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NACHDEM SIE IHRE BOTSCHAFT an Michael Poole abgesetzt hatte, kroch Miriam Berg noch immer mit Lichtgeschwindigkeit durch das Sonnensystem. Sie saß auf hartem englischen Rasen und wartete auf Shira, das Mädchen von Wigner.
Berg hatte eine Zeitmaschine konstruiert und sie zu den Sternen gebracht. Aber die wenigen Tage seit ihrer Rückkehr durch das Wurmloch in ihre eigene Zeit waren die dramatischsten ihres bisherigen Lebens gewesen.
Das Beiboot der Cauchy lag vor ihr in einem flachen, rostfarbenen Krater aus verbrannter Erde. Das Boot klaffte offen wie ein ausgeweidetes Tier, wobei Rauchschwaden aus seinem nachglühenden Innern entwichen; die peniblen Parallelschnitte in der Hülle wirkten fast chirurgisch in ihrer Präzision, und sie wußte, daß es den Freunden ein besonderes Vergnügen gewesen war, in der ihnen eigenen, unprätentiösen Weise die Triebwerke mit skalpellartigen Schweißbrennern in Schlacke zu verwandeln.
Die – Ermordung – ihres Bootes durch die Freunde war natürlich ein angemessener Preis dafür gewesen, ihre Nachricht an Poole abzuschicken. Er würde etwas unternehmen; er würde sicher kommen… Bei der Formulierung ihres Verzweiflungsplanes hatte sie irgendwie nie daran gezweifelt, daß er nach all den Jahren noch am Leben war. Trotzdem spürte sie Gewissensbisse und Reue, als sie das Wrack des Bootes überflog; schließlich war damit ihre letzte Verbindung zur Cauchy abgeschnitten worden, zu den fünfzig Männern, Frauen und Freunden, mit denen sie ein Jahrhundert lang Lichtjahre und Jahrtausende überwunden hatte – und die jetzt auf der anderen Seite des Wurmlochs in der Zukunft gestrandet waren, die sie so verzweifelt zu erreichen versucht hatten, jene dunkle, unmenschliche Zukunft der Qax-Herrschaft.
Wie paradox, dachte sie, durch das Wurmloch in ihre eigene Zeit zurückgekehrt zu sein und sich trotzdem wieder in die Zukunft zurückzusehnen.
Sie lag rücklings im Gras und sah nach oben zu den lachsfarbenen Wolken, die das monströse Antlitz des Jupiter verzierten. Mit einer leichten Kopfdrehung konnte sie noch das Interface-Portal ausmachen – das Ende des Wurmloches, das beim Abflug der Cauchy in der Jupiter-Umlaufbahn zurückgeblieben war, und durch das dieses skurrile Erd-Schiff der Freunde von Wigner durch die Zeit herabgestürzt war. Das Portal, das sich auf seinem Parallelorbit langsam von dem Erd-Schiff entfernte, hob sich als daumennagelgroße, aquamarinblaue Kontur gegen die Flanke des Jupiter ab. Es wirkte friedlich – schön wie ein Schmuckstück. Die Flächen der Pyramide, die Anschlußstellen des Wurmlochs selbst, waren neblige, verschwommene Flecken aus blaugoldenem Licht, die ein wenig wie Fenster wirkten.
Es war schwierig, sich die Schrecken vorzustellen, die nur einige Relativstunden entfernt auf der anderen Seite dieser Raumzeit-Verwerfung herrschten.
Sie erzitterte und schlug die Arme um den Körper. Nachdem sie auf dem Erd-Schiff gelandet war, hatten die Freunde ihr eine von ihren leichten einteiligen Kombinationen gegeben; sie war sich schon sicher, daß das Kleidungsstück diesem Kunstklima angemessen war, aber, verdammt, sie fror einfach darin. Doch sie vermutete, daß sie selbst in der dicksten Verpackung genauso gefröstelt hätte; sie erkannte, daß nicht die Kälte ihr eigentliches Problem war, sondern der Wunsch, in die sichere Metallhülle zurückzukehren, die die Cauchy für sie geworden war. Immer wenn sie sich während ihres einhundert Jahre dauernden Fluges das Ende ihrer Reise vorgestellt hatte, hatte sie ein angenehmes Kribbeln bei dem Gedanken empfunden, zum erstenmal ein Schiff zu verlassen und in tiefen Zügen die frische, blaue Luft der Erde einzuatmen… sogar einer weit in der Zukunft liegenden Erde. Nun, die Erde war unerreichbar für sie; und so sicher wie nur irgend etwas hätte jeder eine solche Situation als unheimlich empfunden. Auf einem vierhundert Meter breiten Stück Land gestrandet zu sein – und weit und breit weder ein Schutzschirm noch irgendeine feste Hülle in Sicht – ein Klumpen, der aus der Erde gekratzt und zurück durch die Zeit in eine Umlaufbahn um Jupiter geschleudert worden war.
