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MICHAEL POOLES VATER, Harry, manifestierte sich mitten in der Lebenskuppel der Hermit Crab. Glitzernde Bildpunkte strahlten die schmucklose, kuppelförmige Decke an, bevor sie in der Abbildung einer kräftigen, lächelnden Gestalt mit faltenlosem Gesicht, die mit einer einteiligen Kombination bekleidet war, zusammenflossen. »Schön, dich zu sehen, Sohn. Du siehst gut aus.«

Michael Poole nuckelte an einem Glas mit schottischem Whisky und musterte seinen Vater düster. Das Dach ließ kein Licht durch, aber der transparente Boden enthüllte eine Schicht Kometeneis, über dem Harry schwerelos zu schweben schien. »Verdammt gut sehe ich aus«, grummelte Michael. Seine Stimme, die nach Jahrzehnten fast völliger Einsamkeit hier draußen in der Oort-Wolke eingerostet war, nahm sich im Gegensatz zu den weichen Tönen seines Vaters wie ein Reibeisen aus. »Ich bin älter als du.«

Harry lachte und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne.

»Das will ich nicht bestreiten. Aber dein Alter ist deine Sache. Du solltest trotzdem nicht so früh am Tag schon trinken.«

Die Virtuellprojektion schwebte etwas über dem Boden, so daß eine kleine, schattenlose Lücke zwischen Harrys Designerschuhen und dem Untergrund klaffte. Michael grinste innerlich und genoß den winzigen Hinweis auf die Irrealität der Szene. »Zum Teufel mit dir. Ich bin hundertsieben Jahre alt. Ich mache, was ich will.«

In einem Anflug trauriger Zuneigung hob Harry eine Augenbraue. »Das hast du doch immer schon gemacht, Sohn. Es sollte auch nur ein Witz sein.«

Michael wich unwillentlich einen Schritt vor der Projektion zurück; die Adhäsionssohlen seiner Schuhe sorgten dafür, daß er in der Schwerelosigkeit der Lebenskuppel Bodenhaftung behielt. »Was willst du hier?«

»Ich wollte dich mal an die Brust drücken.«

»Natürlich.« Michael träufelte Whisky über die Fingerspitzen und bespritzte die Projektion mit den Tröpfchen; goldene Kugeln segelten durch die Abbildung und verstreuten Wolken kubischer Pixel. »Wenn das stimmen würde, hättest du persönlich erscheinen können, nicht in Gestalt einer virtuellen Reproduktion.«

»Mein Sohn, du bist vier Lichtmonate von zu Hause entfernt. Was willst du, einen Dialog, der sich über den Rest unseres Lebens erstreckt? Außerdem sind diese modernen Virtuelldarstellungen wirklich verdammt gut.« Jetzt hatte Harry diesen alten defensiven Ausdruck in den Augen, der Michael wieder an seine unglückliche Kindheit erinnerte. Wieder eine Rechtfertigung, dachte er. Harry war ein Pseudovater gewesen, immer mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt – ein sporadischer, mit reichlich Entschuldigungen aufwartender Eindringling in Michaels Leben.

Zum endgültigen Bruch war es gekommen, als Michael, dank AS, älter als sein Vater geworden war.

»Virtuellprojektionen wie diese haben alle Turing-Tests bestanden, denen man sie nur unterziehen kann«, erläuterte Harry. »Was dich betrifft, Michael, stehe ich – Harry – hier und spreche mit dir. Und wenn du dir die Zeit nehmen und die Mühe machen würdest, könntest du selbst eine solche Projektion losschicken.«

»Möchtest du vielleicht eine Kostenerstattung?«

»Wie dem auch sei, ich mußte eine Projektion schicken. Für etwas anderes war keine Zeit.«

Diese in einem lockeren, geschäftsmäßigen Ton verkündeten Worte verletzten Michael irgendwie. »War keine Zeit? Wovon redest du?«

