10
»MICHAEL.« HARRY POOLES STIMME war leise, aber energisch. »Michael, steh auf! Es geht los.«
Zögernd erwachte Michael Poole aus dem Schlaf. Er schob die dünne Decke zurück, rollte sich auf den Rücken und rieb sich die Augen. Er sah, daß Berg neben ihm bereits wach war und sich aufsetzte. Poole stützte sich auf die Ellbogen und zuckte zusammen, als ein Schmerz durch den Steiß fuhr: In Shiras kleiner Hütte war es recht ruhig, und die Luft des Erd-Schiffes war unbewegt und angenehm warm; aber trotz Miriams Versicherungen, daß die harte Oberfläche das beste wäre, worauf er überhaupt liegen könne, bezweifelte er, daß er sich jemals daran gewöhnen konnte, auf einer mit höchstens zwei Zentimetern Stroh gepolsterten Pritsche über einem Boden aus Xeelee-Werkstoff zu schlafen.
Miriam Berg zog sich schon die für die Freunde typische einteilige Fliegerkombi über. »Was geht los, Harry?«
Die durch die Diffraktion verzerrte Virtuellprojektion seines Vaters schwebte über Poole. »Das Portal hat seine Emission von hochenergetischen Teilchen verstärkt. Etwas ist im Anmarsch, Michael. Eine Invasion aus der Zukunft – wir müssen hier verschwinden.«
Noch während Poole sich in Kombi und Stiefel zwängte, stolperte er auf den offenen Eingang des Zeltes zu. Er blinzelte in das Licht von Jupiter und drehte das Gesicht gen Himmel. Dort hing das Interface-Portal, grazil und schön, alles andere als eine Drohung verheißend.
»Splines«, keuchte Berg. »Sie haben Splines durchgeschickt. Die lebenden Schiffe, die die Freunde beschrieben haben, die Kriegsschiffe der Qax, der Besatzung, sind unterwegs, um die Erde zu zerstören. Genauso, wie wir es erwartet haben.«
Ein Unterton schwang in Bergs Stimme mit, den Poole noch nie zuvor gehört hatte, eine Brüchigkeit, die in ihm den atavistischen Drang auslöste, sie in die Arme zu nehmen und sie vom Himmel abzuschirmen.
»Michael«, sagte Berg, »diesen Dingern kann auch die höchstentwickelte Technologie der Menschen nichts entgegensetzen – in fünfzehn Jahrhunderten. Was können wir dann schon tun? Wir haben nicht einmal die Chance, ihre häßlichen Häute auch nur anzukratzen.«
»Nun, wir können es auf jeden Fall versuchen«, murmelte Poole. »Mach schon, Berg. Ich brauche deine volle Einsatzbereitschaft. Harry, was geschieht im Rest des Sonnensystems?«
Die außerhalb des Zeltes wieder brillante Projektion zuckte nur nervös die Achseln. »Ich kann keine Nachricht absetzen, Michael. Die Freunde blockieren mich noch immer. Aber die Schiffe in diesem Sektor haben den Hochenergie-Teilchenfluß geortet.« Er sah Michael bedauernd in die Augen. »Niemand kann sagen, was wirklich los ist, Michael. Sie halten nach wie vor einen Sicherheitsabstand ein und warten auf unsere Rückmeldung. Sie wittern keine Bedrohung – schließlich hockt das Erd-Schiff schon seit einem Jahr in der Jupiterumlaufbahn, rätselhaft, aber harmlos. Was könnte jetzt schon geschehen? Die Leute sind – neugierig, Michael. Sie freuen sich geradezu darauf. Über jeder Stadt der Erde hängen große Projektionen, Darstellungen des Portals und des Erd-Schiff es… Es ist wie ein Volksfest.«
»Aber sobald die Qax ihren Angriff starten…«
»Wird es zu spät sein.« Berg nahm Michaels Arm; ihr Gesicht war noch immer eine Maske der Angst, aber ein Teil ihrer Entschlossenheit und Schläue schien sich wieder eingefunden zu haben. »Hör zu. Die beste Gelegenheit, sie zu erwischen, haben wir jetzt… in den ersten paar Minuten nach dem Austritt der Spline aus dem Portal.« Poole nickte. »Richtig. Kausalitätenstreß.«
»Die Spline sind lebende Wesen«, sagte Berg. »Vielleicht haben sie irgendwo eine Schwachstelle, an der wir ansetzen können; die Qax, und ihre Schiffe, werden sicher eine Weile brauchen, bis sie volle Kampfbereitschaft hergestellt haben. Wenn wir sie schnell erwischen können, haben wir vielleicht eine Chance.«
Natürlich hatte Berg recht. Die Entwicklung der ganzen Sache schien irgendwie vorgezeichnet, überlegte Poole. Wir müssen die Initiative ergreifen. Er schloß die Augen und wünschte sich in die Abgeschiedenheit der Oort-Wolke zurück – wo er wenigstens keine Entscheidungen treffen mußte.
Harry lachte, wobei seine Stimme spröde und schrill war. »Sie schnell treffen? Sicher. Und womit, bitte?«
»Mit der Singularitätenkanone«, flüsterte Poole.
Berg musterte Poole intensiv, wobei ihr verschiedene Szenarien durch den Kopf gingen. »Aber – selbst wenn wir die Zustimmung der Freunde erhalten würden – die Kanone ist nicht als Waffe konzipiert worden.«
»Dann rüsten wir sie eben um«, seufzte Michael mit müdem Blick.
»Solange die verdammten Dinger noch ausgerichtet und abgefeuert werden können. Sag mir, wie das funktionieren soll. Du beschießt den Jupiter mit Schwarzen Löchern…«
»Ja«, bestätigte Michael. »Mit jedem Kanonenschuß wird ein Singularitätenpaar abgeschickt. Im Grunde ist dieses Gerät nichts anderes als eine Kanone; nach dem Abschuß der Singularitäten beschreiben sie eine ballistische Flugbahn. Während sie sich in einem Abstand von etwa einem Meter umkreisen, dringen die Singularitäten in den Schwerkraftschacht des Jupiter ein. Die Flugbahnen sind so berechnet, daß sie sich in einem bestimmten Punkt im Innern des Planeten schneiden.«
Berg runzelte die Stirn. »Und am Schluß wird das Loch – oder die Löcher – den Jupiter zerstören…«
»Ja. Der Zweck des Projekts ist, den Jupiter in ein einzelnes Schwarzes Loch mit einer genau spezifizierten Masse zu verwandeln…«
»Aber das kann doch Jahrhunderte dauern. Ich weiß, daß die Löcher zwar exponentiell wachsen, aber ausgehend von einer winzigen Masse; die Löcher können nur so schnell wachsen, wie ihre Umgebung es ihnen erlaubt.«
»Das ist richtig.« Er lächelte fast sehnsüchtig. »Aber der Zeitrahmen des Projektes ist nicht nur in Jahrhunderten bemessen, sondern noch in viel größeren Dimensionen.«
Berg versuchte alle gedanklichen Register zu ziehen und vergaß dabei ganz den dräuenden Himmel über sich.