Sie entschied sich, daß eine gesunde Dosis Angst in einem solchen Augenblick genau das richtige Mittel war.
Dann hörte sie Schritte, die sich leise raschelnd durch das Gras bewegten.
»Miriam Berg.«
Berg stützte sich auf die Ellbogen. »Shira. Ich habe auf dich gewartet.«
Das Mädchen aus der Zukunft klang enttäuscht. »Ich habe dir vertraut, Miriam. Ich habe dir auf unserem Schiff völlige Bewegungsfreiheit gegeben. Warum hast du diese Nachricht gesendet?«
Berg schielte zu Shira hoch. Die Freundin war groß – etwa Bergs Größe, ungefähr einsachtzig – aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Berg hatte sich im physikalischen Alter von Vierzig einer AS-Konservierung unterzogen – in einem Alter, in dem sie sich am wohlsten gefühlt hatte. Ihr Körper war drahtig, kräftig und gut proportioniert; und ihr gefiel der Gedanke, daß die Falten um den Mund und die braunen Augen sie erfahren, humorvoll und ganz und gar menschlich wirken ließen. Und die graumelierte Kurzhaarfrisur war nichts, dessen sie sich hätte schämen müssen. Shira hingegen war ungefähr fünfundzwanzig. Echte fünfundzwanzig, die wegen der Konfiszierung der AS-Technologie durch die Qax bald Geschichte sein würden. Das Mädchen hatte ein fein geschnittenes Gesicht und einen derart dünnen Körper, daß er schon fast mager wirkte. Berg konnte sich einfach nicht an Shiras kahlrasierten Kopf gewöhnen und mußte sich dazu zwingen, nicht ständig auf die klaren Konturen ihres Schädels zu starren. Die Haut des Mädchens war blaßgelb, die dunkel umrandeten Augen blau, groß und offenbar ohne Lider; durch die vorstehenden Zähne und hohen Wangenknochen sah ihr Gesicht irgendwie wie ein Totenkopf aus – hatte aber dennoch einen gewissen Reiz. Shira entsprach genau dem Bild, das sich Berg von terranischen Stadtbewohnern einige Jahrhunderte vor ihrer Zeit gemacht hatte: grundsätzlich von schlechter Gesundheit, weil sie in einer Welt überleben mußten, die zu rauh für Menschen war.
Berg hätte schwören können, daß sie sogar Plomben und gelbe Zähne in Shiras Kiefer entdeckt hatte. Konnte es sein, daß nach all diesen Jahrhunderten die Menschen wieder von Zahnfäule geplagt wurden?
Welch ein brutales Zeugnis hatten sich die Besatzungstruppen der Qax damit ausgestellt, überlegte Berg bitter. Shira wirkte wie ein Wesen aus Bergs Vergangenheit, nicht aus ihrer Zukunft. Und jetzt, wo Berg nicht mehr auf die medizinischen Einrichtungen der Cauchy zurückgreifen konnte – ganz zu schweigen von der AS-Technologie – würde auch sie ohne Zweifel bald von den Krankheiten heimgesucht werden, die eigentlich schon lange besiegt waren. Mein Gott, dachte sie; ich werde wieder anfangen zu altern.
Sie seufzte. Schließlich befand sie sich dicht bei ihrer eigenen Zeit; vielleicht konnte sie – unwahrscheinlich, wie es im Moment auch schien – wieder zurückkehren. Wenn Poole es schaffte…
»Shira«, sagte sie schwer, »ich möchte dich nicht verletzen. Ich hasse es, dich zu verletzen. Klar? Aber als ich erfuhr, daß ihr nicht vorhattet, mit den Menschen dieser Zeit – meiner Zeit – Kontakt aufzunehmen und sie über die Qax zu informieren… in diesem Moment mußte ich euch natürlich zuwiderhandeln.«
Shira wirkte unbeeindruckt; sie wandte ihr kleines, schönes Gesicht dem Wrack des Bootes zu. »Du verstehst, warum wir dein Schiff zerstören mußten.«
»Nein, ich verstehe nicht, daß ihr das tun mußtet. Aber ich hatte erwartet, daß ihr es tut. Es ist mir auch egal. Ich habe mein Ziel erreicht; ich habe meine Nachricht gesendet, obwohl ihr alle dagegen wart.« Berg lächelte. »Ich bin schon zufrieden mit mir, wie ich ein Funkgerät zusammengebastelt habe. Ich war nämlich nie eine ausgesprochene Technikerin, mußt du wissen…«
»Du warst Physikerin«, fiel Shira ihr ins Wort. »Es steht in den Geschichtsbüchern.«
Berg erschauerte. Sie fühlte sich in der falschen Zeit. »Ich bin Physikerin«, insistierte sie. Sie erhob sich steif und wischte ein paar Gräser vom Rücken ab. »Können wir ein Stück gehen?« fragte sie. »Dieser Ort deprimiert mich.«
Berg entschied sich dafür, den Rand des Erd-Schiffes anzusteuern; Shira nahm schweigend neben ihr Gleichschritt auf, wobei ihre bloßen Füße kaum ins Gras einsanken.
