Eins
Lucilla Drake zwitscherte. Das war der Begriff – ein sehr treffender Begriff –, der in der Familie gebraucht wurde, um die Töne zu beschreiben, die über ihre gütigen Lippen perlten.
An diesem Morgen hatte sie etliches zu bedenken – so viel, dass es ihr schwer fiel, sich jeweils auf eine Sache zu konzentrieren. Die Rückkehr nach London stand unmittelbar bevor, mit allem, was das für den Haushalt bedeutete. Little Priors musste winterfest gemacht werden. Personal, Haushaltsführung – tausend kleine Probleme machten ihr zu schaffen. Und dazu die Besorgnis über Iris’ Aussehen!
«Also wirklich, Kind, ich mache mir Sorgen um dich – du siehst so blass und abgespannt aus – als ob du überhaupt nicht geschlafen hättest! Hast du geschlafen? Wenn nicht, dann haben wir noch das gute Schlafmittel von Dr. Wylie – oder war es Dr. Gaskell? Da fällt mir ein – ich muss selbst mit dem Kaufmann sprechen – entweder haben die Mädchen hinter meinem Rücken Bestellungen aufgegeben, oder er beschwindelt uns mit Absicht. So viel Waschmittel haben wir doch nie im Leben bestellt – mehr als drei Pakete pro Woche erlaube ich nie. Oder möchtest du vielleicht lieber etwas Stärkendes haben? Als ich ein Mädchen war, gab es immer Eaton’s Sirup. Und natürlich Spinat. Ich werde der Köchin sagen, dass sie zum Mittagessen Spinat machen soll.»
Iris war zu träge – und zu sehr an Mrs Drakes Gedankensprünge gewöhnt –, um zu fragen, warum die Tante bei der Erwähnung von Dr. Gaskell an den Krämerladen gedacht hatte. Hätte sie gefragt, hätte sie allerdings eine prompte Antwort erhalten:
«Weil der Kaufmann Cranford heißt natürlich, Kindchen.»
Tante Lucillas Assoziationen kamen ihr selbst immer absolut logisch vor.
So beschränkte sich Iris darauf, mit dem letzten Rest an Energie, den sie nur aufbringen konnte, zu antworten:
«Mir geht es ganz gut, Tante Lucilla.»
«Schwarze Ringe unter den Augen!», sagte Mrs Drake. «Du hast dir zu viel zugemutet.»
«Aber ich habe doch überhaupt nichts getan – seit Wochen.»
«Das denkst du, Kindchen. Aber zu viel Tennis ist ungesund für junge Mädchen. Und ich finde, das Klima hier ist sehr anstrengend. Das Haus liegt in einer Senke. Hätte George doch mich gefragt statt dieses Mädchens.»
«Welches Mädchen?»
«Diese Miss Lessing, auf die er so viel gibt. Ist ja schön und gut im Büro, wenn du meine Meinung hören willst – aber ein großer Fehler, wenn sich die Grenzen verwischen. Er ermuntert sie doch geradezu, bis sie sich noch selbst für ein Mitglied der Familie hält. Als ob sie dazu noch aufgefordert werden müsste!»
«Ach, Tante Lucilla, aber es ist doch auch wirklich so. Ruth gehört praktisch zur Familie.»
Mrs Drake schnupfte.
«Sie legt es darauf an – das ist vollkommen klar. Armer George. Wirklich ein hilfloses Baby, wenn es um Frauen geht. Aber so geht es nicht, Iris. Wir müssen George vor sich selber schützen. Wenn ich du wäre, würde ich es unmissverständlich klarmachen – so nett diese Miss Lessing auch sein mag –, dass so etwas wie Heirat überhaupt nicht in Frage kommt.»
Für einen kurzen Augenblick erwachte Iris aus ihrer Lethargie.
«Nicht im Traum habe ich daran gedacht, dass George Ruth heiraten könnte.»
«Du siehst nicht, was sich direkt vor deiner Nase abspielt, Kind. Natürlich hast du nicht die Lebenserfahrung wie ich. Diese junge Frau will unter die Haube.»
Trotz ihrer Stimmung musste Iris lächeln. Tante Lucilla war manchmal zu komisch.
«Würde das etwas ausmachen?», fragte sie.