Wie konnten sie mit dieser planetenzerstörenden Kanone einen Spline lahmlegen? Wenn sie die Schwarzen Löcher einfach nur so abfeuerten, würden die winzigen Singularitäten das Fleisch des Kriegsschiffs durchschlagen. Ohne Zweifel würde der Spline beim Durchgang der Löcher durch Gezeiten- und andere Effekte verletzt werden, und vielleicht konnten sie einen guten Treffer plazieren und eine lebenswichtige Komponente erwischen… vielleicht aber auch nicht; der Spline hatte eine Größe von anderthalb Kilometern, und die von den durchgehenden Löchern verursachten Wunden würden kaum schlimmer sein als die von Laserschüssen.
Ein Geschoßfächer, ein Sperrfeuer?
»Was, wenn wir zwei Singularitäten direkt im Schwerpunkt des Spline plazierten. Ginge das?«
»Natürlich.« Michael runzelte die Stirn; Berg konnte die sich durch seinen Kopf erstreckenden Flugbahnen fast sehen. »Wir müßten die Singularitäten nur mit einer niedrigen Geschwindigkeit abfeuern – noch unterhalb der Fluchtgeschwindigkeit des Erd-Schiffes.«
»Ja.« Berg führte das plastisch aus. Wie in die Luft geworfene Steine würden die Singularitäten zur Ruhe kommen und sich im Körper des Spline einrichten… doch nur für einen Moment, um dann wieder zurückzufallen. Welchen Nutzen sollte das haben? Es würde Tage dauern, bis die Schwarzen Löcher die Masse des Spline aufgezehrt hätten – und vielleicht Stunden, bis so viel Materie absorbiert worden wäre, um ernsthaften Schaden anzurichten – und nicht die paar Sekunden, die sie sich im Innern des Spline aufhielten.
Wie dem auch sei, sie hatten nicht stundenlang Zeit.
Also was dann?
»Warum schicken sie die Singularitäten überhaupt auf derart komplexen Flugbahnen in den Jupiter?« fragte Harry. »Warum können sie sich nicht schon vor dem Eindringen in das Zentrum vereinigen?«
Michael schüttelte den Kopf. »Du hast die kleinen Details dieser Konstruktion nicht begriffen«, kommentierte er nüchtern.
»Offensichtlich nicht«, erkannte Harry trocken.
»Ist dir denn klar, was geschieht, wenn zwei Singularitäten konvergieren und verschmelzen?« Mit beiden Fäusten markierte er die sich annähernden Singularitäten, wie sie umeinander herumwirbelten und schließlich miteinander verschmolzen. »Die Ereignishorizonte fusionieren zu einem einzigen Horizont einer größeren Singularität… die Entropie wächst proportional mit der Größe der Singularität. Und die Singularitäten selbst, Raumverwerfungen im Zentrum der Schwarzen Löcher, stürzen ineinander; durch die Strahlung im Spektrum der Blauverschiebung erhöhen sich die effektiven Massen, bis die finale Fusion im Bereich des Planck’schen Zeitspektrums eintritt – die solcherart erzeugten gigantischen Gravitationsfelder ›blasen‹ quasi die Zeit auf. Und der gemeinsame Ereignishorizont zittert wie eine Seifenblase, während er aufgrund quadropolarer Effekte Strahlung generiert.«
Berg nickte langsam. »Und welche Form nimmt diese – Strahlung – an?«
Die Frage schien ihn zu überraschen. »Gravitationale, natürlich. Gravitationswellen.«
Sie atmete tief durch und spürte, wie ihr Blutdruck leicht über normal stieg. Gravitationswellen.
Michael dozierte weiter.
Hierbei handelte es sich aber nicht um die seit Jahrhunderten von terranischen Astronomen beobachteten niedlichen, kleinen Wellen in der Raumzeit, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiteten… Wenn zwei massive Singularitäten miteinander verschmolzen, schlugen sie monströse Schwerkraftwellen. Nichtlineare Verwerfungen der Raumzeit selbst.
»Und die Strahlung ist gerichtet«, sagte Michael. »Sie ist entlang der Achse des paarigen Schwarzen Loches gepulst. Indem man die Position und Ausrichtung der Löcher bei der Fusion im Planeteninneren präzise definiert, kann man die Gravitationswellenfronten nach Belieben vektorieren. Man kann die Implosion von Jupiter richtig formen, indem seine Substanz großmaßstäblich manipuliert wird; ich glaube, daß die Freunde sogar die Absicht hatten, vor dem endgültigen Kollaps einen Teil der Planetenmasse abzutrennen. Die richtige Größe, das Winkelmoment und die Ladung des finalen Schwarzen Loches sind offensichtlich wichtige Parameter für den Erfolg des…«
Aber Berg hörte schon gar nicht mehr zu. Dann war das Erd-Schiff also nicht nur – nur – ein Singularitätenkanonen-Träger. Es war ein Gravitationswellen-Geschütz.
Ein von Menschenhand erschaffener Sternenhammer.
Sie konnten zurückschlagen.
Michael schaute auf und schnappte nach Luft. Die Farbe des Himmels hatte sich verändert und warf graue Schatten auf sein Gesicht.
Berg sah ebenfalls nach oben. Ein großer fleischiger Mond glitt behäbig auf den Zenit zu; seine schlachtschiffgraue Oberfläche war mit Augenhöhlen und Geschützpforten übersät. Hunderte von Metern lange blutige Narben entstellten die Hülle aus Haut. Berg suchte nach dem Interface-Portal und sah statt dessen ein weiteres dieser Elefantenschiffe aus der Zukunft auftauchen. Eines seiner Extremitäten schabte an dem himmelblauen Gitterrohrrahmen des Portals entlang, und eine Schicht Fleisch verdampfte, als die immense Masse der exotischen Materie Gezeiteneffekte in dem lebenden Gewebe induzierte.