Bald verließen sie den Wirkungsbereich dessen, das dieser Scheibe aus Erde ihre Schwerkraft verlieh; der Boden vor ihnen schien anzusteigen, als ob sie an der Innenseite einer flachen Schüssel emporkletterten, und die Luft begann dünner zu werden. Knapp zehn Meter vor der Abbruchkante mußten sie stehenbleiben; Bergs Lungen schmerzten schier vor Atemnot, und außerdem war es noch etwas kälter geworden.
Von der Begrenzung der Welt baumelten Grasbüschel in die Leere hinab und wurden von Jupiter mit purpurnem Licht besprenkelt.
»Shira, ich glaube, daß wir hier von grundsätzlich verschiedenen Interpretationen ausgehen müssen«, sagte Berg leicht außer Atem. »Du hast mich gefragt, warum ich euer Vertrauen mißbraucht habe. Ich verstehe beim besten Willen nicht, von welcher Relevanz eine derartige Frage sein soll. Was hättet ihr in Anbetracht der Situation denn von mir erwartet?«
Das Mädchen sagte nichts.
»Betrachte es mal von meinem Standpunkt«, fuhr Berg fort. »Fünfzehnhundert Jahre nach meinem Abflug mit der Cauchy näherte ich mich wieder dem Sonnensystem…«
Als die Jahre vergingen, hatte die fünfzigköpfige Besatzung der Cauchy ernüchtert zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Welten, die sie zurückgelassen hatten, viel schneller alterten als sie selbst; die Besatzung wurde durch eine ständig wachsende Raumzeit von ihrer Heimat getrennt.
Sie wurden zu Schiffbrüchigen in der Zukunft.
… Aber sie hatten das Wurmloch-Portal bei sich. Und sie wußten, daß sie nur wenige Flugstunden durch das Wurmloch von ihrer Ursprungszeit trennten. Es war eine beruhigende Vorstellung, daß die Welten, die sie auf der anderen Seite der Raum-Zeit-Brücke zurückgelassen hatten, noch immer wie durch eine Nabelschnur aus gestreckter Raumzeit mit der Cauchy verbunden waren, und daß das Leben dort genauso schnell verging wie für die Besatzung der Cauchy, auf deren Rückkehr aus der Zukunft man geduldig wartete.
Schließlich kehrte die Cauchy nach einem Relativjahrhundert wieder in die Jupiterumlaufbahn zurück. Mittlerweile waren auf der Erde fünfzehn Jahrhunderte vergangen. Doch nach wie vor waren sie über ihr Wurmloch-Portal mit der Vergangenheit verbunden, mit Freunden und Welten, die nicht älter geworden waren als sie selbst.
»Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich erwartet hatte, als wir uns Sol näherten«, räumte Berg ein. »Wir hatten sowohl vor als auch während des Fluges Hunderte von Szenarien durchgespielt, aber wie wir wußten, war das alles nur Spekulation; ich glaube, im Innern hatte ich irgendwelche Vorstellungen von radioaktiv kontaminierten Wüsten, Steinäxten und Göttern in überlichtschnellen Streitwagen.
Aber ich hätte niemals das erwartet, was wir schließlich vorgefunden haben. Eine Erde unter der Knute von Super-Aliens hatte noch niemand erlebt… und denk nur an das, was uns schon vor Erreichen der Pluto-Bahn abgefangen hatte.« Sie schüttelte den Kopf bei dieser Erinnerung. »Ein Erdbrocken, der irgendwann aus England herausgerissen und in den Weltraum geschleudert wurde, mit ein paar Dutzend knochigen Menschen, die sich verzweifelt an ihm festhielten.«
Sie erinnerte sich, wie sie sich als Gesandte in einem Ein-Mann-Rettungsboot aus der stählernen Sicherheit der Cauchy in den Raum um Jupiter begeben und vorsichtig dem Erd-Schiff genähert hatte; sie hatte kaum ihren Augen getraut, als ihr Boot Kurs auf einen Landstrich nahm, der aus einem terranischen Reiseprospekt hätte stammen können und als Fremdkörper vor dem samtenen Hintergrund des Alls hing. Dann hatte sie bei der Landung die Schleuse des Bootes beschädigt und den Fuß auf Gras gesetzt, das unter den groben Sohlen ihrer Schuhe raschelte…
Für einige kurze, glorreiche Minuten hatten die Freunde sie wie ein Wunder umstanden.
