Neun

 

Äußerlich ruhig und gelassen, hatte Stephen Farraday Scotland Yard voller Widerwillen betreten. Eine schier unerträgliche Last bedrückte ihn. Am Morgen hatte es geschienen, als ob alles aufs Beste verliefe. Warum hatte Inspektor Kemp mit solchem Nachdruck auf seinem Kommen bestanden? Was wusste oder vermutete er? Es konnte sich nur um einen vagen Verdacht handeln. Jetzt hieß es, einen kühlen Kopf zu bewahren und nur ja nichts zuzugeben.

Ohne Sandra kam er sich einsam und verlassen vor. Als ob eine Gefahr die Hälfte ihrer Schrecken verlor, wenn sie beide ihr gemeinsam gegenüberstanden. Zusammen besaßen sie Stärke, Mut und Kraft. Allein war er nichts, weniger als nichts. Ob es Sandra genauso ging? Wartete sie jetzt auf ihn im Kidderminster-Haus, schweigend, unnahbar, stolz – und dabei im Innersten schrecklich verwundbar?

Inspektor Kemp empfing ihn freundlich, aber ernst. An einem Tisch saß ein Beamter in Uniform mit Papier und Bleistift. Kemp bot Stephen einen Sitzplatz an und begann, in strikt formellem Ton mit ihm zu sprechen.

«Ich schlage vor, dass wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen, Mr Farraday. Ehe Sie gehen, möchte ich Sie bitten, die Mitschrift zu lesen und zu unterschreiben. Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass es Ihnen freisteht, die Aussage zu verweigern, und dass Sie das Recht haben, Ihren Anwalt hinzuzuziehen, falls Sie das wünschen.»

Stephen erschrak, aber ließ sich nichts anmerken. Er zwang sich zu einem frostigen Lächeln.

«Das klingt ja furchtbar, Herr Inspektor.»

«Wir wollen, dass wir uns verstehen, Mr Farraday.»

«Alles, was ich sage, kann gegen mich verwendet werden – so heißt es doch?»

«Wir reden nicht von ‹gegen Sie›. Sagen wir: Alles, was Sie sagen, kann als Beweismittel verwendet werden.»

Stephen antwortete leise:

«Das verstehe ich, aber ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie noch weitere Aussagen von mir haben wollen, Inspektor. Sie haben heute Morgen alles gehört, was ich zu sagen habe.»

«Das war eine eher informelle Begegnung – nur eine erste Kontaktaufnahme. Außerdem, Mr Farraday – ich ging davon aus, dass Sie bestimmte Tatsachen lieber hier mit mir erörtern möchten. Wir versuchen, alles, was nicht direkt mit dem Fall zusammenhängt, mit so viel Diskretion wie möglich – und wie im Interesse der Justiz verträglich – zu behandeln. Ich denke, Sie verstehen, worauf ich hinauswill.»

«Ich fürchte, nein.»

Chief Inspector Kemp seufzte.

«Nun. Sie hatten mit der verstorbenen Mrs Rosemary Barton recht intimen – »

«Wer sagt das?», unterbrach ihn Stephen.

Kemp beugte sich vor und nahm ein maschinenschriftliches Dokument von seinem Schreibtisch.

«Dies ist die Kopie eines Briefes, der unter den persönlichen Hinterlassenschaften der verstorbenen Mrs Barton gefunden wurde. Das Original, das hier bei den Akten liegt, wurde uns von Miss Iris Marie ausgehändigt, die die Handschrift als diejenige ihrer Schwester identifiziert hat.»

Stephen las:

 

«Mein liebster Leopard…»

 

Eine Welle der Übelkeit überkam ihn. Rosemarys Stimme… wie sie sprach – ihn beschwor… Würde die Vergangenheit denn niemals sterben – wäre sie nie willig, sich begraben zu lassen?

Er riss sich zusammen und sah Kemp ins Gesicht.

«Sie mögen Recht in der Annahme haben, dass dieser Brief von Rosemary stammt – aber nichts deutet darauf hin, dass er an mich gerichtet war.»

«Streiten Sie ab, dass Sie die Miete des Appartements 21 Malland Mansions in Earl’s Court bezahlt haben?»

Sie wussten es also! Insgeheim fragte er sich, ob sie es die ganze Zeit über gewusst hatten.

Er zuckte mit den Schultern.

«Sie scheinen ja bestens informiert. Darf ich fragen, warum mein Privatleben derart ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden soll?»

«Es wird nicht ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden, es sei denn, es erweist sich als relevant im Zusammenhang mit George Bartons Tod.»

«Verstehe. Sie behaupten, dass ich erst eine Affäre mit seiner Frau hatte und ihn dann ermordete.»

«Hören Sie, Mr Farraday, ich will offen mit Ihnen reden! Sie und Mrs Barton waren sehr eng befreundet – und die Trennung erfolgte auf Ihren Wunsch, nicht auf den der Dame. Sie drohte, Ihnen Schwierigkeiten zu machen, wie dieser Brief zeigt. Daraufhin starb sie – wie praktisch!»

«Sie beging Selbstmord. Das mag teilweise meine Schuld gewesen sein. Ich muss mir möglicherweise Vorwürfe machen, aber es ist nicht Sache der Justiz.»