Die Spline…
Es war soweit.
Der in entoptischer Flüssigkeit eingelegte Jasoft Parz klammerte sich an die gummiartige Hornhaut des Spline und schaute nach draußen in die Vergangenheit.
Parz’ Schiff verließ jetzt die Gravitationsquelle des Jupiter und nahm Fahrt zu seinem Eintrittspunkt in den Hyperraum auf, um die Distanz zu den inneren Planeten zu überbrücken. Das Interface-Portal des Wurmlochs fiel hinter ihnen zurück; jetzt sah es aus wie eine bläuliche Narbe auf der geschwollenen Wange des Jupiter. Parz sah, daß ein zweites Spline-Schiff, das Schwesterschiff seiner Einheit, schon über dem irdisch-grünen Brocken hing, der das Schiff der Rebellen war.
Parz seufzte. »Das Rebellenschiff ist elegant.«
»Es ist ein von hyperaktiven Affen in den Weltraum geschleuderter Lehmbrocken«, erwiderte das Qax.
»Nein. Sieh es dir mal genauer an. Eine tarnende Schicht Erdreich überzieht eine Hülle aus Xeelee-Werkstoff… sie müssen eine Xeelee-Blume gestohlen und dieses Ding in einer tiefen unterirdischen Anlage konstruiert haben.« Er lachte. »Und das alles unter eurem aufmerksamen Blick.«
»Unter dem aufmerksamen Blick meines Vorgängers«, korrigierte das Qax. »Die Sensoren des Schiffes weisen aus, daß das Ding um eine Schicht aus Singularitäten herumgebaut worden ist. Tausend an der Zahl, wobei die gesamte Masse der eines Asteroiden entspricht…«
Parz stieß einen Pfiff aus. »Das klingt unwahrscheinlich. Wie…«
»Offensichtlich konnte eine solche Masse nicht durch den Weltraum transportiert werden«, erkannte das Qax. »Die Rebellen müssen eine Technologie entwickelt haben, solche Materialien aus der Substanz eines Planeten zu extrahieren.«
Einst hatten die Menschen die Fähigkeit besessen, Artefakte aus exotischer Materie zu produzieren. Allem Anschein nach war diese Technologie nicht völlig verlorengegangen beziehungsweise von den Qax konfisziert worden. Vor Parz’ geistigem Auge erschienen Magmaströme, die kanalisiert und komprimiert wurden und in einen Strom aus Singularitäten von ungeheurer Energie implodierten… Er konnte sich gar nicht sattsehen an dem Erd-Schiff. »Es ist eine kühne und geniale Konstruktion.«
»Du scheinst Stolz zu empfinden.«
Parz hob die Schultern. »Warum sollte ich den auch nicht empfinden? Gerade unter den widrigsten Umständen haben die Menschen immer ihre besten Leistungen erbracht. Und dann haben diese Rebellen sogar etwas Derartiges geschaffen…«
»Laß die Kirche im Dorf«, erwiderte das Qax. »Dieses Schiff kann kaum eine ernsthafte Bedrohung für die Besatzungsmacht darstellen. Trotz aller Genialität seiner Konstruktion haben wir es hier mit einem einzigen, klapprigen Raumer zu tun, der kaum seine strukturelle Integrität aufrechterhalten kann. Und er wurde heimlich erbaut, wie im Bau eines gejagten Tieres. Welchen Grund könnte es da geben, stolz zu sein?«
»Vielleicht betrachten die Rebellen sich ja auch als gejagte Tiere«, merkte Parz an.
Das Qax zögerte. »Deine Bewunderung für diese Kriminellen ist interessant«, meinte es dann milde.
»Oh, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, wiegelte Parz mit unterschwelligem Ekel vor sich selbst ab. »Rhetorisch bin ich ein engagierter Rebell. Immer gewesen. Aber wenn es an die Ausführung geht, sieht es wieder ganz anders aus.«
»Ich weiß. Ich verstehe dieses Merkmal deiner Persönlichkeit. Genauso wie mein Vorgänger.«
»Bin ich wirklich so berechenbar?«
»Es ist ein Faktor, der deinen Nutzwert in unseren Augen erhöht«, sagte das Qax.
Hinter der gekrümmten Flanke des Spline erschien ein anderes Schiff. Dieses, so erkannte Parz durch die Linse des Spline, war ein Raumer aus der Jetztzeit: ein gedrungenes, schwerfälliges und knallig buntes Gerät, das wie ein Insekt vor dem Auge des Spline hing. Die Sensoren wiesen auf das Vorhandensein einer ganzen Reihe dieser Shuttles hin, die sich um das Interface-Portal versammelt hatten. Bisher hatte sich keines dieser Schiffe dem Spline in den Weg gestellt – oder vielmehr versucht, sich ihm in den Weg zu stellen.
»Machst du dir wegen dieser zeitgenössischen Schiffe Sorgen?« fragte Parz.
»Sie können uns nichts anhaben«, meinte das Qax scheinbar desinteressiert. »Wir können uns hier Zeit lassen und die Systeme des Spline durchchecken, bevor wir das Sonnensystem im Hyperflug durchqueren.«
Parz lächelte. »Qax, deine Worte erinnern mich an den Kommandanten eines nuklearen Flugzeugträgers aus dem zwanzigsten Jahrhundert, der mit Verachtung auf die bemalten Einbäume der Insulaner herabsah, die auf die offene See hinausgepaddelt waren, um ihn zu begrüßen. Und dennoch kann auch die primitivste Waffe töten…«
»Und ich frage mich, warum sie nicht angreifen.«
Er drückte das Gesicht an die Hornhaut und überflog den Himmel; jetzt, wo er genau darauf achtete, erkannte er, wie viele der fremden zeitgenössischen Schiffe sich hier befanden und von welch unterschiedlicher Konstruktion sie waren. Er erinnerte sich daran, daß die politische Struktur in dieser Periode chaotisch gewesen war. Fragmentiert. Vielleicht repräsentierten diese Schiffe viele verschiedene Regionalregierungen. Die Administrationen von Monden, der inneren Planeten und der Erde selbst; sowie der zentralen, intersolaren Zusammenschlüsse… Vielleicht existierte nicht einmal eine Kriegskoalition; womöglich gab es niemanden, der einen Angriff auf diesen Spline koordinieren konnte.