Dann war Shira gekommen – sie referierte fünfzehn Jahrhunderte katastrophaler Menschheitsgeschichte in ebenso vielen Minuten – und setzte ihr die Intentionen der Freunde auseinander.
Einige Stunden nach der Landung mußte sich Berg mit den anderen ins Gras legen, als das Erd-Schiff in den Gravitationsschlauch des Wurmlochs stürzte. Berg erschauerte bei der Erinnerung an die heulende Strahlung, die das zerbrechliche Gefährt umtost hatte und an die gespenstischen, mysteriösen Effekte bei der Reise durch die Zeit.
Man hatte ihr nicht erlaubt, eine Nachricht an die Cauchy zu senden. Vielleicht befand sich die Besatzung der Cauchy schon in den Händen der Qax – falls die Bezeichnung ›schon‹ hier überhaupt noch eine Bedeutung hatte, wo die Raumzeit durch das Wurmloch in sich selbst gekrümmt wurde.
»Es sind ein paar ereignisreiche Tage gewesen«, stellte sie ironisch fest. »Ziemlich verrückt für den Empfang einer verlorenen Tochter.«
Shira lächelte, und Berg richtete den Blick. »Ich freue mich, daß du das gesagt hast: verrückt«, meinte Shira. »Nur durch die schiere Verrücktheit dieser Idee konnten wir sie wie geplant unter den Augen der Qax realisieren. Komm, reden wir. Wir haben jetzt Zeit.«
Sie drehten um und machten sich langsam an den ›Abstieg‹ vom Randhügel ins Innere des Schiffes. Unterwegs hatte Berg den unangenehmen Eindruck, daß sie regelmäßig in unsichtbar in die Landschaft eingelassene, vielleicht einen Meter breite und wenige Zentimeter tiefe Senken trat. Doch in ihrer optischen Wahrnehmung war das Land topfeben. Diese Schwankungen mußten von dem Feld ausgehen, das sie auf dieser vierhundert Meter durchmessenden Scheibe aus Erde und Felsen hielt; womit auch immer sie hier ihre Gravitation erzeugten, es hatte seine Macken.
»Du mußt die Situation verstehen«, meinte Shira. »Aus den noch vorhandenen Aufzeichnungen aus eurer Zeit wußten wir, daß eure Rückkehr mit dem Interface-Portal zur Erde dicht bevorstand. Wenn ihr erfolgreich gewesen wärt, hätte uns ein Weg in die freie Vergangenheit offengestanden. Wir betrachteten das Projekt…«
Berg sah sie durchdringend an. »Welches Projekt?«
Shira ignorierte die Frage. »Die Qax hatten eure Annäherung zunächst überhaupt nicht bemerkt, aber wenn euer Schiff und seine heiße Fracht erst einmal geortet worden wäre, hätten sie euch ganz klar aus dem All gepustet. Wir mußten also einen Weg finden, euch zu treffen, bevor das eintrat.
Also, Miriam. Wir mußten ein Raumschiff bauen, direkt unter den Augen der Qax.«
»Klar. Weißt du, Shira, wir sollten uns erst einmal auf den Gebrauch des richtigen Tempus einigen. Vielleicht müssen wir noch eine ganz neue Grammatik erfinden – Futur-Imperfekt, unbestimmtes Präsens…«
Shira lachte herzlich, und Berg empfand schon etwas mehr Sympathie für sie.