Harry fixierte ihn mit einem amüsierten Blick. »Weißt du es etwa nicht?« fragte er pointiert. »Verfolgst du denn nicht die Nachrichten?«

»Mach keine Spielchen«, sagte Michael genervt. »Du bist eh schon in meine Privatsphäre eingedrungen. Sag mir einfach, was du von mir willst.«

Anstatt direkt zu antworten, schaute Harry durch den transparenten Boden unter seinen Füßen. Der anderthalb Kilometer durchmessende und mit alten Eisstalagmiten besetzte Kern eines Kometen glitt durch die Dunkelheit; Spotlight-Laser der Hermit Crab zauberten purpurne und grüne Kohlenwasserstoffschatten. »Welch ein Anblick«, schwärmte Harry. »Wie ein blinder Fisch, stimmt’s? – Eine fremdartige, unbekannte Kreatur, die in den tiefsten Ozeanen des Sonnensystems schwimmt.«

In all den Jahren, in denen er den Kometen beobachtet hatte, hatte dieses Bild nie eine Wirkung auf Michael gehabt; als er aber jetzt die Worte hörte, sah er, wie richtig sie waren. Trotzdem erwiderte er schwer: »Es ist nur ein Komet. Und dies ist die Oort-Wolke. Der Kometenschweif, ein drittel Lichtjahr von der Sonne; wo all die Kometen schließlich verglühen…«

»Hübscher Ort«, kommentierte Harry ungerührt. Seine Augen überflogen die nackte Kuppel, und Michael glaubte die Stätte plötzlich durch die Augen seines Vaters zu sehen. Die Lebenskuppel des Schiffes, seit Jahrzehnten sein Zuhause, war eine hundert Meter durchmessende Halbkugel. Couches, Steuerkonsolen und Datenerfassungs- und Ausgabegeräte gruppierten sich um den Mittelpunkt der Kuppel; der Rest des transparenten Bodens war durch schulterhohe Paravents in Laborbereiche, eine Küche, einen Fitneßraum, eine Schlafzone und Dusche unterteilt.

Plötzlich wirkte diese Aufteilung, Michaels wenige Einrichtungsgegenstände, das niedrige Einzelbett, bieder und funktional.

Harry schritt über den durchsichtigen Boden zum Rand der Lebenskuppel. Michael, dessen Whisky sich in der Hand erwärmte, folgte ihm zögernd. Von hier aus konnte man die übrige Crab überblicken. Ein mit Antennen und Sensoren besetztes Rohr zog sich eine Meile durch den Weltraum zu einem Eisblock des Jupitermondes Europa, so daß das ganze Schiff wie ein eleganter Sonnenschirm aussah: mit der Lebenskuppel als Schirm und dem Eis des Mondes als Ständer. Der Eisblock – Hunderte von Metern breit, als er vom Jupitermond abgetrennt wurde – wies Dellen und Druckspuren auf, als ob er von riesigen Fingern geformt worden wäre. In diesem Block verbarg sich der GUT-Antrieb des Schiffes, wobei das Eis auf Michaels Reise hierher als Reaktionsmasse gedient hatte.

Harry zog den Kopf ein und suchte die Sterne ab. »Kann man von hier aus die Erde sehen?«

Michael zuckte die Achseln. »Von dieser Position aus erscheint das innere Sonnensystem nur als verschwommener Lichtfleck. Wie ein weit entfernter Teich. Du brauchst Ortungsgeräte, um die Erde zu sehen.«

»Du bist weit von zu Hause entfernt.«

Harry hatte das Haar mittels der AS-Technologie in eine dicke blonde Mähne verwandeln lassen; die Augen waren kristallblaue Sterne, das Gesicht eckig und klein proportioniert – fast koboldhaft. Michael musterte ihn neugierig und staunte erneut, daß sein Vater sich auf so jugendlich hatte trimmen lassen. Michael selbst war bei den sechzig Jahren geblieben, die sein Körper schon auf dem Buckel hatte, als die AS-Technologie aufkam. Jetzt fuhr er sich unwillkürlich mit der Hand über die hohe Stirn und die rauhe, faltige Haut seiner Wangen. Verdammt, Harry hatte nicht einmal seine Naturfarben beibehalten – das schwarze Haar und die braunen Augen – die er Michael vererbt hatte.