Dennoch war Parz durch die Selbstgefälligkeit des Qax gereizt. »Machst du dir nicht wenigstens Gedanken darüber, daß diese Schiffe das ganze Sonnensystem in Alarmbereitschaft versetzen könnten? Vielleicht können die inneren Planeten mehr gegen euch ins Feld führen«, hoffte er grimmig. »Und wenn sie genug Zeit zur Vorbereitung haben…«
»Jasoft Parz«, unterbrach ihn das Qax mit einem Anflug von Ungeduld, »deine todessehnsüchtigen Phantasien gehen mir langsam auf die Nerven. Mir liegt keines dieser düsteren Indizien vor, die du herbeizusehnen scheinst.«
Parz runzelte die Stirn und kratzte geistesabwesend an der Stelle des dicken, durchsichtigen Kunststoffs seines Helmvisiers herum, unter der sich seine Wange befand. »Die Situation ergibt irgendwie keinen Sinn, selbst angesichts der politischen Zersplitterung. Die Freunde halten sich jetzt schon seit einem Jahr in dieser Epoche auf. Sie hätten also reichlich Zeit gehabt, die Menschen dieser Ära zu warnen, Abwehrmaßnahmen zu koordinieren und eine Flotte gegen euch aufzustellen… sie hätten sogar das Interface-Portal sperren können.«
»Es gibt keine Hinweise für eine solche Koordination«, sagte das Qax.
»Stimmt. Wäre es möglich, daß die Freunde die Menschheit überhaupt nicht gewarnt haben? – sich vielleicht nicht einmal mit ihnen in Verbindung gesetzt haben?« Vor dem Jupiter konnte Parz noch immer das Schiff der Freunde ausmachen, eine grüne Insel in einem Meer aus Ocker und Rosa. Was hatten die Rebellen vor? Die Freunde mußten irgendein Projekt in der Planung gehabt haben, als sie ihre verzweifelte Flucht in diese Zeit durchgeführt hatten… aber anscheinend hatten sie keine Notwendigkeit gesehen, auf die Ressourcen der ›Eingeborenen‹ zurückzugreifen.
Parz versuchte sich vorzustellen, wie eine Handvoll Rebellen mit einem einzigen improvisierten Schiff hoffen konnte, aus einer Distanz von fünfzehnhundert Jahren gegen eine interstellare Macht anzugehen.
»Es macht auch keinen Unterschied«, murmelte das Qax, wobei seine körperlose Stimme wie ein Insekt irgendwo hinter Parz’ Ohren summte. »Das zweite Schiff der Besatzungsmacht steht jetzt nur noch wenige Minuten von dem Schiff der Rebellen entfernt; diese absurde Episode nähert sich ihrem Höhepunkt.«
»Michael Poole. Miriam.«
Poole konnte nur mit Mühe den Blick von dem erstaunlichen Himmel wenden. Shira stand vor ihnen; Poole erkannte, daß der übliche nichtssagende Ausdruck ihres Totenschädels durch zusammengekniffene Lippen und eine weißrosa Verfärbung ihrer Nasenspitze verfremdet wurde. Das Erd-Schiff über ihr war voller Bewegung; Freunde rannten mit Notebooks und anderen Ausrüstungsgegenständen über den stacheligen Rasen und trafen sich bei den Steinen im Zentrum des Schiffes.
»Shira«, rief Berg heftig, »das dort oben sind Spline-Kampfschiffe.«
»Wir wissen, was vor sich geht, Miriam.«
»Was, zum Teufel, werdet ihr dann unternehmen?«
Shira ignorierte die Frage und wandte sich Poole zu. »Ihr müßt im Zelt bleiben«, sagte sie. »An der Oberfläche des Erd-Schiffes ist es jetzt nicht sicher. Der Xeelee-Werkstoff wird euch abschirmen vor…«
»Ich werde nirgendwohin gehen, wenn Sie mir nicht sagen, was Sie zu tun gedenken«, widersprach Poole.
Harry, dessen Projektion außerhalb der Hütte wieder in vollem Glanz erstrahlte, verschränkte die Arme und schob das Kinn vor. »Das gilt auch für mich«, sagte er trotzig.
Shiras Stimme war brüchig, aber noch zusammenhängend. »Wir werden nicht direkt auf den Einfall der Qax reagieren«, insistierte sie. »Es hat keinen Sinn…«
»Willst du damit sagen, daß ihr sie erst hierhergebracht habt und jetzt nach Belieben hier schalten und walten lassen wollt?« schrie Berg.
Shira zuckte vor dem Zorn der Frau zurück, wich aber nicht von der Stelle. »Du verstehst nicht«, erwiderte sie, wobei der Streß aus ihrer Stimme noch deutlicher herauszuhören war. »Das Projekt hat absoluten Vorrang.«
Harry versuchte, Pooles Arm zu ergreifen; seine Finger stachen in einer Wolke aus Bildpunkten durch die Kleidung und das Fleisch. »Michael. Schau mal auf den Spline.«
Das erste Kriegsschiff hatte jetzt den Zenit überschritten und schien sich von dem Erd-Schiff zurückzuziehen. Tief in seinen kraterähnlichen Poren sah Poole das Glitzern von Blut und Metall.
Der Partner des Spline, das zweite Schiff, hatte sich mittlerweile auch vom Interface abgesetzt. Es hatte schon die Ausmaße eines großen Geldstücks und wurde zusehends größer.
Das zweite Schiff schien auf Kollisionskurs mit ihnen zu gehen.
»Nur zwei«, murmelte Berg.
Besorgt sah Poole sie an; ihr Gesicht war um die starrenden Augen herum verzerrt. »Was?«
»Keine Anzeichen, daß noch mehr Schiffe durch das Portal kommen. Wenn noch eine dritte Einheit dabei wäre, hätte sie auch schon materialisieren müssen.«
Poole schüttelte den Kopf vor Erstaunen darüber, daß sie trotz der über ihnen am Himmel hängenden Drohung noch in der Lage war, so klar zu denken. »Meinst du, daß sie von jemandem aufgehalten werden, am anderen Ende?«
Berg verneinte die Frage mit einem kurzen, ruckartigen Kopfschütteln. »Auf keinen Fall. Sie glauben, mit zwei Schiffen auszukommen.«
Shira rang besorgt die Hände. »Bitte«, sagte sie. »Das Zelt.«
Poole ignorierte sie. »Was glaubst du, werden sie wohl tun?«
Berg, die ihre Angst jetzt überwunden oder zumindest verdrängt hatte, verfolgte die lautlose Bewegung des Spline. »Der erste verläßt den Raumsektor um Jupiter.«
Poole runzelte die Stirn. »Welchen Kurs nehmen sie? Auf das innere Sonnensystem?«
»Ist doch logisch«, entgegnete Berg trocken. »Dorthin, wo die Erde liegt, dick und fett.«
»Und das zweite?«
»…Rückt uns gerade auf den Pelz.«
»Ihr braucht keine Angst zu haben«, beruhigte sie Shira. »Wenn das Projekt in seine Endphase tritt, werden sich diese Ereignisse auf… harmlose Schatten reduzieren…«
Poole und Berg wandten den Blick von den häßlichen Vorgängen am Himmel ab und musterten die Freundin.