Sie durchquerten ein Areal mit Leuchtkörpern. Die vielleicht drei Meter über dem Boden schwebenden Lampen strahlten eine sonnenheiße Wärme ab, und als Berg für einige Augenblicke pausierte, spürte sie im Gesicht und in den wieder alternden Knochen die Wärme eines Sterns, den sie vor einem Relativjahrhundert verlassen hatte. Das gelbweiße Licht überlagerte das fleischigrosa Glühen des Jupiter und ließ das Gras normal aussehen, kräftig und grün; Berg schlurfte mit einem Schuh hindurch. »Ihr habt euer Schiff also getarnt.«
»Die Qax befassen sich nicht mit Dingen, die sie als Kulturgüter der Menschheit betrachten.«
»Ein Hoch auf die Qax«, meinte Berg sarkastisch. »Vielleicht sind sie ja doch keine so üblen Kerle.«
Shira runzelte die Stellen, wo sich die jetzt abrasierten Augenbrauen befunden hatten. »Wir unterstellen den Qax hier nicht etwa Menschenfreundlichkeit, sondern Berechnung. Auf jeden Fall machen sie die Politik – und es ist eine Politik, die wir vielleicht zu unseren Gunsten beeinflussen können.«
Berg mußte grinsen, als ihr plötzlich das absurde Bild durch den Kopf ging, wie Rebellen in verdreckten Fallschirmjägerkombinationen sich wie Maulwürfe unter Kathedralen, Pyramiden und den Betongewölben antiker Fissionseaktoren vorarbeiteten. »Dann habt ihr euer Schiff also unterirdisch montiert.«
»Ja. Genauer, wir hatten einen Geländeabschnitt für den Flug vorbereitet.«
»Wo habt ihr die Mittel dazu herbekommen?«
»Die Freunde von Wigner haben Anhänger im ganzen Sonnensystem«, erklärte Shira. »Erinnere dich, daß zur Zeit der ersten Begegnung mit den Qax die Menschheit zu einer Rasse von Raumfahrern geworden und in die Lage versetzt worden war, die Ressourcen vieler Systeme zu nutzen. Die Qax kontrollieren uns – fast vollständig. Aber der kleine Platzhalter, den dieses ›fast‹ darstellt, bietet noch Raum genug für große Unternehmungen… für Projekte, die vielleicht an die größten Errungenschaften eurer Zeit heranreichen.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, sagte Berg mit düsterer Gewißheit.
Sie setzten ihren Weg in Richtung des Bootes fort. »Auf diese Art habt ihr also euer Schiff fertiggestellt«, meinte Berg. »Wie konntet ihr dann von der Erde starten und in den Raum entkommen?«
»Mit einem von den Squeem gestohlenen Hyperflug-Triebwerk«, erläuterte Shira. »Es hat einen Deflektorschirm um das Schiff gelegt und es – zusammen mit einer Luftschicht – gegen den Planeten isoliert. Dann brachte der Antrieb das Schiff in den Weltraum und in die Nähe eurer Cauchy. Schließlich – nach dem Rendezvous mit eurem Schiff – transportierte der Hyperantrieb das Schiff durch das Interface-Portal.«
»Die Squeem. Das ist doch das Volk, mit dem die Menschheit zuvor konfrontiert wurde, stimmt’s? Vor den Qax.«
»Und die uns nach ihrer Niederlage einen Großteil der Basistechnologien bereitstellten, die wir zum Verlassen des Sonnensystems benötigten.«
»Wie werden wir sie denn besiegen?«
Shira grinste. »Lies in euren Geschichtsbüchern nach.«
»Ist der Squeem-Antrieb jetzt aktiviert?« fragte Berg.
»Minimal. Er liefert jetzt nur die Energie für einen Strahlungsschutzschirm.«
»Und sorgt dafür, daß das Schiff seine Lufthülle nicht verliert, nicht wahr?«
»Nein, dazu reicht die Eigengravitation des Schiffes aus.«
Berg nickte; vielleicht konnte sie auf diese Art noch einige brauchbare Informationen bekommen. »Künstliche Schwerkraft? Seit meiner Zeit muß sich ja einiges getan haben.«
Aber Shira runzelte nur die Stirn.
Sie näherten sich den Wohn- und Arbeitsgebäuden der Freunde. Die Gebäude, überschaubar dimensionierte, einfache Würfel und Kegel waren wie Spielzeug in der zentralen Region dieses Landstrichs verstreut, das die alten Steine im Mittelpunkt der Scheibe umgab. Das Baumaterial wies ein uniformes Taubengrau auf und war – als Berg im Vorübergehen mit den Fingerspitzen über die Wand eines Zeltes fuhr – so weich, daß fast gar kein Widerstand zu spüren war. Aber es war handwarm, ohne die Kühle von Metall. Dies war der ›Xeelee-Werkstoff‹, eines der vielen technologischen Wunder, die von den geheimnisvollen Xeelee, den Herren der Schöpfung, offensichtlich bis zu den Menschen – und ihren Feinden wie z. B. den Squeem und Qax – durchgedrungen waren.
Freunde liefen zwischen den Gebäuden umher und widmeten sich geduldig ihrem Tagewerk. Eine kleine Gruppe hatte sich um eines der Datenerfassungsgeräte versammelt, das sie ›Tafel‹ nannten, und diskutierten etwas, das wie eine Rißzeichnung des Erd-Schiffes aussah.
Sie nickten Shira und Berg zu, wobei sie letztere mit neugierigen Blicken betrachteten.
