9
JAAR, EINER DER FREUNDE VON WIGNER, erwartete Michael Poole an der Schleuse des gelandeten Beibootes der Crab.
Poole stand auf der Ausstiegsrampe des Raumers und war in das unwirkliche Licht des Jupiter getaucht. Er schaute auf den wartenden jungen Mann, die durcheinandergewürfelten Gebäude aus Xeelee-Werkstoff im Hintergrund, die kaum erkennbaren antiken Steine – und die über allem hängende, perfekte Kurve des Jupiter.
Er fühlte sich zu alt für das alles.
Er hatte die Ereignisse des vergangenen Tages – die Landung, die Begegnung mit Miriam, die Flut der fremden Eindrücke – in einem Zustand der seelischen Aufgewühltheit durchlebt. Doch diese Phase war wieder vorbei; nur zögernd war er aus einem unruhigen Schlaf erwacht, um sich den Gefahren und Widrigkeiten des Tages zu stellen, der Notwendigkeit, einen Weg zu finden, wie er mit Miriams Präsenz hier klarkommen konnte.
Miriam hatte die Ruheperiode im Boot verbracht. Harry war immerhin so taktvoll gewesen, seine Kampagne für die Rechte der KIs für einige Stunden zu unterbrechen und sich zu deaktivieren, so daß sie ihre Ruhe hatten. Aber Miriam und Michael hatten nicht miteinander geschlafen. Was waren sie, Kinder? Sie hatten sich unterhalten, sich dabei an den Händen gehalten und waren schließlich in getrennte Betten gefallen. Irgendwie schien es nicht die richtige Reaktion auf ein Jahrhundert der Trennung beziehungsweise der Erneuerung einer alten und kämpferischen Beziehung zu sein, sich der Lust hinzugeben.
Er wünschte, daß er sich von Harry nicht zu diesem Ausflug hätte überreden lassen. Er würde alles, was er gesehen und gelernt hatte, dafür gegeben haben, wieder in die Abgeschiedenheit seiner Station in der Oort-Wolke zurückzukehren, um erneut stückweise in die Geheimnisse der Physik der exotischen Materie einzudringen.
Wen er sich natürlich seinen Kopf leerräumen lassen würde, wie Harry es getan hatte, würde er dies alles mit ganz anderen Augen sehen.
Egal, zum Teufel damit!
Poole ging die Rampe hinunter und auf dem stacheligen englischen Rasen weiter. Die Freunde von Wigner lächelten ihm zu; Poole sah einen großen und spindeldürren jungen Mann, der eine rosa Standard-Fliegerkombination anhatte. Aus dem grob gewirkten Stoff schauten knochige Handgelenke und Knöchel hervor. Unter dem hohen, kahlrasierten Schädel wies er den gleichen blassen, ungesunden Teint auf wie Shira, und er hatte wäßrig-braune Augen. Jaars Haltung wirkte etwas verlegen. Poole vermutete, daß sich selbst in fünfzehn Jahrhunderten jemand mit einer solchen Größe und einem derartigen Körperbau instinktiv ducken würde, um nicht allzu lächerlich zu wirken; aber da war noch mehr, die Art, wie die Beine der Freunde gekrümmt waren…
Rachitis. War es denn möglich, daß die Erde wieder von einem solchen Fluch heimgesucht werden konnte? Pooles Herz schlug heftig.
»Sie sind Michael Poole. Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Und Sie sind Jaar – der Führer, den Shira avisiert hatte?«
»Ich bin Experte der physikalischen Wissenschaften. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?«
»Nicht besonders.« Poole grinste. »Dazu habe ich zu viele Fragen.«
Jaar nickte mit jugendlicher Feierlichkeit. »Sie haben einen scharfen Verstand, Mr. Poole; da ist es ganz natürlich, daß Sie Fragen haben…«
»Und«, fuhr Poole scharf fort, »Shira wollte jemanden vorbeischicken, der auch die Antworten hat.«
Jaar lächelte hintergründig, und dieser Ausdruck erinnerte Poole irgendwie an die Geistesabwesenheit von Shira. Jaar schien nicht bei der Sache, desinteressiert nicht nur an diesem kleinen Schlagabtausch, sondern an jeder Form zwischenmenschlichen Kontakts. Es war, als ob er sich mit viel wichtigeren Dingen zu beschäftigen hätte.
