Drei

 

Als sie den Park zur Hälfte durchquert hatten, sagte Iris:

«Macht es dir etwas aus, wenn ich nicht mit dir zurückkehre, George? Ich möchte noch einen kleinen Spaziergang machen. Ich denke, ich gehe noch über Friars Hill und komme dann durch den Wald zurück. Ich hatte den ganzen Tag so schreckliche Kopfschmerzen.»

«Armes Mädchen. Ja, mach das! Ich kann leider nicht mitkommen – hab noch einen Termin am Nachmittag und weiß nicht genau, wann der Bursche aufkreuzt.»

«Natürlich. Bis zum Tee dann!»

Sie machte abrupt kehrt und hielt sich scharf nach rechts, wo ein Streifen von Lärchen den Abhang eines Hügels säumte.

Als sie an der Kuppe des Hügels ankam, schöpfte sie tief Luft. Es war ein schwüler, feuchter Oktobertag. Eine dampfende Nässe lag auf den Blättern, und die tief hängenden, grauen Wolken kündigten weiteren Regen an. Hier oben auf dem Hügel herrschte kaum frischere Luft als im Tal, trotzdem hatte Iris das Gefühl, als könne sie etwas freier atmen.

Sie ließ sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder und blickte hinunter ins Tal, wo sich Little Priors versteckt in seine bewaldete Senke schmiegte. Etwas links davon schimmerten rote Rosen auf Backstein: das Herrenhaus von Fairhaven.

Das Kinn in die Hand gestützt, ließ Iris den Blick melancholisch über die Landschaft schweifen.

Das leichte Rascheln hinter ihr war kaum lauter als das Tröpfeln von den Blättern, aber sie drehte sich mit einem Ruck um: Die Zweige teilten sich, und Anthony Browne trat hervor.

Halb ärgerlich rief sie aus:

«Tony! Warum musst du immer so auftauchen wie – wie der Teufel aus der Versenkung?»

Anthony ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. Er zog sein Zigarettenetui hervor und bot ihr eine Zigarette an. Als sie ablehnte, nahm er sich selbst eine und zündete sie an. Nachdem er einen Zug genommen hatte, antwortete er:

«Weil ich das bin, was die Zeitungen den großen Unbekannten nennen. Ich liebe es, aus dem Nichts aufzutauchen.»

«Woher wusstest du, wo ich bin?»

«Ein Fall für den Feldstecher. Ich hörte, dass du bei den Farradays zum Lunch warst, und habe dir vom Hügel aus nachspioniert, als du dort fortgingst.»

«Warum kannst du nicht wie jeder normale Mensch zu uns nach Hause kommen?»

«Ich bin kein normaler Mensch», sagte Anthony mit gespieltem Entsetzen. «Ich bin ziemlich außergewöhnlich.»

«Allerdings.»

Er warf ihr einen schnellen Blick zu. Dann sagte er:

«Ist was?»

«Nein, natürlich nicht. Zumindest – »

Sie verstummte. Anthony fragte nach:

«Zumindest?»

Sie atmete tief ein.

«Ich habe es satt, hier zu sein. Ich hasse Little Priors. Ich will zurück nach London.»

«Du fährst doch bald, nicht wahr?»

«Nächste Woche.»

«Dann war dies also das Abschiedsfest bei den Farradays?»

«Es war kein Fest. Nur die beiden und eine alte Cousine.»

«Magst du die Farradays, Iris?»

«Ich weiß es nicht. Ich glaube, nicht besonders – obwohl ich das nicht sagen sollte, denn sie waren wirklich sehr nett zu uns.»

«Glaubst du, dass sie dich mögen?»

«Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, sie hassen uns.»

«Interessant.»

«Findest du?»

«Nicht, dass sie euch hassen – falls das stimmt. Interessant finde ich, dass du ‹uns› sagst. Meine Frage hatte sich nur auf dich bezogen.»

«Ach so… Sie haben wohl nichts gegen mich persönlich. Aber ich glaube, sie haben etwas dagegen, dass wir als Familie praktisch nebenan wohnen. Wir waren ja eigentlich nicht mit ihnen befreundet – sie waren Rosemarys Freunde.»

«Ja», sagte Anthony, «du sagst es, sie waren Rosemarys Freunde – obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass Sandra Farraday und Rosemary Busenfreundinnen waren, was?»

