erreichen können, und vor zehn Minuten hat er uns zurückgerufen. Er sagte, Victor habe die Sache ziemlich unverfroren zugegeben.»

«Sieht ihm ähnlich!»

«Er behauptet, dass sie von einer Anzeige absehen, wenn nur das Geld zurückerstattet wird. Mr Ogilvie hat mit dem Seniorchef gesprochen, und das scheint zu stimmen. Es geht um eine Summe von einhundertundfünfundsechzig Pfund.»

«Mit anderen Worten, der junge Herr hoffte, zusätzlich einen Gewinn von hundertfünfunddreißig bei der Transaktion zu machen?»

«Ich fürchte, ja.»

«Nun, immerhin haben wir ihm dabei einen Strich durch die Rechnung gemacht», sagte George mit grimmiger Genugtuung.

«Ich habe Mr Ogilvie gebeten, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. War das richtig?»

«Wenn’s nach mir ginge, wäre es mir ein besonderes Vergnügen, diesen kleinen Gauner endlich im Gefängnis zu sehen – aber man muss an seine Mutter denken. Sie ist leider nicht ganz bei Trost – aber eine liebe Seele. Also kommt Victor wieder einmal davon.»

«Was für ein guter Mensch Sie sind», sagte Ruth.

«Ich?»

«Ich finde, der beste auf der Welt.»

Er war gerührt. Er freute sich, aber gleichzeitig war es ihm auch peinlich. Spontan griff er nach ihrer Hand und gab ihr einen Handkuss.

«Liebste Ruth! Meine liebste und beste Freundin! Was hätte ich nur ohne Sie getan?»

Sie standen sehr dicht beieinander.

«Ich hätte mit ihm glücklich sein können», dachte sie. «Ich hätte ihn glücklich machen können. Wenn nur – »

Er aber dachte: «Soll ich Race’ Rat befolgen? Die ganze Sache sein lassen? Wäre das nicht wirklich das Beste?»

Aber die Unentschiedenheit, die über ihm schwebte, verging wieder.

«Um halb zehn im Luxembourg!», sagte er.