»Shira meinte, es habe wenig Zweck, etwas vor Ihnen zu verbergen, dessen Existenz Sie ohnehin schon deduziert hätten.«
»Dann hat man also Sie geschickt, um einen alten Mann aufzuheitern?«
»Niemand hat mich geschickt, Mr. Poole«, widersprach Jaar. »Ich habe selbst um die Ehre gebeten.«
»Die Ehre ist ganz meinerseits, Jaar.«
Mit einer leichten Verbeugung deutete Jaar Poole an, ihm zu folgen. Nebeneinander flanierten sie über das rosa gesprenkelte Gras zum Zentrum des Erd-Schiffes.
»Sie sind erst der zweite Freund, den ich kennengelernt habe«, sagte Poole, »… und doch scheint ihre Disposition der von Shira ziemlich zu ähneln. Entschuldigen Sie bitte meine Direktheit, Jaar, aber seid ihr Freunde euch alle so ähnlich?«
»Das glaube ich nicht, Mr. Poole.«
»Nennen Sie mich Michael. Aber Sie haben eine solche innere Ruhe und seltsame Sicherheit – sogar nach dem Spießrutenlauf durch die Flotte der Qax; und nachdem ihr wohl oder übel durch ein Loch in der Raumzeit gefallen seid…«
»Ich bin davon überzeugt, daß der Grund, aus dem wir hierhergekommen sind, richtig ist.«
Poole nickte. »Euer Projekt. Aber Sie dürfen mir nicht sagen, worum es sich dabei handelt.«
»Genau wie Sie bin ich mit dem Fluch der Neugier auf die Welt gekommen. Es muß Sie schier rasend machen, von einem solchen Wissensgebiet ausgeschlossen zu werden… ich bitte dafür um Verzeihung.« Jaars Lächeln war ruhig, milde und emotionslos; sein Kahlkopf erinnerte Poole an ein Ei, so nahtlos und glatt wie er war. »Aber Sie dürfen nicht glauben, daß wir alle so wären, Michael. Die Freunde haben alle sehr unterschiedliche Biographien. Unter der Annahme, daß wir aufgrund unserer Jugend und körperlichen Fitneß für diese Mission ausgewählt wurden, haben wir wohl diese Merkmale gemeinsam; aber vielleicht kommen wir Ihnen auch nur so gleich vor, weil wir aus einer so weit entfernten Bezugszeit stammen. Vielleicht werden unsere Unterschiede durch unsere Distanz zu Ihnen aufgehoben.«
»Vielleicht«, konzedierte Poole und lachte. »Aber ich bin kein Trottel, Kumpel.«
»Das glaube ich Ihnen«, sagte Jaar ungerührt. »Und trotzdem, ohne die AS-Technologie kommt niemand von uns an Ihre zweihundert Jahre heran, Mr… Michael.« Eine wertvolle Sekunde lang wirkte er direkt sarkastisch. »Vielleicht sind Sie auch nur nicht den Umgang mit jungen Leuten gewohnt.«
Poole öffnete den Mund – und schloß ihn wieder mit einem vagen Gefühl der Verlegenheit. »Vielleicht haben Sie recht«, meinte er dann.