«Nein», sagte Iris. Sie war jetzt ein wenig auf der Hut, aber Anthony rauchte friedlich weiter. Nach einer Weile sagte er:

«Weißt du, was mir an den Farradays am meisten auffällt?»

«Was denn?»

«Nun, genau das – dass sie die Farradays sind. Wenn ich an sie denke, dann immer so – nicht als Stephen und Sandra, nicht als zwei Individuen, die mit dem Segen von Staat und Kirche zusammenleben – immer als dieses Doppelwesen – die Farradays. Kommt seltener vor, als du denkst. Die beiden haben ein gemeinsames Ziel, den gleichen Lebensstil, gleiche Hoffnungen und Ängste, gleiche Ansichten. Und das Komische ist, dass sie im Grunde sehr unterschiedlich sind. Stephen Farraday, würde ich sagen, ist ein Mann mit großer intellektueller Reichweite, sehr abhängig von der Meinung anderer, mit einem schrecklich geringen Selbstvertrauen und wenig Zivilcourage. Sandra hingegen hat einen eher begrenzten, mittelalterlichen Verstand, ist zu fanatischer Hingabe fähig und mutig bis an die Grenze der Verwegenheit.»

«Auf mich wirkt er immer reichlich gestelzt und borniert.»

«Borniert ist er überhaupt nicht. Er ist nur einer dieser typischen unglücklichen Erfolgsmenschen.»

«Unglücklich?»

«Die meisten Erfolgsmenschen sind unglücklich. Das ist der Grund für ihren Erfolg – sie müssen sich ständig selbst bestätigen, indem sie irgendwas erreichen, was in der Welt Aufsehen erregt.»

«Was für ungewöhnliche Ideen du hast, Anthony.»

«Du wirst schnell erkennen, dass es sich so verhält, wenn du darüber nachdenkst. Die Glücklichen scheitern, denn sie sind mit sich selbst im Reinen. Ihnen ist alles schnurz. So wie mir. Man kommt in der Regel auch gut mit ihnen aus – wiederum so wie mit mir.»

«Du hast eine hohe Meinung von dir selbst.»

«Ich mache nur auf meine Stärken aufmerksam für den Fall, dass sie dir entgangen sein sollten.»

Iris lachte. Ihre Stimmung hatte sich gebessert. Die dumpfe Niedergeschlagenheit und Angst waren von ihr abgefallen. Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr.

«Komm mit zum Tee, und lass ein paar Leute mehr in den Genuss deiner ungewöhnlich angenehmen Gesellschaft kommen!»

Anthony schüttelte den Kopf.

«Heute nicht. Ich muss zurück.»

«Warum kommst du nie zu uns nach Hause?», fragte Iris voller Schärfe. «Es muss doch einen Grund dafür geben.»

Anthony zuckte mit den Schultern.

«Sagen wir, ich bin ein bisschen komisch, was das Annehmen von Gastfreundschaft angeht. Dein Schwager mag mich nicht – das hat er ziemlich unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.»

«Ach, kümmere dich doch nicht um George! Wenn Tante Lucilla und ich dich bitten – sie ist eine liebe alte Dame – du wirst sie mögen.»

«Das würde ich sicherlich – aber meine Vorbehalte bleiben.»

«Als Rosemary noch lebte, bist du oft gekommen.»

«Das», sagte Anthony, «war etwas ganz anderes.»

Eine kalte Hand fasste sachte an Iris’ Herz. Sie sagte:

«Warum bist du überhaupt heute gekommen? Hattest du geschäftlich in diesem Teil der Welt zu tun?»

«Sehr wichtige Geschäfte – mit dir. Ich kam, um dich etwas zu fragen, Iris.»

Die kalte Hand verschwand. Stattdessen ergriff sie ein sachtes Flattern, ein Herzklopfen, wie Frauen es seit Menschengedenken kennen. Und gleichzeitig nahm Iris’ Gesicht denselben ahnungslosen, fragenden Ausdruck an, den schon ihre Urgroßmutter gehabt haben mochte, bevor sie ein paar Minuten später «Ach, Herr Sowieso, dies kommt so plötzlich!» flüsterte.

«Ja?»

Sie wandte Anthony dieses unglaublich ahnungslose Gesicht zu.

Er sah sie ernst an, beinahe streng.

«Sag mir die Wahrheit, Iris. Dies ist meine Frage: Vertraust du mir?»

Sie war überrascht. Es war nicht die Frage, die sie erwartet hatte. Er sah es.