Harry schaute auf Michaels Drink. »Schöner Gastgeber«, registrierte er, ohne indessen kritisch zu klingen. »Warum bietest du mir nichts an? Ich meine das ernst. Man kann jetzt auch virtuelle Bewirtungschips kaufen. Bars und Küchen. Nur vom Feinsten für die virtuellen Gäste.«

Michael lachte. »Was soll das? Nichts davon ist doch real.«

Für eine Sekunde verengten sich die Augen seines Vaters. »Real? Bist du sicher, daß du weißt, was ich genau in diesem Moment fühle?«

»Es ist mir so und so verdammt egal«, erwiderte Michael ruhig.

»Nein«, widersprach Harry. »Ich glaube nicht, daß es dir wirklich egal ist. Zum Glück bin ich nicht unvorbereitet gekommen.« Er schnippte mit den Fingern, und eine große Brandyflasche materialisierte funkelnd auf seiner offenen Handfläche. Michael konnte das Aroma fast riechen. »Irgendwie so, als ob man einen Flachmann dabei hätte. Jedenfalls kann ich dir sagen, Michael, daß es kein Vergnügen ist. Was machst du überhaupt an diesem gottverlassenen Ort?«

Die plötzliche Frage ließ Michael zusammenzucken. »Ich sag’s dir, wenn du es hören willst. Ich bereite Kometenmaterie als Nahrung und Sauerstoffquelle auf; es gibt reichlich kohlenhydrathaltige Substanz und im Eis eingeschlossenen Stickstoff; und ich…«

»Dann bist du also ein High-Tech-Eremit. Wie dein Schiff. Ein Einsiedlerkrebs, der am Rand des Sonnensystems herumkrabbelt, so weit entfernt von zu Hause, daß er nicht einmal mit anderen Menschen reden kann. Richtig?«

»Ich habe meine Gründe«, sagte Michael, wobei er versuchte, jeden Anflug einer Rechtfertigung zu vermeiden. »Schau, Harry, das ist mein Job. Ich untersuche Quark-Nuggets…«

Harry öffnete den Mund; dann bekam er für einen Moment einen verschwommenen Blick, als ob er in seinem Innern nach etwas suchen würde, das schon lange verloren war. Schließlich sagte er mit einem dünnen Lächeln: »Ich habe sicher mal gewußt, was das bedeutet.«

Michael schnaubte gereizt. »Nuggets sind quasi komplexe Nukleonen…«

Harrys Lächeln wurde zusehends gequälter. »Mach weiter.«

Michael leierte seinen Vortrag herunter, ohne seinem Vater dazu Erklärungen geben zu wollen.

Nukleonen, Protonen und Neutronen sind aus Quark-Kombinationen entstanden. Unter extremen Druckverhältnissen – im Zentrum eines Neutronensterns oder während des Urknalls selbst – konnten sich komplexere Strukturen bilden. Ein Quark-Nugget, ein Monster unter den Nukleonen, konnte eine Masse von einer Tonne und einen Durchmesser von einem Vierzigstel Millimeter aufweisen…

Die meisten während des Urknalls entstandenen Nuggets sind bereits zerfallen. Aber einige existieren noch.