Eine innere Ruhe, eine seltsame Sicherheit… Poole fragte sich, ob der mysteriöse Zweck dieser Reise eine mystische oder religiöse Bedeutung haben könnte; vielleicht handelte es sich gar nicht um ein wissenschaftliches Vorhaben oder ein Konstruktionsprojekt, wie er zuvor gemutmaßt hatte. Plötzlich überkam ihn die bizarre Vision, wie das uralte Stonehenge bei Sonnenaufgang auf die wolkige Masse des Jupiter ausgerichtet wurde…
Die Motivation dieser merkwürdigen jungen Leute erklärte sich zum Teil sicher auch durch eine religiöse Verehrung. Ihr emotionsloses Verhalten, das Fehlen jeglicher Hoffnung für sich selbst, dachte er. Ja, hier mußte der Schlüssel liegen. Irgendwie verbanden sie mit ihrer Mission keine Träume von persönlichem Gewinn oder Glück. Vielleicht war diese Mission als Himmelfahrtskommando konzipiert, spekulierte Poole; und jetzt stellte er sich vor, wie das zerbrechliche Erd-Schiff nach ausgeführter Mission in die lebensfeindlichen Tiefen von Jupiter stürzte und die antiken Menhire wie Steinsplitter abtrieben.
Aber welche religiöse Sekte würde sich selbst Freunde von Wigner nennen?
Schließlich erreichten sie das ›Dorf‹, welches die antike Stätte im Zentrum des Erd-Schiffes umgab. Jaar führte Poole an auf dem Rasen verstreuten Kegeln, Zylindern und Würfeln vorbei, die alle knapp zweieinhalb Meter hoch waren und aus dem taubengrauen Xeelee-Werkstoff bestanden. Wenn die Merkmale der Besiedelung nicht gewesen wären, dachte Poole, wäre er sich wie auf einem Rundgang durch ein Kinderspielzimmer vorgekommen. Ansammlungen junger Leute gingen ruhig und gelassen ihrer Arbeit nach; einige von ihnen hatten diese flachen, kompakten Rechner bei sich, die Berg als ›Tafeln‹ bezeichnet hatte.
Sie erreichte eine halbkugelförmige Hütte, die sich durch nichts von den anderen unterschied. »Was ist das?« fragte Poole. »Trautes Heim, Glück allein? Nichts für ungut, aber ich habe schon gestern bei Shira genug Seetang gemümmelt…«
Jaars Lachen klang nicht einmal unangenehm. »Nein, Michael; obwohl ich mich geehrt fühlen würde, wenn ich Sie später in meiner Unterkunft als Gast begrüßen dürfte. Dieses Gebäude hier dient dem Zutritt.«
»Zutritt?«
»In das Innere des Erd-Schiffes. Zur Singularitätenebene.« Jaar musterte ihn leicht verwirrt. »Das ist es doch, was Sie sehen wollten. Oder?«
Poole lächelte. »Worauf warten wir noch?«
Sie betraten die Kuppel, wobei Jaar den Kopf unter dem rasiermesserscharfen Sturz einziehen mußte. Poole fühlte sich hier richtig leichtgewichtig, fast wie ein junger Springinsfeld; die Oberflächengravitation mußte hier etwas niedriger als draußen sein. Innerhalb der Kuppel wuchs ein schlanker Zylinder aus einem Boden aus Xeelee-Belag. Eine Öffnung war in seine Wandung gefräst.
Jaar kletterte hinein und zog dabei die schmalen Schultern an; Poole folgte ihm. Lautlos schloß sich die Tür hinter ihnen. Sie waren eingesperrt. Die Kammer war eng, fugenlos und mit einem diffusen, perlfarbenen Licht angefüllt, dessen Quelle Poole nicht orten konnte; irgendwie war es ihm, als ob sie sich in einer Neonröhre befinden würden.