Berg hatte bisher ungefähr dreißig Freunde von Wigner an Bord des Schiffes gezählt, von denen jeweils die Hälfte Männer und Frauen waren. Dem Aussehen nach waren sie alle zwischen fünfundzwanzig und dreißig und wirkten körperlich fit und intelligent. Offensichtlich war diese Besatzung von der eigentlichen Organisation der Freunde nach ihrer Tauglichkeit für diese Mission ausgewählt worden. Alle folgten der von Shira demonstrierten Glatzen-Mode – einige hatten, wie Berg amüsiert feststellte, sich sogar die Wimpern entfernt. Aber man konnte sie erstaunlich leicht voneinander unterscheiden; sie sah, daß die Form des menschlichen Schädels so vielgestaltig war – und eine Augenweide sein konnte – wie Gesichtszüge.
»Ihr habt einiges geleistet, um es so weit zu schaffen«, bemerkte Berg.
»Mehr als nur einiges«, entgegnete Shira cool. »Unser Schiff hat das Portal erfolgreich durchflogen, ohne signifikante Schäden oder sonstige Beeinträchtigungen. Mit unseren Vorräten – und unserer Recyclinganlage – könnten wir es in diesem Orbit um Jupiter viele Jahre aushalten. Lange genug für unser Vorhaben.« Sie lächelte. »Ja, wir haben wirklich etwas geleistet.«
»Ja.« Mit düsterer Miene musterte Berg den geschäftigen Haufen der Freunde. »Weißt du, es wäre für mein Verständnis von großer Hilfe, wenn du mir erklären würdest, worum es bei diesem verdammten Projekt überhaupt geht.«
Shira sah sie traurig an. »Das wäre nicht opportun.«
Berg baute sich vor ihr auf, stemmte die Hände in die Hüften und setzte den Feldwebelblick auf, der, wie sie wußte, in vergleichbaren Situationen noch immer gewirkt hatte. »Versteck dich nicht hinter Platitüden, Shira. Zur Hölle mit all dem Unfug, es war mein Schiff – mein Interface – das ihr benutzt habt, um überhaupt so weit zu kommen. Und es war meine Besatzung, die auf der anderen Seite des Wurmlochs verschollen ist und mit ihrem Leben für den Erfolg bezahlt hat, mit dem ihr euch so selbstgefällig brüstet. Ihr schuldet mir also ein bißchen mehr als diese von oben herab zugeworfenen Brocken.«
Shiras hübsches, pfirsichhäutiges Gesicht verzog sich auf eine Art, die auf echtes Mitgefühl schließen ließ. »Tut mir leid, Miriam. Ich wollte dich nicht von oben herab behandeln. Aber ich – wir – sind wirklich der Ansicht, daß es nicht richtig wäre, dir davon zu erzählen.«
»Warum? Sag mir wenigstens das.«
»Das kann ich nicht. Wenn du über das Projekt Bescheid wüßtest, würdest du selbst verstehen, weshalb ich dir nicht mehr sagen kann.«
Berg grinste in sich hinein. »Willst du mich für dumm verkaufen? Soll ich mich damit etwa zufriedengeben?«
»Nein«, erwiderte Shira mit einem strahlenden Lächeln, und wieder spürte Berg für einen Augenblick einen Anflug echter Sympathie für diese fremde, geheimnisvolle Person von der anderen Seite der Zeit. »Aber das ist wirklich alles, was ich dir sagen kann.«
Berg fuhr mit den Fingern durch ihren drahtigen Haarschopf. »Wovor hast du Angst? Glaubst du, daß ich euch vielleicht stören würde – daß ich versuchen könnte, euch bei dem Projekt in die Quere zu kommen?«
Shira nickte bestätigend. »Auch wenn du nur ein Teilverständnis bekämst, wäre das möglich. Ja.«
Berg runzelte die Stirn. »Ich glaube, daß du nicht von Verständnis redest – sondern von Vertrauen. Auch wenn ich wüßte, was ihr vorhabt, könnte ich mich euch entgegenstellen, wenn ich nicht den gleichen irrationalen Glauben an das Gelingen der Sache hätte. Ist es das?«
Darauf blieb Shira die Antwort schuldig; ihr Blick war klar und unbewegt.