«Du hast gedacht, dass ich dich etwas anderes fragen würde? Aber es ist eine sehr wichtige Frage, Iris. Für mich die wichtigste Frage auf der Welt. Vertraust du mir?»

Sie zögerte eine kleine Sekunde, dann antwortete sie mit niedergeschlagenen Augen:

«Ja.»

«Dann mache ich weiter und frage dich noch etwas. Willst du mit mir nach London kommen und mich heiraten, ohne es irgendjemandem zu sagen?»

Sie starrte ihn an.

«Aber das kann ich nicht! Ich könnte es einfach nicht!»

«Du könntest mich nicht heiraten?»

«Nicht so.»

«Und doch liebst du mich. Du liebst mich doch?»

Sie hörte sich selbst sagen:

«Ja, ich liebe dich, Anthony.»

«Aber du willst nicht mit mir kommen und mich in der Kirche der heiligen Elfrida heiraten, in der Gemeinde in Bloomsbury, in der ich seit ein paar Wochen wohne und wo ich daher jederzeit ein Aufgebot bestellen kann?»

«Wie sollte ich so etwas machen? George wäre furchtbar verletzt, und Tante Lucilla würde mir niemals vergeben. Und außerdem bin ich noch nicht volljährig. Ich bin ja erst achtzehn.»

«Dann gibst du eben ein anderes Alter an. Ich weiß nicht, in welcher Weise ich mich strafbar mache, wenn ich eine Minderjährige ohne Zustimmung ihres Vormunds heirate. Wer ist denn dein Vormund?»

«George. Er verwaltet auch mein Vermögen.»

«Wie gesagt, ich weiß nicht, was die Strafe sein mag, aber sie könnten die Ehe nicht annullieren, und das ist das Einzige, was für mich zählt.»

Iris schüttelte den Kopf.

«Ich kann es nicht tun. Ich könnte nicht so lieblos sein. Und überhaupt, warum sollte ich? Was soll das Ganze?»

«Deshalb habe ich dich zuerst gefragt, ob du mir vertraust», sagte Anthony. «Du müsstest meine Gründe auf Treu und Glauben akzeptieren. Sagen wir, so wäre es am einfachsten. Aber lassen wir das jetzt.»

Schüchtern meinte Iris:

«Wenn George dich nur ein bisschen besser kennen lernen könnte. Komm jetzt mit mir zurück! Es sind nur er und Tante Lucilla da.»

«Bist du sicher? Ich dachte – »

Er dachte nach.

«Als ich den Hügel raufstieg, sah ich jemanden, der sich eurem Haus näherte – und das Komische ist, ich meinte ihn zu erkennen – als jemanden» – er zögerte « – dem ich schon einmal begegnet bin.»

«Ach ja – das habe ich vergessen – George sagte, dass er Besuch erwartet.»

«Der Mann, den ich zu sehen meinte, hieß Race – Colonel Race.»

«Das ist wohl möglich», stimmte Iris zu. «George kennt wirklich einen Colonel Race. Er war auch eingeladen, an dem Abend, als Rosemary – »

Ihre Stimme zitterte; sie brach ab. Anthony griff nach ihrer Hand.

«Denk nicht mehr daran, Liebling. Ich weiß, es war grausam.»

Sie schüttelte den Kopf.

«Ich kann nichts dagegen tun. Anthony – »

«Ja?»

«Ist dir je die Idee gekommen – hast du je daran gedacht – »

Sie fand es schwierig, ihren Gedanken in Worte zu fassen.

«Hast du je den Verdacht gehabt – dass Rosemary vielleicht nicht Selbstmord begangen hat? Dass sie vielleicht – umgebracht wurde?»

«Großer Gott, Iris! Wie bist du auf so eine Idee gekommen?»

Sie gab keine Antwort – hakte nur noch einmal nach:

«Du hast nie daran gedacht?»

«Natürlich nicht! Rosemary hat Selbstmord verübt!»

Iris sagte nichts.

«Wer hat dich auf solche Gedanken gebracht?»

Einen Augenblick lang war sie in Versuchung, ihm Georges unglaubliche Geschichte zu erzählen, aber sie beherrschte sich. Langsam sagte sie:

«Es war nur so eine Idee.»

«Vergiss es, Liebling. Du Dummköpfchen.»

Er zog sie zu sich hoch und küsste sie leicht auf die Wangen.

«Du liebes, morbides Dummköpfchen! Vergiss Rosemary! Denk nur an mich!»