Poole registrierte, daß Jaar ihn mit einer Art amüsierter Geduld musterte. Jetzt lächelte Jaar. »Dies ist ein Aufzug. Die Terminologie hat sich seit Ihrer Zeit nicht geändert. Er wird uns ins Innere bringen.«
Poole nickte und fühlte sich unterschwellig nervös; es war für ihn nicht unbedingt Routine, sich dem Risiko physischer Gefahr auszusetzen. »Gut. Dann stecken wir also in einem Fahrstuhlschacht, der durch die Singularitätenebene verläuft. Daher auch die verringerte Schwerkraft.«
Jaar schien seiner Nervosität Rechnung tragen zu wollen. »Wenn Sie noch nicht soweit sind…«
»Sie müssen mich nicht beim Händchen nehmen, Jaar.«
»In Ordnung.« Jaar berührte einen Ausschnitt der blanken Wand. Er versuchte seine Aktivitäten nicht vor Poole zu verbergen, obwohl ihm klar gewesen sein mußte, daß Poole jeden Augenblick dieser Exkursion memorieren würde.
Die Sache verlief völlig lautlos. Nur der Boden schien nach unten zu stürzen. Pooles Magen wollte sich schier umstülpen, und unwillentlich griff er nach hinten, um sich an der Wand abzustützen.
»Das geht vorüber«, murmelte Jaar.
Jetzt, wo sich Poole im Schwebezustand befand, schraubte sich ein Gefühl des Drucks von unten nach oben durch seinen Körper; aber es war ein inverser, negativer Druck, vergleichbar dem Druck exotischer Materie, der Magen und Lunge eher herauspreßte statt sie zu komprimieren.
Jaar beobachtete ihn noch immer mit seinen ausdruckslosen braunen Augen. Poole setzte einen betont gleichmütigen Gesichtsausdruck auf. Verdammt, er hätte darauf vorbereitet sein müssen; wie Jaar unterstellt hatte, hatte er die innere Struktur des Schiffes bereits deduziert. »Die Singularitätenebene«, kommentierte er mit einigermaßen fester Stimme. »Wir durchqueren sie gerade, richtig?«
Jaar nickte zustimmend. »Und der Druck, den Sie auf Ihrer Brust spüren, sind die Schwerefelder der Singularitäten. Wenn Sie auf der Oberfläche des Erd-Schiffes stehen, befindet sich die Ebene unter Ihnen und zieht Sie hinab. Auf diese Art wird das Gravitationsfeld der Erde simuliert; doch hier im Innern des Schiffes umgibt uns das Feld von allen Seiten.«
Jetzt hatte die Gravitationsebene Pooles Hals erreicht; absurderweise hob er den Kopf, als ob er sich über Wasser halten wollte.
»Michael – passen Sie jetzt auf«, sagte Jaar. »Versuchen Sie, sich wieder wie vorhin an der Wand festzuhalten.«
»Diesmal weiß ich Bescheid. Wir werden nach vorne kippen, stimmt’s?«
»Passen Sie auf.«
Jetzt glitt die Ebene über Pooles Kopf hinweg und entließ ihn aus ihrem Einflußbereich. Für einige Sekunden verspürte er das unangenehme Gefühl einer Aufwärtsdrift; als Pooles Sensorium eine Hundertachtzig-Grad-Drehung vollführte, glaubte er, kopfüber abzustürzen. Dann wurde er in Rotation versetzt, als die Coriolis-Kraft vehement an seinem Körper ansetzte. Die Fahrstuhlkabine drehte sich um eine Achse, die irgendwo durch seine Hüfte verlief. Kurioserweise verspürte Poole jetzt keine Angst; er fühlte sich wieder als kleines Kind, als ihn Harry in seinen starken und sicheren Armen in der Luft geschaukelt hatte. Der richtige Harry.