«Etwas ausmachen? Natürlich würde es etwas ausmachen.»
«Wäre es nicht eigentlich sogar ganz nett?»
Ihre Tante starrte sie an.
«Nett für George, meine ich. Du hast vermutlich Recht, was sie angeht. Ich glaube, sie mag ihn. Und sie wäre eine fabelhafte Frau für ihn, die sich wunderbar um ihn kümmern würde.»
Mrs Drake schnaubte vor Empörung, und über ihr schafsähnliches, gutmütiges Gesicht breitete sich Entrüstung.
«Um George wird sich schon sehr gut gekümmert, meine ich. Was will er noch mehr? Er bekommt leckere Mahlzeiten, und seine Garderobe wird bestens in Ordnung gehalten. Außerdem ist es sehr nett für ihn, so ein attraktives junges Mädchen wie dich im Haus zu haben, und wenn du eines Tages heiraten solltest, dann hoffe ich doch immer noch in der Lage zu sein, weiter für sein Wohlergehen zu sorgen. Und zwar genauso gut oder sogar besser, als das so ein Bürofräulein je machen könnte. Was weiß sie schon von Haushaltsführung? Zahlen und Bücher und Steno und Tippen – was nützt das einem Mann in seinen eigenen vier Wänden?»
Iris lächelte und schüttelte den Kopf, aber sie verzichtete auf eine weitere Diskussion. Sie dachte an Ruths seidig glänzenden, dunklen Schopf, an ihren alabasternen Teint und die perfekte Figur, die in den klassisch geschnittenen Kostümen, die sie bevorzugte, so gut zur Geltung kam. Arme Tante Lucilla, mit nichts als Bequemlichkeit und Haushaltsführung im Kopf! Alles, was mit Liebe zu tun hatte, lag für sie so lange zurück, dass sie vermutlich längst vergessen hatte, was es bedeutete – wenn es ihr überhaupt je etwas bedeutet hatte, dachte Iris, als sie sich an ihren angeheirateten Onkel erinnerte.
Lucilla Drake war Hector Maries Halbschwester gewesen, das Kind aus einer früheren Ehe. Sie hatte wie eine kleine Mutter für den sehr viel jüngeren Bruder gesorgt, als seine eigene Mutter starb. Dann hatte sie ihrem alten Vater den Haushalt geführt und sich unterdes zur alten Jungfer verhärtet. Sie ging auf die vierzig zu, als sie dem Reverend Caleb Drake begegnete, der selbst schon über fünfzig war. Die Zeit ihrer Ehe hatte nur kurz gedauert, knapp zwei Jahre, dann war sie als Witwe mit einem Säugling zurückgeblieben. Da die Mutterschaft so spät und unerwartet in ihr Leben kam, war sie die höchste Erfüllung in Lucilla Drakes Leben. Ihr Sohn war ein Sorgenkind geworden, eine Quelle ständigen Kummers und finanzieller Auszehrung – aber nie eine Enttäuschung. Mrs Drake weigerte sich, in ihrem Sohn Victor irgendetwas anderes zu erkennen als höchstens eine liebenswerte Charakterschwäche. Victor war zu vertrauensselig – zu leicht beeinflussbar durch unpassende Kameraden, denen er Glauben schenkte. Victor hatte Pech. Victor wurde betrogen. Victor wurde hereingelegt. Er war der Handlanger böser Männer, die seine Unschuld ausnutzten. Ihr freundliches, etwas dümmliches Schafsgesicht verhärtete sich vor Starrsinn, wenn Kritik an Victor laut wurde. Sie kannte doch ihren eigenen Sohn! Er war ein lieber Junge, immer gut gelaunt, und das nutzten seine so genannten Freunde aus. Keiner wusste besser als sie, wie sehr Victor es hasste, wenn er sie um Geld bitten musste. Aber was sollte der arme Junge machen, wenn er doch wirklich in solch einer schrecklichen Notlage war? Er hatte ja sonst niemanden, an den er sich hätte wenden können.