»Und deswegen mußt du hier draußen leben?«

»Das Sonnensystem wird dann zum erstenmal von der Existenz eines Nuggets erfahren, wenn es in die Atmosphäre eines Planeten eindringt und seine Energie in Gestalt eines exotischen Teilchenregens abgibt. Ja, man kann auch daraus etwas lernen – aber es ist im Grunde nur so, als ob man Schatten an der Wand beobachten würde. Ich will aber die Originalpartikel untersuchen. Und deshalb bin ich so weit nach draußen ausgewichen. Verdammt, es befinden sich nur ungefähr hundert Menschen in einem noch größeren Abstand von der Sonne, und die meisten von ihnen sind Lichtjahre entfernt, in Raumschiffen wie der Cauchy, und trödeln mit annähernd Lichtgeschwindigkeit Gott weiß wo herum. Harry, ein Quark-Nugget erzeugt im interstellaren Medium eine Sinusschwingung. Wie ein Regen hochenergetischer Partikel, der bei seinem Zerfall von ihm emittiert wird. Diese Schwingung ist zwar schwach, aber meine Detektoren können sie nachweisen, und – vielleicht in einem von zehn Versuchen – kann ich eine Sonde losschicken, um das Nugget selbst einzufangen.«

Harry rieb sich am Mundwinkel – eine Geste, die Michael fatal an den schmächtigen Achtzigjährigen erinnerte, der jetzt für immer Vergangenheit war. »Entzückend«, meinte Harry. »Und was soll das Ganze?«

Michael schluckte eine patzige Antwort hinunter. »Das nennt man Grundlagenforschung«, dozierte er. »Etwas, das die Menschen schon seit Jahrtausenden tun…«

»Erklär’s mir bitte«, ersuchte Harry ihn milde.

»Weil Quark-Nuggets Materiekonfigurationen im Extremzustand darstellen. Einige können sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, so daß sie aufgrund der Zeitdilatation kaum eine Million Relativjahre nach Verlassen der Singularität selbst von meinen Sensoren erfaßt werden.«

»Ich schätze, daß ich beeindruckt bin.« Harry nippte an seinem Brandy, wandte sich um und schwebte leichtfüßig über den transparenten Boden, wobei er keine Anzeichen von Schwindel oder Unsicherheit zeigte. Er kam zu einem Metallstuhl, setzte sich darauf und schlug gemütlich die Beine übereinander, ohne von der Schwerelosigkeit beeinträchtigt zu werden. Diesmal war die Illusion überzeugend; es gab fast keine Lücke zwischen den Schenkeln der Projektion und der Sitzfläche des Stuhls. »Ich war immer beeindruckt davon, was du geleistet hast. Du und Miriam Berg natürlich. Ich bin sicher, daß du das wußtest, auch wenn ich es nicht allzu oft gesagt habe.«

»Nein, hast du nicht.«

»Sogar vor einem Jahrhundert warst du die Autorität auf dem Gebiet der exotischen Materie. Stimmt’s? Deshalb gaben sie dir auch so viel Verantwortung für das Projekt ›Interface‹.«

»Danke für die Streicheleinheiten.« Michael sah in die himmelblaue Leere der Augen seines Vaters. »Bist du gekommen, um darüber zu sprechen? Womit haben sie deinen Kopf aufgefüllt, nachdem er entrümpelt wurde? Ist überhaupt noch etwas drin?«

Harry hob die Schultern. »Was ich halt so brauche. Hauptsächlich Wissen über dich, wenn es dich interessiert. Wie ein Notizbuch…«

Er nahm einen Schluck von seinem Drink, der im Licht des Kometen glühte, und prostete seinem Sohn zu.


Wurmlöcher sind Verwerfungen im Raum-Zeit-Kontinuum, die zwischen Punkten, die Lichtjahre – oder Hunderte von Lichtjahren – voneinander entfernt sind, die Raumkrümmung aufheben und Raumfahrt fast in Nullzeit ermöglichen. Sie sind nützlich… aber schwer zu errichten.

Im subatomaren Spektrum – auf der Planck’schen Längenskala, wo sich die mysteriösen Effekte der Quantengravitation abspielen – verhält sich die Raumzeit wie Schaum, der von winzigen Wurmlöchern durchzogen ist. Vor einem Jahrhundert hatten Michael Poole und sein Team ein solches Wurmloch isoliert, seine Enden manipuliert und es in jede gewünschte Größe und Form gebracht.