Die Drehung war beendet. Die Querströmung der Coriolis-Kraft legte sich; mit einem Seufzer der Erleichterung nahm Poole wahr, wie er auf einen sich normal anfühlenden Boden niedersank. Nicht ganz normal; er merkte, daß die Ohren zufielen. Jaar lächelte ihn freundlich an. »Machen Sie sich nichts draus«, meinte er. »Ich hatte auch eine Weile gebraucht, bis ich mich daran gewöhnt habe.«
Poole runzelte die Stirn und verspürte das absurde Verlangen, diesem jungen Mann seine Männlichkeit zu demonstrieren. »Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, daß Sie mich nicht wie ein kleines Kind behandeln sollen. Wir haben die Ebene durchquert; jetzt haben wir uns gedreht, so daß sich die Löcher wieder unter unseren Füßen befinden, und alles ist wieder normal. Richtig?«
Jaar nickte in ungerührter Zustimmung. Er legte eine Handfläche auf einen anderen Sektor der Wand, und die Fahrstuhltür fuhr zur Seite.
Jaar betrat eine klare, glasige Oberfläche. Poole folgte ihm und stolperte fast; in der niedrigen Schwerkraft war die klare Oberfläche glatt wie eine Rutschbahn. Als er sicher auf den Füßen stand, hob Poole den Kopf.
Das Erd-Schiff war hohl.
Poole befand sich im Zentrum einer künstlichen Höhle, die den Anschein erweckte, als ob sie den größten Teil des Volumens des Schiffes ausmachen würde. Über seinem Kopf wölbte sich eine Kuppel aus taubengrauem Xeelee-Werkstoff, die im Scheitelpunkt eine Höhe von etwa sechs Metern erreichte, und unter ihm ging eine Glasfläche am Horizont nahtlos in die Kuppel über. Unter dem Glas befand sich eine sechseckige Konfiguration aus blauen und rosa Röhren, wobei jede der Zellen in dieser Struktur einen Durchmesser von ungefähr einem Meter hatte.
Gläserne Rohre – hohle Schächte mit einem Durchmesser von einem Meter – wuchsen aus Löchern im Dach herab und endeten knapp zwei Meter über dem Boden. Sie ließen die Kuppel wie einen großen, grotesken Kronleuchter erscheinen, dachte Poole. In der gedachten Verlängerung zum Boden schloß jede Röhre mit einer klobigen Schaltkonsole ab. Durch die Löcher in der Kuppel konnte Poole Flecken der rosa Jupiterwolken erkennen. Die Schächte sahen wie Spielzeugkanonen aus, die auf Jupiter gerichtet waren.
Leute – junge Männer und Frauen in pinkfarbenen Fliegerkombinationen, Freunde von Wigner – wuselten auf der klaren Oberfläche herum, unterhielten sich und schleppten die obligatorischen Notebooks mit sich herum. Von den großen, funkelnden Säulen, die über ihnen baumelten, nahmen sie keine Notiz. Die Freunde bewegten sich mit der quecksilberartigen Gemessenheit, die Poole mit den Bewohnern von Niedriggravitationswelten wie Luna assoziierte. Ihre tiefen und getragenen Stimmen kamen deutlich bei Poole an.
Das diffuse Licht schien von der gewölbten Decke selbst abgestrahlt zu werden, wobei die Anordnung unter dem Boden das Spektrum noch um ein schwaches Blaurosa anzureichern schien. Poole glaubte, in einer der imaginären unterirdischen Höhlen zu sein, die einer seiner Lieblingsautoren, der alte Verne, beschrieben hatte.
Jaar lächelte und verbeugte sich leicht. »Fangen wir also mit unserer Führung an«, meinte er. »Über uns sehen wir eine Kuppel aus Baumaterialien der Xeelee. Eigentlich setzt sich dieser Werkstoff unter dem Boden, auf dem wir stehen, und unterhalb der Singularitätenebene fort und bildet eine geschlossene Schale innerhalb des Schiffes, die nur durch die Einstiegsschächte unterbrochen wird.«
»Warum?«
Jaar zuckte die Achseln. »Dieser Werkstoff hält jede bekannte Strahlung ab.«
»Er schützt die Besatzung also bei einer zu dichten Annäherung an ein Schwarzes Loch.«
»Und er hat verhindert, daß die Qax unsere Aktivitäten anmessen und Verdacht schöpfen konnten. Ja. Außerdem ist unser Hypertriebwerk mit diesem Werkstoff ummantelt worden.«
Poole deutete auf den Boden. »Und auch hier, unter der Ebene der Singularitäten.«
Jaar ließ sich auf ein Knie nieder; Poole tat es ihm nach, und sie spähten durch ein Loch auf die geheimnisvollen blauen und violettrosa Speichen. »Diese Oberfläche ist nicht nur eine einfache transparente Fläche; sie ist semisensitiv. Was Sie hier sehen, ist im wesentlichen eine Falschfarbendarstellung.