Trotzdem, das gab sie zu, war Georges Einladung, in sein Haus zu ziehen und sich um Iris zu kümmern, wie ein Geschenk des Himmels gekommen, just in dem Moment, als die verschämte Armut sie an den Rand ihrer Existenz gebracht hatte. Sie war im vergangenen Jahr glücklich und zufrieden gewesen, und es entsprach nicht der menschlichen Natur, es freundlich hinzunehmen, wenn man von einer jungen Senkrechtstarterin abgelöst werden sollte, die ganz moderne Effizienz und Kompetenz verkörperte und die den armen George, wie Lucilla sich einredete, sowieso nur wegen seines Geldes heiraten würde. Natürlich hatte sie es darauf abgesehen! Ein gepflegtes Heim und einen reichen, nachgiebigen Mann! Man konnte Tante Lucilla, in ihrem Alter, nicht mehr weismachen, dass irgendein junges Ding wirklich gerne Geld verdienen ging! Junge Mädchen waren genauso, wie sie immer gewesen waren – wenn sie einen Mann abkriegen konnten, der sie gut versorgte, dann zogen sie diese Lösung vor. Diese Ruth Lessing war clever, schlängelte sich in eine Vertrauensposition hinein, half George bei der Einrichtung, machte sich unentbehrlich – aber zum Glück gab es wenigstens eine Person, die durchschaut hatte, worauf sie es anlegte!
Lucilla Drake nickte mehrmals mit dem Kopf, was ihr weiches Doppelkinn hin- und herschwabbeln ließ. Sie hob die Augenbrauen mit einem Ausdruck überlegener menschlicher Weisheit und gab das Thema zu Gunsten eines ebenso interessanten und eventuell dringlicheren auf.
«Ich kann mich wegen der Decken nicht entschließen, Liebchen. Weißt du, ich kriege es einfach nicht heraus, ob wir bis zum nächsten Frühjahr nicht mehr wiederkommen oder ob George auch an Wochenenden aufs Land fahren will. Er will sich nicht festlegen.»
«Ich nehme an, er weiß es nicht.»
Iris bemühte sich, auf ein Problem einzugehen, das ihr vollkommen unwichtig erschien.
«Wenn das Wetter schön ist, könnte es nett sein, ab und zu einmal herzukommen. Obwohl ich nicht glaube, dass ich sehr scharf darauf sein werde. Immerhin, das Haus ist da, wenn wir kommen wollen.»
«Ja, Kind, aber man möchte es wissen. Verstehst du, wenn wir bis zum nächsten Jahr nicht herausfahren, sollte ich die Decken einmotten. Aber wenn wir kommen, dann wäre das nicht nötig, denn die Decken würden benutzt – und der Geruch von Mottenkugeln ist so unangenehm.»
«Nun, dann nimm keine.»
«Ja, aber es war ein sehr heißer Sommer, da gibt es eine Menge Motten. Das sagt dir jeder, es ist ein furchtbares Mottenjahr! Und Wespen natürlich auch. Hawkins erzählte mir gestern, dass er in diesem Sommer dreißig Wespennester ausgenommen hat – dreißig – stell dir das mal vor!»
Iris dachte an Hawkins – wie er in der Dämmerung auf die Pirsch ging – Zyankali zur Hand – Zyankali – Rosemary… Warum führte alles immer an diesen Punkt zurück?
Das dünne, flötende Geräusch, das Tante Lucillas Stimme war, tönte weiter – es hatte jetzt einen anderen Punkt erreicht.
«– und ob wir das Silber ins Bankschließfach bringen sollen oder nicht? Lady Alexandra sagte, es gebe hier viele Einbrüche – obwohl wir natürlich gute Fensterläden haben – ich mag die Art nicht, wie sie ihre Haare frisiert – lässt ihr Gesicht so streng erscheinen – aber ich denke, sie ist auch eine harte Frau. Und nervös, das außerdem. Heutzutage sind alle so nervös. Zu meiner Zeit wussten die Leute gar nicht, was Nerven sind. Dabei fällt mir ein, mir gefällt nicht, wie George in der letzten Zeit aussieht – ob er wohl die Grippe bekommt? Ein oder zwei Mal dachte ich, er hätte Fieber. Aber vielleicht sind es die Geschäfte. Er sieht mir ganz so aus wie jemand, der sich mit einer Sache herumquält.»
Iris fröstelte, und Lucilla Drake rief triumphierend:
«Da siehst du es, ich sagte ja, du hast dich erkältet!»