»Sie ist verrückt«, diagnostizierte Berg.
Shira beugte sich vor; der Blick ihrer blassen, blauen Augen war intensiv. »Ihr müßt das verstehen. Das Projekt wird das alles korrigieren. Die Kontinuität des Projektes hat nicht nur Top-Priorität für uns alle, sondern muß sie sogar haben. Das gilt auch für euch, unsere Besucher.«
»Soll das heißen, daß hinter dieses Projekt sogar unsere Verteidigung – die Verteidigung der Erde – gegen einen Angriff der Spline zurücktreten muß?« fragte Poole. »Shira, das ist vielleicht die beste Gelegenheit, die wir jemals zur Abwehr dieses Angriffs haben werden. Und…«
Sie schien gar nicht zuzuhören. »Das Projekt muß vollendet werden«, meinte sie nur. »Der Ablauf muß sogar noch beschleunigt werden.« Das Mädchen sah von einem zum anderen, verweilte mit der Bitte um Verständnis auf ihren Gesichtern; Michael meinte geradezu sehen zu können, wie sich die eingeübten Phrasen ohne tiefere Bedeutung in ihrem Kopf jagten. »Ihr kommt jetzt mit mir.«
»Was meinst du?« wandte sich Poole an Berg. »Ob sie uns zwingen werden? Haben sie Waffen?«
»Du weißt, daß sie welche haben«, erwiderte Berg ruhig. »Du hast doch gesehen, wie sie mein Boot zugerichtet haben.«
»Es besteht also für uns keine Möglichkeit, sie mit Druck zu irgend etwas zu bewegen.« Er hörte die Frustration und die Verzweiflung aus seiner Stimme heraus. »Sie werden sich den Splines überhaupt nicht entgegenstellen; sie konzentrieren sich ausschließlich auf ihr Projekt. Das magische Projekt, das alles retten wird.«
Berg knurrte leise.
Sie holte mit der geballten Faust zur Seite aus und erwischte die Freundin direkt an der Schläfe. Shira sackte zusammen und stürzte ins Gras.
»Wow«, kommentierte Harry und blickte auf das zierliche Gesicht der Bewußtlosen.
»Sie wird bald wieder zu sich kommen«, sagte Miriam. »Wir müssen uns beeilen.«
Poole schaute nach oben zu dem immer größer werdenden rotierenden Spline-Kampfschiff. »Was sollen wir tun?«
»Wir müssen beide Spline außer Gefecht setzen«, murmelte Berg.
»Ja, natürlich«, entgegnete Harry. »Wir setzen beide außer Gefecht. Oder, auf der anderen Seite, warum machen wir nicht gleich Nägel mit Köpfen? Ich habe einen genialen Plan…«
»Halt die Klappe, Harry«, meinte Michael geistesabwesend. »Gut, Miriam, wir sind ganz Ohr. Was also?«
»Wir müssen uns verteilen. Harry, ist das Boot der Crab startbereit?«
Harry schloß die Augen, als ob er in sein Inneres schauen wollte. »Ja«, meldete er dann.
Shira begann sich im Gras zu bewegen und stöhnte leise.
»Vielleicht könnt ihr mit dem Boot abhauen«, sagte Miriam. »Während die Freunde noch wie aufgescheuchte Hühner umherrennen und versuchen, klar Schiff zu machen. Fliegt zurück zur Crab und verfolgt den ersten Spline, der Kurs auf die Erde nimmt. Vielleicht erwischt ihr ihn noch, bevor er im Hyperraum verschwindet.«
»Und was dann?«
Berg grinste sarkastisch. »Woher soll ich das wissen?
Ich entwickle nur ein Konzept aus dem Stegreif. Ihr müßt euch dann schon selbst etwas einfallen lassen.«
»Na gut. Und was ist mit dir?«
Berg sah nach oben. Der zweite Spline, der auf das Erd-Schiff zuhielt, wurde ständig größer; er hing bereits als fleischiger Mond über ihnen. »Ich versuche, mich um den hier zu kümmern«, sagte Berg. »Vielleicht schaffe ich es, an die Singularitäten-Kanonen heranzukommen.«
Shira stöhnte wieder und schien den Kopf aufrichten zu wollen.
»Was machen wir mit ihr?« fragte Poole.
Berg zuckte die Achseln. »Nimm sie mit. Vielleicht kann sie euch irgendwie von Nutzen sein.«
Poole bückte sich und hob das Mädchen auf, das ihn benommen anblickte und allmählich zu sich kam.
Berg studierte Pooles Gesicht. »Ich muß mich jetzt verabschieden.«
Harry ließ den Blick von Poole zu Miriam und wieder zurück zu Poole wandern; dann ließ er seine Projektion mit einem freundlichen Winken erlöschen.
Michael blickte über das Dorf mit den Hütten aus Xeelee-Werkstoff auf den Mittelpunkt des Erd-Schiffes. Drei stämmige Freunde kamen auf sie zugerannt. Nein, vier. Und sie hatten etwas bei sich. Waffen?
Er drehte sich wieder zu Berg um. »Du schaffst es nie bis zum Zentrum des Schiffes«, sagte er. »Komm mit uns.«
Dicht an Miriams Ohr manifestierte sich wieder Harrys Kopf. »Tut mir leid, Leute«, sagte er, »aber dafür habt ihr nicht viel Zeit.«
Miriam grinste, fuhr sich mit einer Hand durch das Strubbelhaar und atmete tief durch. »Aber ich will doch sowieso nicht zum Mittelpunkt des Schiffes. Tschüß, Michael.« Dann drehte sie sich um – und begann zu rennen, auf die Kante der Welt zu.
Mit offenem Mund starrte Michael Poole ihr nach.
Shira krümmte sich heftiger in seinen Armen und zappelte wie ein gestrandeter Fisch.