Groß genug, um ein Raumschiff aufzunehmen.

Das war die einfache Übung gewesen. Nun mußten sie es stabilisieren.

Ein Wurmloch ohne Materie in seinem Schlund – eine Schwarzschild-Auflösung einer Relativitätsgleichung – ist unbrauchbar. Tödliche Gezeitenkräfte würden die Mündungen des Wurmloches blockieren, die Ein- und Ausgänge selbst würden sich ausdehnen und mit Lichtgeschwindigkeit kollabieren, und kleine Störungen, verursacht durch eindringende Materie, würden zur Instabilität und dem Kollaps des Systems führen.

Also mußte Pooles Team ›exotische‹ Materie durch sein Wurmloch schleusen.

Der Raum verengte sich zum Zentrum des Schlundes und mußte dann wieder gedehnt werden. Aufgrund der negativen Energiedichte der exotischen Materie war es zu Abstoßungseffekten gekommen. Trotz aller Bemühungen war das Wurmloch immer noch intrinsisch instabil; aber mit Rückkoppelungsschleifen konnte man eine Selbstregulierung erreichen.

Früher hatte man negative Energie für unmöglich gehalten. Ebenso wie negative Masse schien auch dieses Theorem intuitiv schon nicht plausibel. Doch dann waren Michael und seine Mannschaft auf eine erfolgversprechende Spur gestoßen. Die Hawking’sche Verdampfung eines Schwarzen Lochs war beispielsweise ein ›schwach exotischer‹ Vorgang… Aber die negativen Energieniveaus, die Poole brauchte, waren hoch und entsprachen in etwa dem Druck im Zentrum eines Neutronensterns.

Es war eine Zeit der Herausforderung gewesen.

Trotz seiner aktuellen Sorgen merkte Michael, wie Erinnerungen an jene Tage von seinen Gedanken Besitz ergriffen, gegenwärtiger als das Bild der leeren Lebenskuppel und der unvollkommenen Abbildung seines Vaters. Wie konnten einen alte Erinnerungen derart in ihren Bann ziehen? Michael und sein Team – einschließlich Miriam, seiner Stellvertreterin – hatten über vierzig Jahre in einer langsamen Umlaufbahn um den Jupiter verbracht; der Fortschritt bei der Gewinnung exotischer Materie hatte von der Flußdichte in dem magnetischen Hohlleiter abgehängt, der Jupiter mit seinem Mond Io verband. Das Leben war zwar hart und gefährlich gewesen – aber nie langweilig. Als die Jahre vergingen, hatten sie immer wieder die Sonden beobachtet, die in das Gravitationszentrum von Jupiter eintauchten und mit einer weiteren Ladung glänzender exotischer Materie zurückkamen, mit der dann die immer größer werdenden Pyramiden beschichtet werden konnten.

Es war, als ob man ein Kind aufwachsen sah.

Miriam und er hatten eine vollständige Abhängigkeit voneinander entwickelt, ganz ohne Frage. Manchmal hatten sie sich gegenseitig die Frage gestellt, ob diese Abhängigkeit den Keim der Liebe in sich tragen würde. Meistens jedoch waren sie zu beschäftigt gewesen.


»Nicht wahr, Michael, das war damals deine glücklichste Zeit?« fragte Harry irritierend direkt.

Michael unterdrückte eine scharfe, abwehrende Antwort. »Es war mein Lebenswerk.«

»Ich weiß, daß es das war. Aber es war nicht das Ende deines Lebens.«

Michael packte das Whiskyglas fester und spürte, wie es sich warm und glatt unter seinen Fingern verschob. »Es kam mir aber so vor, als die Cauchy schließlich mit einer der Interface-Komponenten im Schlepp aus dem Orbit um Jupiter ausscherte. Ich hatte den Nachweis erbracht, daß exotische Materie mehr als nur ein Hirngespinst war; daß sie sogar für industrielle Anwendungen im größten Maßstab eingesetzt werden konnte. Aber es war ein Experiment, auf dessen Ergebnis ein Jahrhundert gewartet werden mußte…«