«Es mag Selbstmord gewesen sein – aber vielleicht auch nicht. George Barton glaubte nicht an Selbstmord. Er begann zu recherchieren – und starb. Dieser Ablauf legt gewisse Schlüsse nahe.»

«Ich sehe nicht ein, warum Sie ausgerechnet mich – nun – aufs Korn genommen haben.»

«Sie geben aber zu, dass Mrs Bartons Tod zu einem sehr gelegenen Zeitpunkt kam? Ein Skandal hätte sich recht nachteilig auf Ihre Karriere ausgewirkt, Mr Farraday.»

«Es hätte keinen Skandal gegeben. Mrs Barton hätte Vernunft angenommen.»

«Wer weiß! Wusste Ihre Frau von dieser Affäre, Mr Farraday?»

«Natürlich nicht.»

«Sind Sie sich da ganz sicher?»

«Absolut. Meine Frau hat keine Ahnung davon, dass zwischen Mrs Barton und mir etwas anderes als Freundschaft war. Und ich hoffe, dass sie es nie erfährt.»

«Neigt Ihre Frau zu Eifersucht, Mr Farraday?»

«Überhaupt nicht. Sie hat in Bezug auf mich nie die geringste Eifersucht erkennen lassen. Dazu ist sie viel zu vernünftig.»

Darauf ging der Inspektor nicht ein. Stattdessen sagte er:

«Sind Sie zu irgendeinem Zeitpunkt im vergangenen Jahr im Besitz von Zyankali gewesen, Mr Farraday?»

«Nein.»

«Aber Sie haben einen Vorrat an Zyankali auf Ihrem Landsitz?»

«Der Gärtner vielleicht. Darüber weiß ich nichts.»

«Sie haben nie selber welches in einer Drogerie oder zum Fotografieren erstanden?»

«Ich verstehe nichts vom Fotografieren, und ich wiederhole, dass ich niemals Zyankali gekauft habe.»

Kemp setzte ihn noch ein bisschen unter Druck, bevor er ihn gehen ließ.

Zu seinem Untergebenen sagte er nachdenklich:

«Er hat immens schnell bestritten, dass seine Frau von der Affäre mit der Barton’schen etwas wusste. Ich möchte zu gern wissen, warum?»

«Würd sagen, er hat Mordsbammel, dass sie Wind davon bekommt, Chief Inspector.»

«Das kann sein, aber ich hätte ihm doch genug Köpfchen zugetraut, um zu sehen, dass es ein zusätzliches Motiv für ihn gewesen wäre, Rosemary Barton zum Stillschweigen zu bringen, falls seine Frau keine Ahnung gehabt hätte und dann womöglich massiv geworden wäre. Um seine Haut zu retten, hätte er die Parole ausgeben müssen, dass seine Frau mehr oder weniger von der Geschichte wusste, es aber vorzog, das Ganze zu ignorieren.»

«Würd sagen, daran hat er nicht gedacht, Chief Inspector.»

Kemp schüttelte den Kopf. Stephen Farraday war nicht dumm. Er besaß einen klaren und scharfsinnigen Verstand. Und er war leidenschaftlich darauf bedacht gewesen, dem Inspektor den Eindruck zu vermitteln, dass Sandra nichts wusste.

«Nun», sagte Kemp, «Colonel Race scheint ja mit der Spur, die er aufgetan hat, sehr zufrieden zu sein, und wenn er Recht behält, dann sind die Farradays aus dem Schneider – alle beide. Das würde mich freuen. Irgendwie mag ich diesen Burschen. Und wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen: Ich halte ihn nicht für einen Mörder.»

 

Stephen öffnete die Tür zu ihrem gemeinsamen Wohnzimmer und rief leise:

«Sandra?»

Sie kam aus der Dunkelheit auf ihn zu und umarmte ihn plötzlich, die Hände auf seiner Schulter.

«Stephen?»

«Warum sitzt du hier im Dunkeln?»

«Ich konnte das Licht nicht ertragen. Erzähl!»

«Sie wissen Bescheid», sagte er.

«Über Rosemary?»

«Ja.»

«Und was denken sie?»

«Sie sehen natürlich, dass ich ein Motiv hatte… O, mein Liebling, in was habe ich dich nur hineingezogen! Es ist alles meine Schuld! Wenn ich nur nach Rosemarys Tod einen Schnitt gemacht hätte – weggegangen wäre – dich freigegeben hätte – dann wärst wenigstens du jetzt nicht in diese schreckliche Sache verstrickt.»

«Nein, sag das nicht… Verlass mich nicht… verlass mich nicht!»

Sie hing an ihm – sie weinte. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Er spürte, wie sie zitterte.

«Du bist mein Leben, Stephen, mein Ein und Alles – verlass mich nicht…»

«Bedeute ich dir so viel, Sandra? Das wusste ich nicht…»

«Ich wollte nicht, dass du es merkst. Aber jetzt – »

«Ja, jetzt… Wir stecken gemeinsam drin, Sandra… Wir stehen es gemeinsam durch… Was auch kommen mag, gemeinsam!»

Ein Gefühl von Stärke überkam sie, als sie beide so eng umschlungen in der Dunkelheit standen.

Sandras Stimme verriet Entschlossenheit:

«Wir lassen uns unser Leben nicht zerstören! Wir lassen es nicht zu! Niemals!»