»Shira, vielleicht brauchst du wirklich meine Hilfe«, sagte Berg. »Ich würde mich nicht unbedingt darauf verlassen, daß mein Schiff flugfähig ist, solange ich nicht einen Blick auf die Triebwerke geworfen und mich davon überzeugt habe.«
»So einfach ist es nicht, Miriam«, entgegnete Shira. Sie lächelte entwaffnend. »Und ich wünschte, du würdest aufhören, mich zu bedrängen.«
Berg berührte den Arm des Mädchens. »Shira, wir sind auf derselben Seite«, meinte sie eindringlich. »Siehst du das denn nicht?« Sie deutete in die mutmaßliche Richtung des inneren Sonnensystems. »Ihr könnt die Ressourcen von fünf Planeten – einschließlich der Erde – abrufen. Wenn die Menschen erst einmal wissen, was ihr plant – die Abwehr des Alptraums der Qax-Besatzung – würde man euch jegliche Hilfe gewähren, zu der die Welten in der Lage wären. Ihr hättet das Potential von Milliarden hinter euch.«
»Es würde nicht funktionieren, Miriam«, wehrte Shira ab. »Denk nur daran, daß wir euch in der Entwicklung um fünfzehn Jahrhunderte voraus sind. Da gibt es nicht viel, was dein Volk für uns tun könnte.«
Berg versteifte sich und wich vor dem Mädchen zurück. »Wir könnten verdammt viel tun, Shira. Was, wenn die Qax uns durch das Portal zurück in die Vergangenheit folgen? Würdet ihr keine Hilfe benötigen, um sie abzuwehren?«
»Wir können uns selbst verteidigen«, erwiderte Shira ruhig.
Das jagte einen Schauer durch Berg, aber sie ließ nicht locker: »Dann stell dir hundert schwerbewaffnete GUT-Schiffe vor, die durch dieses Portal in die Zukunft vorstoßen. Sie könnten einen enormen Schaden anrichten…«
Shira schüttelte den Kopf. »Ein einziges Spline-Kampfschiff würde sie augenblicklich wegputzen.«
»Dann laß uns die Jahrhunderte nutzen, die wir gewonnen haben.« Berg schlug mit der Faust auf die Handfläche. »In dieser Zeit gibt es nicht auch nur einen Qax, der etwas von der Existenz der Menschheit weiß. Wir könnten uns aufmachen und sie in ihrem Nest ausräuchern. Wenn ihr uns das Geheimnis des Squeem-Hyperantriebs verratet, könnten wir eine überlichtschnelle Armada aufstellen und…«
Shira lachte glockenhell. »Du bist so melodramatisch, Miriam. So aggressiv!« Sie formte mit den Händen einen großen Quader. »In diesem Moment betreiben die Qax bereits ein interstellares Handelsimperium, das Hunderte von Sonnensystemen umspannt. Die Vorstellung, daß eine schlecht ausgerüstete Truppe von Menschen anderthalb Jahrtausende vor meiner Zeit die Hoffnung hegt, diese Macht zu besiegen, ist, offen gesagt, lachhaft. Und, außerdem – wir sind keine Hyperraum-Ingenieure. Wir könnten euch die ›Geheimnisse‹ des Squeem-Antriebs deshalb auch gar nicht ›verraten‹, wie du dich ausgedrückt hast.«
»Dann laßt ihn von unseren Ingenieuren untersuchen.«
»Jeder derartige Versuch würde die Verwüstung des halben Planeten zur Folge haben.«
Berg spürte, wie sie wieder wütend wurde. »Du kommst mir noch immer von oben herab«, protestierte sie. »Du bist sogar beleidigend. Wir sind keine Vollidioten, weißt du; wir sind schließlich eure Ahnen. Vielleicht solltest du mehr Respekt haben.«
»Meine Freundin, deine Denkweise ist simplizistisch. Wir sind nicht hierhergekommen, um auch nur einen einzigen militärischen Schlag gegen die Qax zu führen. Selbst wenn er erfolgreich wäre – was unmöglich ist – würde das nicht ausreichen. Unser Vorhaben ist zwar viel subtiler – und dennoch kann damit weitaus mehr erreicht werden.«
»Aber du willst mir nicht sagen, worum es dabei geht. Du vertraust mir nicht. Mir, deiner eigenen Urx-Großmutter…«
Shira lächelte. »Ich wäre stolz, einen Bruchteil deines genetischen Erbes zu tragen, Miriam.«
Nebeneinander setzten sie ihren Weg zum Mittelpunkt des Erd-Schiffes fort. Bald hatten sie den Gürtel der aus Xeelee-Werkstoff errichteten Hütten hinter sich gelassen, und die durch die Konversation der Freunde gebildete Geräuschkulisse ging hinter ihnen unter; als sie das Zentrum des Schiffes erreichten, glaubten sie, eine kleine Insel der Stille betreten zu haben.
Und als die beiden Frauen in den durchbrochenen Steinkreis eindrangen, kam das Berg völlig natürlich vor.