Sie hatten keine Zeit mehr. Michael machte auf dem Absatz kehrt und rannte zu seinem Boot, wobei die sperrige Shira in seinen Armen auf- und niederhüpfte und der körperlose Kopf seines Vaters neben ihm herschwebte.
Die Abbruchkante des Erd-Schiffes vor ihr war mit Gras bewachsen und hob sich in scharfem Kontrast gegen die bläulich-purpurne Oberfläche von Jupiter ab.
Ihre Gedanken überschlugen sich.
Von der kreisförmigen Siedlung der Freunde von Wigner mußte Berg ungefähr hundert Meter bis zur Kante des Schiffes laufen. Gut, in der Ebene konnte sie diese Distanz in vielleicht zehn Sekunden bewältigen. Aber die zum Rand hin abnehmende Schwerkraft müßte sie eigentlich noch schneller werden lassen – vorausgesetzt, sie fiel nicht hin -; auf der anderen Seite jedoch verließ sie die Schwerkraftquelle des Schiffes, so daß sie den Eindruck bekommen mußte, bergauf zu rennen…
Ja. Der Boden unter ihr schien schon leicht anzusteigen.
Sie versuchte, auch noch den letzten Vorteil aus der sich abschwächenden Gravitation zu ziehen; bewußt verlangsamte sie ihre Geschwindigkeit, erhöhte dafür aber die Schrittweite und vergrößerte so die pro Zeiteinheit zurückgelegte Strecke.
Sie riskierte einen Blick nach hinten. Wie sie erkannte, hatte sich die Truppe der sie verfolgenden Freunde von Wigner geteilt; zwei von ihnen konzentrierten sich auf Michael und das Mädchen, während zwei andere ihr auf den Fersen waren. Sie waren gut trainiert und holten schnell auf.
Sie hatten Laser-Gewehre bei sich, Knarren von der Sorte, die ihr Boot verwüstet hatten. Sie stellte sich vor, wie Photonenladungen aus den Waffen abgestrahlt wurden und sich lichtschnell in ihren Rücken bohrten. Einer Handwaffe kannst du nicht entkommen… Sie spürte, wie sich der Rücken verspannte und die Muskeln verkrampften. Ihr Lauf wurde unregelmäßig, und sie versuchte, bis auf den Gedanken an den nächsten Schritt alles andere aus dem Kopf zu verbannen.
Jetzt schien sie eine Steigung mit dreiunddreißig Prozent zu erklimmen. Sie wagte nicht, sich umzuschauen, vor lauter Angst, das Erd-Schiff scheinbar hinter sich umkippen zu sehen und mit verlorener Balance hilflos zurückzutaumeln. Und, verdammt, die Brust schmerzte. Die Lungen saugten dünner werdende Luft an; sich in dieser Entfernung von der winzigen Schwerkraftquelle des Erd-Schiffes zu bewegen, entsprach einer Klettertour in den Bergen des Mars.
Sie fragte sich, warum die Freunde nicht einfach das Feuer auf sie eröffneten. Sie hätten nicht einmal zielen müssen; sie brauchten nur die Laser in Anschlag zu bringen und sie zu filetieren, so wie sie es mit ihrem Boot gemacht hatten. Aber sie zögerten. Überlegten es sich zweimal.
Miriam erkannte, daß sie sie nicht umbringen, sondern aufhalten wollten; sie hielten sich mit dem Einsatz ihrer Waffen zurück.
Sie hatte nicht viel Zeit für die Freunde, aber wenigstens waren sie keine Killer. Vielleicht wäre es andersherum besser gewesen.
Jetzt richtete sich ihre perspektivische Wahrnehmung auf die näherkommende Kante der Welt. Sie sah bereits die einzelnen Grashalme…
Ihre Lungen schmerzten wie die Hölle. Sie fühlte, wie die Zunge aus dem Mund hervordrang. Ihre Brust schmerzte. Die Beine, die sich beim Erklimmen des steiler werdenden Hügels versteiften, zitterten, als ob sie das Ziel näher kommen spürten.
Sie ignorierte das alles. Mit wirbelnden Armen stemmte sie die Füße ins Gras, als ob sie das Erd-Schiff unter sich wegdrücken wollte.
Die Steigung der ›Ebene‹ nahm weiter zu; sie schien an einem Schüsselrand, einem Gebirgshang hinaufzufliegen…
Und dann war kein Gras mehr unter ihren Stiefeln.
Sie kippte nach vorn und hing über der Kante dieser Welt; durch ihre Bewegungsenergie hob sie vom Erd-Schiff ab und tauchte in das rosa Licht des Jupiter-Raumsektors ein; Arme und Beine waren gespreizt wie die Streben eines unwirklichen Kinderdrachens. Während sie langsam davondriftete, sah sie, wie sich ihre Verfolger mit abgelegten Waffen auf dem Gras niederließen, sah, wie sie in der dünnen Luft mühsam atmeten und wie erstaunte Comic-Figuren aussahen.
Sie war im Raum verloren, die Lungen leer. Scheinbar bewegungslos hing sie zwischen dem Erd-Schiff und der riesigen Masse des Jupiter. Dunkelheit schob sich seitlich über ihr Blickfeld.
O Gott, Michael, vielleicht war das doch kein so guter Plan gewesen.
Michael Poole rannte um das Dorf des Erd-Schiffes herum auf sein Boot zu. Er war jetzt schon erschöpft; die Arme schmerzten vom Gewicht der halb bewußtlosen Shira.
Er beobachtete, wie Berg über die Kante der Welt flog. Er fand noch die Zeit, sich zu fragen, ob sie wohl wußte, was sie tat.
Er schaute über die Schulter, wobei die Beanspruchung der Muskulatur den atemlosen Schmerz in der Brust nur noch verstärkte. Zwei der Freunde waren ihm noch immer auf den Fersen. Sie waren so dicht hinter ihm, daß er die Schlammspritzer auf ihren leichten pinkfarbenen Kombinationen sehen konnte, ihre grimmigen Gesichter und die glitzernden Kunststoffschäfte ihrer Laser-Gewehre…
Harry schwebte neben ihm, wobei die Beine im Zeichentrickstil wie Propeller rotierten. »Ich hasse es, Hiobsbotschaften zu überbringen«, keuchte er, »aber sie holen auf.«
»Sag mir irgendwas… ich weiß nicht weiter.«
Harry linste unbeschwert über die Schulter. »Ich weiß überhaupt nicht, warum sie dir nicht gleich hier den Fangschuß verpassen.«
»Spar dir dieses… Geseire…«, keuchte Michael, dessen Schultern und Arme eine einzige Quelle des Schmerzes waren, »und… tu etwas!«
»Was denn zum Beispiel?«
»Laß dir was… einfallen, verdammt«, grollte Michael.