»Oder fünfzehn Jahrhunderte, je nach Standpunkt.«

Die Cauchy wurde auf einen langen Flug mit Geschwindigkeiten im relativistischen Bereich geschickt, der sie in Richtung des Sternbilds des Schützen führte – zum Zentrum der Galaxis. Das Schiff sollte nach einem Relativjahrhundert zurückkommen – aufgrund der Auswirkung der Zeitdilatation jedoch in ein Sonnensystem, in dem dann bereits fünfzehnhundert Jahre verstrichen waren.

Und das war das Ziel des Projekts.

Michael hatte manchmal Projektionen des Wurmloch-Portals studiert, das im Orbit um den Jupiter zurückgelassen worden war; es alterte mit der gleichen Geschwindigkeit wie sein Pendant an Bord der Cauchy, genauso wie er und Miriam. Während aber Miriam und Michael im Einstein-Universum durch eine zunehmende ›Entfernung‹ getrennt waren – eine Distanz, die sich bald auf Hunderte von Lichtjahren belief – verband das Wurmloch noch immer die zwei Portale. Nach einem Relativjahrhundert würde sowohl für Michael als auch Miriam die Cauchy ihre Rundreise abgeschlossen haben und wieder in einen Orbit um Jupiter einschwenken, womit sie in Michaels Zukunft verloren war.

Und dann wäre es möglich, unter Benutzung des Wurmlochs in wenigen Stunden anderthalb Jahrtausende zu überbrücken.

Der Abflug des Schiffes, das Warten auf den Abschluß der Rundreise, hatten eine Lücke in Michaels Leben und in seinem Herzen hinterlassen.

»Irgendwann habe ich mir dann überlegt, daß ich lieber Ingenieur statt Wissenschaftler hätte werden sollen… Dann wäre meine Aufmerksamkeit auf einen einzigen Werkstoff konzentriert worden, den wir in unseren Hohlleiter-Beschleunigern auf Io hätten herstellen können; der Rest der ›exotischen‹ Physik wäre dann nicht mein Metier gewesen. Deshalb habe ich mich entschieden…«

»Wegzulaufen?«

Wieder packte Michael der Zorn.

Sein Vater beugte sich im Stuhl nach vorne und hielt die Hände vor sich gefaltet; das graue Licht von dem unterhalb stehenden Kometen spielte in seinem klaren, gut geschnittenen Gesicht. Michael registrierte, daß das Whiskyglas jetzt verschwunden war; eine abgelegte Requisite. »Verdammt, Michael, du warst ein mächtiger Mann geworden. Es war mehr als nur Wissenschaft oder Ingenieurswesen. Durch die Initiierung und den Abschluß des Projektes ›Interface‹ hast du gelernt, mit Menschen umzugehen. Politik. Budgets. Motivation. Wie man Dinge bewältigt; wie man führt – wie man in der Welt der Menschen etwas erreicht. Du hättest es immer wieder tun können; du hättest alles erreichen können, nachdem du es einmal gelernt hattest.«

»Und trotzdem hast du alles aufgegeben. Du bist davongelaufen und hast dich hier draußen verkrochen. Schau, ich weiß, wie verletzt du gewesen sein mußt, als Miriam Berg lieber auf der Cauchy mitfliegen als bei dir bleiben wollte. Aber…«

»Ich verstecke mich nicht, verdammt«, fluchte Michael und versuchte, einen Wutanfall zu verschleiern. »Ich habe dir doch schon gesagt, was ich hier draußen mache. Die Quark-Nuggets könnten zu neuen Erkenntnissen über die fundamentale Struktur der Materie führen…«