Hier gab es keine Kugellampen; die mächtigen antiken Steine standen trotzig im rauchigen Licht des Jupiter. Berg stand unter einem der noch intakten Sarsen-Bögen und berührte die kühle, blaugraue Oberfläche eines stehenden Steins; er war nicht ehrfurchtgebietend oder kalt, dachte sie, sondern freundlich – als ob sie einen Elefanten gestreichelt hätte. »Weißt du«, sagte sie dann, »du könntest allein mit der Landung dieses Schiffes auf der Erde einen höllischen Aufruhr verursachen. Vielleicht auf Salisbury Plain, ein paar Kilometer vom Original entfernt – das natürlich in dieser Ära Wind und Wetter ausgesetzt ist. Wenn es nach mir ginge, könnte ich nicht widerstehen, Projekt hin oder her.«
Shira grinste. »Die Vorstellung hat etwas für sich.«
»Eben.« Berg ging auf den Mittelpunkt des Kreises zu und trat dabei auf verwitterte Gesteinsbrocken. Sie drehte sich langsam um und überflog den Landschaftsausschnitt, wobei sie versuchte, den Ort mit den Augen der Menschen zu sehen, die ihn vor viertausend Jahren errichtet hatten. Wie mochte dieser Platz bei der Sonnenwende ausgesehen haben, auf der unberührten Salisbury Plain, ohne ein Anzeichen von Zivilisation im Universum außer einigen auf der Ebene verstreuten Feuern, die bald in der Morgendämmerung erloschen?
… Aber jetzt wurde ihr Horizont durch die anonymen Baracken der Freunde aus grauem Werkstoff begrenzt; und ihr wurde bewußt, daß, selbst wenn sie die Macht gehabt hätte, diese Hütten abzureißen, nur ein paar hundert Meter zerpflügter Boden zum Vorschein gekommen wären, eine zerklüftete Scheibe, die in der Unendlichkeit schwebte. Und als sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie die Krümmung des Jupiter sehen, der wie eine riesige Wand im Universum hing.
Die alten Steine wirkten winzig vor dieser grandiosen Kulisse. Sie schienen irgendwie pathetisch.
Absurderweise verspürte sie einen Kloß im Hals. »Verdammt«, sagte sie rauh.
Shira kam näher und legte eine Hand auf Bergs Arm. »Was ist los, meine Freundin?«
»Ihr hattet kein Recht, das zu tun.«
»Was?«
»Diese Steine zu entführen. Das ist nicht ihre Heimat; das ist nicht der Ort, an dem sie stehen sollten. Wie konntet ihr die Geschichte nur so vergewaltigen? Du hast selbst gesagt, daß nicht einmal die Qax die Steine angerührt haben.«
»Die Qax sind eine Besatzungsmacht«, murmelte Shira. »Wenn es in ihrem Interesse gewesen wäre, hätten sie diese Steine sogar zu Staub zermahlen.«
»Aber das haben sie nicht«, stellte Berg mit zusammengebissenen Zähnen fest. »Und eines Tages, mit oder ohne euch, wären die Qax auch wieder verschwunden. Aber die Steine würden noch immer stehen! – wenn ihr nicht gewesen wärt.«
Shira blickte zum Jupiter auf, wobei ihr kahler Schädel in lachsrosa Licht getaucht war. »Glaube mir, wir – die Freunde – handeln durchaus nicht gewissenlos, wenn es um solche Dinge geht. Aber letztlich war die Entscheidung richtig.« Sie wandte sich Berg zu, und diese registrierte einen übersteigert religiösen, fast irrationalen Ausdruck in den leeren, hellblauen Augen des Mädchens.
»Woher willst du das wissen?« fragte Berg schwer atmend.
»Weil«, erwiderte Shira langsam, als ob sie zu einem Kind sprechen würde, »den Steinen letztlich nichts geschehen wird.«
Berg starrte sie an und wußte nicht, ob sie lachen sollte. »Bist du verrückt? Shira – ihr habt unter den Steinen gebuddelt, einen Energieschirm um sie gelegt, mit ihnen die Blockade der Qax durchbrochen und sie fünfzehn Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit geschleudert. Was könnte man denn sonst noch mit ihnen anstellen?«
Shira lächelte, und das Mitleid zeigte sich wieder in ihrem Gesicht. »Du weißt, daß ich dir unsere Pläne nicht darlegen werde. Ich kann es nicht. Aber ich kann sehen, daß du besorgt bist, und ich möchte, daß du mir glaubst, von ganzem Herzen glaubst. Wenn unser Projekt abgeschlossen ist, wird Stonehenge nichts geschehen sein.«
Mit plötzlicher Angst zog Berg den Arm unter Shiras Hand weg. »Wie ist das möglich? Mein Gott, Shira, was habt ihr Leute vor?«
Aber die Freundin von Wigner antwortete nicht.