Harry runzelte die Stirn, rieb sich das Kinn und verschwand.
Plötzlich stießen Pooles Jäger Schreie aus, Bögen von Laserlicht spannten sich über ihnen, und das Zischen von Ozon war zu hören.
In vollem Lauf riskierte Michael einen zweiten Blick zurück.
Eine drei Meter große Ausgabe von Harry, eine schimmernde Collage aus halbtransparenten, faustgroßen Bildpunkten war vor den beiden Freunden materialisiert. Irritiert hielten sie stolpernd vor der Erscheinung an und beharkten sie mit ihren Lasern. Die blaßrosa Strahlen stachen harmlos durch das körnige Bild und jagten, durch die Refraktion leicht abgewinkelt, durch die Atmosphäre hindurch.
Innerhalb von Sekunden jedoch ließen die Freunde wieder von der Projektion ab. Sie riefen sich etwas zu, warfen die Gewehre über und nahmen die Verfolgung wieder auf; Harry materialisierte immer wieder vor ihnen, wobei er das Basislayout seines virtuellen Körpers mannigfaltig variierte, aber die Freunde stießen mit fast ungebrochener Spannkraft durch die wirkungslosen Pixel hindurch.
Poole zog den Kopf ein und rannte weiter.
»Michael!«
Poole riß den Kopf hoch. Das Boot der Crab raste auf ihn zu, ein graumetallischer Ellipsoid, der ein paar Meter über der Ebene schwebte. Der englische Rasen wogte und duckte sich unter ihm. Eine geöffnete Schleuse glühte in einem einladenden gelben Licht.
Das Echo von Harrys verstärkter Stimme brach sich an den entfernten Gebäuden aus Xeelee-Materialien. »Michael, mehr als einen Versuch wirst du wohl nicht haben… Ich hoffe, daß dein Timing besser ist als deine Kondition.«
Michael raste mit trommelnden Schritten über das Gras, das Mädchen als sperriges Bündel in seinen Armen. Der Atem brannte ihm in der Kehle. Die Schleuse des mit achtzig Stundenkilometern auf ihn zukommenden Bootes stand offen wie ein Scheunentor.
Ein Flackern purpurrosa Lichts über seinem Kopf, der Gestank von Ozon, und ein kleines Loch erschien in der grauweißen Panzerung des Bootes. Eine kleine Rauchwolke stieg auf; das Boot schien abzuschmieren, hielt aber einigermaßen seinen Kurs.
Es hatte den Anschein, als ob die Freunde ihre Skrupel bezüglich des Schußwaffengebrauchs jetzt ablegen würden.
Das Boot füllte sein Sichtfeld jetzt voll aus.
Poole sprang.
Er knallte mit dem rechten Schienbein und dem linken Fuß gegen den Schleusenrahmen; Schmerz durchflutete ihn, und er spürte warm das Blut fließen. Er kam hart auf dem Metallboden der Schleuse auf und landete schwer auf Shira. Mit geweiteten Augen schnappte das Mädchen unter seinem Gewicht nach Luft. Mit verknäulten Gliedmaßen schlitterten sie über den Boden, wobei Pooles verletzte Beine eine Blutspur hinterließen; dann wurden sie unsanft von der Rückseite der Schleuse abgefangen, und die Luft entwich ein zweites Mal aus Pooles geschundenen Lungen.
Ein Laserstrahl zuckte ein paar Zentimeter über Pooles Kopf vorbei.
Das Boot hob rasend schnell vom Boden ab, aber entsetzlich langsam schloß sich die Schleuse; Poole, der sich gerade erheben wollte, schmetterte es wieder hart zu Boden, diesmal nicht auf das Mädchen. Sein Atem ging schwer. Seit seinen letzten paar verzweifelten Schritten über das Gras des Erd-Schiffes war er nicht mehr zu Atem gekommen, und jetzt fühlte er sich wie in einem Vakuum.
Mühsam hob er den Kopf und musterte mit trübem Blick das zufahrende Schleusenschott. Er sah einen Ausschnitt des lachsrosa Jupiter und ein paar Sterne; sie hatten die Spielzeug-Atmosphäre der Erd-Welt schon verlassen und rasten oberhalb ihres schmalen blauen Himmels in den Jupiter-Raumsektor.
Ihm wurde schwarz vor Augen. Der Schmerz in den Beinen stach durch seine schwindenden Sinne.
Als das Mädchen stöhnte, schien der Laut von sehr weit her zu kommen, und er glaubte, Harrys Stimme gehört zu haben. Es war keine Luft mehr in seinen Lungen. Ihm war eiskalt. Er schloß die Augen.
Berg schlug einen halben Salto, bevor die dünne Luft ihre Bewegung abbremste. Dann fiel sie kopfüber in einer Relativbewegung zum Erd-Schiff, wobei die Gravitation nur so schwach auf sie einwirkte, daß sie am Himmel zu hängen schien.
Mit weit gespreizten Armen und Beinen sog sie die kalte Luft ein und betrachtete das Erd-Schiff unter sich. Die größte Gefahr bei dieser Sache – die größte in einem ganzen Dschungel von Gefahren, korrigierte sie sich – war, daß sie die Fluchtgeschwindigkeit hätte erreichen können. Würde sie ihren Flug hinein in das Licht des Jupiter fortsetzen, bis ihre Lungen die letzten paar Sauerstoffmoleküle aufsogen? Sie versuchte, die Luft zu schmecken, festzustellen, ob sie noch dünner wurde; aber sie konnte es beim besten Willen nicht feststellen.
Das Erd-Schiff breitete sich wie ein Diagramm vor ihr aus. Sie sah an der flachen, vierhundert Meter durchmessenden Kuppel aus taubengrauem Xeelee-Werkstoff hoch, die das Kernstück des Schiffes bildete. Die Kuppel wurde durch kreisförmige, etwa einen Meter breite Luken unterbrochen, die Pooles Schilderungen zufolge die Mündungen der Singularitätenkanonen darstellen mußten. Die Kuppel erinnerte sie irgendwie an ein altes Sportstadion, das aus der Erde Terras gerissen und kopfüber in einen Orbit um den Jupiter gebracht worden war; doch auf der Grundfläche dieses Stadions befand sich eine Ansammlung von Gebäuden aus Xeelee-Werkstoff und das verwitterte, antike Stonehenge. Dicht an der Kante des Landstrichs konnte sie ihre beiden Verfolger ausmachen; sie klammerten sich wie zwei rosa schillernde Fliegen an das Gras und starrten zu ihr herauf; ihre Gewehre wurden durch die invertierte Gravitation auf den Rasen gepreßt.