»Du bist ein Dilettant«, konstatierte Harry und ließ sich abschätzig in seinen Sessel zurückfallen. »Mehr ist nicht dahinter. Du hast überhaupt keinen Einfluß darauf, was aus den Tiefen der Raumzeit zu dir hereinschneit. Sicher, es ist spannend. Aber es ist keine Wissenschaft. Von den großen Projekten im inneren System, wie zum Beispiel dem Serenitatis-Beschleuniger, bist du doch schon seit Jahren abgekoppelt.« Harry sah ihn mit weit geöffneten Augen und ohne zu blinzeln an. »Sag mir, wenn ich mich irre.«

Der geladene Michael warf seine Whiskyflasche auf den Boden. Sie knallte auf die helle Fläche, und die gelbe Flüssigkeit sammelte sich, durchsetzt vom Licht des Kometen, klebrig um niederregnende Glassplitter. »Was, zum Teufel, willst du?«

»Du hast zugelassen, daß du alt wurdest, Michael«, stellte Harry traurig fest. »Stimmt’s? Und – was noch schlimmer ist – du hast zugelassen, daß du alt geblieben bist.«

»Ich bin ein Mensch geblieben«, grollte Michael. »Ich wollte den Inhalt meines Geistes nicht auf einen Chip kopieren lassen.«

Harry erhob sich von seinem Stuhl und ging auf seinen Sohn zu. »So ist es nicht«, meinte er leise. »Es ist mehr wie eine Bearbeitung deiner Erinnerungen. Klassifizieren, sortieren, rationalisieren.«

»Was für eine widerwärtige Terminologie«, schnaubte Michael.

»Es geht nichts verloren, mußt du wissen. Es ist alles gespeichert – und nicht nur auf Chips, sondern auch in neuronalen Netzen, die man abfragen – oder mit denen man eine Projektion generieren kann, wenn man das will.« Harry lächelte. »Man kann sich mit seinem jüngeren Ich unterhalten. Das scheint mir auch wirklich die ideale Beschäftigung für dich zu sein.«

»Schau«, meinte Michael und preßte die Finger auf die Nasenwurzel. »Ich habe mir das alles schon durch den Kopf gehen lassen. Ich habe es früher sogar schon einmal mit dir diskutiert. Oder hast du das auch vergessen?«

»Es gibt im Grunde keine Alternative, weißt du.«

»Natürlich gibt es eine.«

»Nicht, wenn du ein Mensch bleiben willst, wie du es für dich in Anspruch nimmst. Zum Menschsein gehört auch, neue gedankliche Wege einschlagen zu können – sich auf fremde Menschen einzustellen und mit neuen Ereignissen und Situationen klarzukommen. Michael, Tatsache ist, daß das menschliche Gedächtnis nur über eine begrenzte Kapazität verfügt. Je mehr du es vollstopfst, desto länger werden die Zugriffszeiten. Mit der AS-Technologie jedoch…«

»Du wirst auch nicht wieder zu einer Jungfrau, indem du dir ein Jungfernhäutchen implantieren läßt, um Gottes willen.«

»Da hast du recht.« Harry streckte eine Hand nach seinem Sohn aus hielt dann inne und ließ sie wieder sinken. »Drastisch wie immer, aber korrekt. Und ich sage auch gar nicht, daß du durch die Reorganisation deiner Erinnerungen wieder deine Unschuld erlangst. Deine gespannte Erwartung, als du zum erstenmal Beethoven gehört hast. Das Wunder deines ersten Kusses. Und ich weiß, daß du Angst hast, die Erinnerungen zu verlieren, die du noch an Miriam hast.«

»Deine Mutmaßungen gehen ganz schön weit, verdammt.«

»Aber, Michael – du hast gar keine andere Wahl. Es sei denn, du würdest lieber zum Fossil werden.« Harry lächelte reumütig. »Tut mir leid, mein Sohn. Ich wollte dir nicht vorschreiben, wie du dein Leben zu gestalten hast.«

»Nein. Das wolltest du nie, richtig? Es war immer nur so eine Angewohnheit…« Michael ging zu einem Ausgabeschacht und tastete sich mit schnellen Bewegungen noch einen Whisky. »Sag mir jetzt, was so wichtig war, daß du dich als virtuelle Projektion hast abstrahlen lassen.«

Harry wandelte elegisch über den klaren Boden; seine lautlosen Schritte, die über dem endlosen Raum hingen, wirkten wuchtig in der Schwerelosigkeit und vermittelten der Szenerie eine unwirkliche Qualität. »Das Interface«, meinte er dann.

Michael runzelte die Stirn. »Das Projekt? Was ist damit?«

Harry betrachtete seinen Sohn mit aufrichtiger Zuneigung. »Ich glaube, daß du hier draußen nicht mehr so auf dem laufenden bist. Michael, seit dem Start der Cauchy ist bereits ein Jahrhundert vergangen. Erinnerst du dich nicht mehr an den Einsatzplan?«

Michael überlegte. Ein Jahrhundert…

»Mein Gott«, sagte er dann. »Es ist soweit, stimmt’s?«

Die Cauchy hätte bereits wieder zur Sonne zurückgekehrt sein sollen, in dieser entfernten Zukunft. Michael blickte unwillkürlich auf die Kabinenwand, dorthin, wo Jupiter stand. Das zweite Portal des Wurmlochs umkreiste noch immer stetig den Planeten; war es möglich, daß – sogar jetzt noch – eine Brücke anderthalb Jahrtausende überspannte?

»Sie haben mich geschickt, um dich zu holen«, erklärte Harry zerknirscht. »Ich habe ihnen zwar gesagt, daß es reine Zeitverschwendung wäre und daß wir uns deswegen schon in den Haaren gelegen hätten, seitdem du sprechen konntest. Aber sie haben mich trotzdem hergeschickt. Ich hätte wohl die besten Chancen, dich zu überreden.«

Michael war verwirrt. »Überreden wozu?«

»Heimzukommen.« Die Projektion sah sich in der Kabine um. »Diese alte Schüssel kann doch noch fliegen, oder?«

»Natürlich kann sie.«

»Dann würde der schnellste Weg für deine Rückkehr darin bestehen, daß du freiwillig dieses Gerät benutzt. Du wirst ungefähr ein Jahr brauchen. Es würde doppelt so lange dauern, ein Schiff herzuschicken und dich abzuholen…«

»Harry. Mach langsam, verdammt. Wer sind ›sie‹? Und warum bin ich auf einmal so wichtig?«

»›Sie‹ sind die Regierung von Jupiter. Und sie haben die Unterstützung aller intersolaren Behörden. Des ganzen Sonnensystems, soweit ich weiß. Und du bist wichtig, wegen der Nachricht.«

»Welche Nachricht?«

Mit dem unangemessen jungen Gesicht und fester Stimme musterte Harry seinen Sohn. »Michael, das Brückenportal ist wieder da. Und das Wurmloch hat etwas ausgestoßen. Ein Schiff aus der Zukunft. Wir haben eine Nachricht von ihm empfangen, im Mikrometerbereich; wir vermuten, daß die Botschaft heimlich abgesetzt wurde, gegen den Willen der Schiffsführung.«

Michael schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er wirklich zugelassen, daß er zu alt wurde; Harrys Worte kamen ihm irreal vor – wie eine unverständliche Traumbeschreibung. »Konnte die Nachricht decodiert werden?«

»War ziemlich leicht«, meinte Harry trocken. »Sie war in Englisch abgefaßt. Nur Ton, keine Videounterlegung.«

»Und? Komm schon, Harry.«

»Man hat nach dir gefragt. Namentlich. Die Botschaft kam von Miriam Berg.«

Michael spürte, wie ihm gegen seinen Willen die Luft wegblieb.

Die Projektion seines Vaters kniete sich vor ihm hin und streckte eine Hand so dicht vor Michaels Gesicht aus, daß dieser die einzelnen Bildpunkte erkennen konnte. »Michael? Bist du in Ordnung?«