Über dem Erd-Schiff kletterte das Spline-Kriegsschiff in den Himmel, wobei Jupiter lange, gesprenkelte Lichtbahnen auf seine Elefantenhaut warf.
Jetzt raunte eine kaum wahrnehmbare Brise in ihren Ohren, als das schwache, komplexe Schwerefeld des Erd-Schiffes sie wieder in den künstlichen Himmel zurückholte. Eine Woge der Erleichterung überkam sie. Nun, wenigstens würde sie nicht an Sauerstoffmangel sterben müssen, als kleiner Satellit des Jupiter.
Das Erd-Schiff schien von ihr wegzukippen und ließ nur noch die Sicht auf den oberen Teil der Kuppelsektion frei; die Rasenfläche war überhaupt nicht mehr zu sehen. Bald wurde sogar das Spline-Schiff von seiner Masse verdeckt.
Für einen merkwürdigen kurzen Moment war sie allein. Sie hing in einer Blase aus klarer blauer Luft; Schäfchenwolken durchzogen den Himmel und legten sich über die Kante des Erd-Schiffes. Es herrschte völlige Stille. Es war fast friedlich. Sie verspürte keinerlei Angst oder Bedauern; der Ablauf der Geschehnisse stand jetzt nicht in ihrem Ermessen, und sie konnte nicht mehr tun, als sich zu entspannen, sich von den Ereignissen treiben zu lassen und entsprechend zu reagieren. Sie versuchte, alle Gedanken zu verdrängen und sich nur auf jeden schmerzenden Atemzug zu konzentrieren.
Jetzt wehte eine stärkere Brise über ihr Gesicht; sie spürte, wie sie an ihrem kurzen Haar zupfte, und ihre lockere Springerkombination bauschte sich leicht um Brust und Beine.
Sie inspizierte die Kuppel jetzt gründlicher und konzentrierte sich auf die nächstgelegene der scheinbar wahllos verteilten Mündungen der Singularitätenkanonen, die etwa zweihundert Meter landeinwärts vom Rand des Schiffes plaziert war. Durch einen Größenvergleich mit ihrem Daumennagel stellte sie fest, daß die Öffnung sich vergrößerte. Es war wie ein großer, sich öffnender Mund.
Sie seufzte mit einem leichten, merkwürdigen Bedauern. Soviel zu ihrem kleinen Zwischenspiel in der Luft; es schien, als ob die Ereignisse sie wieder in ihren Bann ziehen würden.
Jetzt befand sich die aus grauem Material gegossene Kuppel wie ein gefräßiger Schlund unter ihr; sie würde in etwa zwanzig Metern Höhe über dem grasbestandenen Rand des Schiffes auftreffen. Genug, um sie böse zu verletzen. Sie versuchte, sich im stärker werdenden Wind zu orientieren, winkelte Arme und Beine leicht an und hielt die Hände vors Gesicht.
Michael schlug die Augen auf.
Er atmete wieder normal. Gott sei Dank. Er genehmigte sich einen tiefen Atemzug sauerstoffreicher, warmer Luft.
Er lag in dem Metallkasten, der die Luftschleuse des Bootes darstellte. Der Boden unter ihm war weich… zu weich. Er tastete mit der rechten Hand neben sich herum und stellte fest, daß sich der Metallboden ein paar Zentimeter unter seinem Rücken befand; unwillkürlich bugsierte er sich noch etwas höher in die Luft.
Schwerelosigkeit. Sie waren im Weltraum.
Als er den Kopf drehte, schmerzten Schultern, Brust und Hals noch immer von der Anstrengung in der dünnen Luft der Erd-Schiffes. Neben ihm hatte sich Shira zu einem Fragezeichen zusammengekrümmt, und das diffuse Licht der Schleuse erhellte die elegante Wölbung ihres Kopfes. Ihr Gesicht wirkte sehr jung im Schlaf. Bluttröpfchen traten aus ihren Ohren und schlugen unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit gewundene Bahnen ein.
Vorsichtig tastete Poole sein Gesicht ab. Blut an Nase und Ohren. Und durch die plötzliche Bewegung machte er einen Satz in der Luft; seine schwebenden Beine baumelten und stießen zusammen, wodurch wieder der Schmerz durch die malträtierten Schienbeine und Füße pulsierte. Er schrie leise auf.
Harrys Gesicht materialisierte dicht vor seinem. »Du lebst«, bemerkte Harry. »Du bist wach, genauer gesagt.«
Pooles Stimmbänder brachten nur ein häßliches Kratzen hervor. »Großartiges Timing, Harry. Warum bist du nicht etwas näher herangekommen?«
Harry zog die Augenbrauen leicht hoch. »Was tut das jetzt noch zur Sache«, erwiderte er.
»Laß mich schlafen.« Michael schloß die Augen.
»Tut mir leid. Wir legen in einer Minute an der Crab an. Dann müssen wir hier raus. Wir greifen ein lebendes Sechzehnhundert-Meter-Kampfschiff aus der Zukunft an. Oder hast du den Plan schon vergessen?«
Michael stöhnte auf und schloß die Augen noch fester.
Berg traf mit Händen, Füßen und Knien zuerst auf der harten Oberfläche auf. Der Werkstoff war glatt, glatter als Eis und ließ ihre Hände fast schockgefrieren. Sie zog Hände und Füße unter sich weg. Dann drehte sie den Kopf so, daß Brust und Schenkel relativ sanft auf der Oberfläche aufkamen.
Breitbeinig und flach lag sie auf der Kuppel. Sie verharrte einige Minuten in dieser Position, wobei sie die Luft zwischen den Zähnen ausstieß und die Brust flach auf dem kalten Xeelee-Material auflag.
Sie hatte schon schlechtere Landungen durchgeführt.
Das Licht veränderte sich. Sie hob den Kopf. Wieder zog der Spline über den gekrümmten Horizont der Kuppel hinweg, ein unheilvoller Mond aus Fleisch, überzogen von Augen und Geschützpforten.