Aus Ihren Beobachtungen des eingedellten Schwerefeldes auf der Oberfläche haben Sie gefolgert, daß die Struktur unseres Schiffes durch die Singularitäten kleiner Schwarzer Löcher zusammengehalten wird.« Er deutete auf eine Verdickung in der sechseckigen Struktur. »Das ist eins von ihnen. Wir haben etwa tausend solcher Löcher konstruiert und aus der Zukunft mitgebracht, Michael.«
Wie der Freund erklärte, waren die Löcher geladen und durch ein elektromagnetisches Gitter fixiert. Die Falschfarbendarstellung zeigte die Plasmaflußlinien im Gitter und die Hochfrequenzstrahlung der einfallenden Materie, die von den Singularitäten zertrümmert wurde.
Die Hawking-Verdampfung ließ jede Singularität bei Temperaturen glühen, die nur noch in Tera-Grad[i] gemessen werden konnten. Die von den aktiven und verdampfenden Schwarzen Löchern generierte Megawattleistung stellte die Energie für das Schiff bereit – z. B. Energie für den Hyperantrieb.
Die Verdampfung reduzierte unausweichlich die Massenenergie jedes Schwarzen Lochs. Bis die Löcher jedoch völlig ausgezehrt waren, würde noch eine Milliarde Jahre vergehen.
Poole begutachtete nüchtern das farbenfrohe Arrangement; es war schwer zu glauben, daß sich nur knapp einen Meter unter ihm ein Objekt befand, das kleiner als ein Elektron war, aber die Masse eines ganzen Häuserblocks aufwies, eine stecknadelkopfgroße Verwerfung in der Struktur der Raumzeit selbst. Und darunter lag eine Grasnarbe, an der, wie Fliegen an der Decke, das Beiboot der Crab, Berg, Shira und die anderen klebten, die Spielzeuggebäude der Freunde von Wigner; und – am unwirklichsten von allem – die antiken Steine der Opferstätte, die dort im Licht von Jupiter baumelten wie verfaulende Zähne im Oberkiefer eines unvollständigen, bepelzten Schädels.
Das ganze Schiff muß von einer Luftschicht umgeben sein, überlegte er. Natürlich mußte die Luft mit zunehmender Entfernung von der Hochgravitationszone im Bereich der Singularitätenebene ziemlich dünn werden.
Unbeholfen kam er auf die Füße. »Ich bedanke mich bei Ihnen für das, was Sie mir gezeigt haben«, sagte er.
Jaar musterte ihn, groß, kahlköpfig, leichenblaß. »Und was glauben Sie gelernt zu haben?«
Poole zuckte betont beiläufig die Achseln. Mit einer fließenden Handbewegung zeigte er auf die Höhle. »Nichts Neues. Das ist hier zwar alles ganz beeindruckend, aber letztlich sind es nur Details. Die Singularitätenstruktur. Darum geht es doch eigentlich bei dieser Mission; ihretwegen habt ihr euch die ganze Mühe mit dieser Reise zurück durch die Zeit gemacht.« Er deutete auf die Schächte, die zu den Ritzen in der Kuppel aus Xeelee-Werkstoff führten. »Diese Dinger sehen wie Geschützrohre aus, die auf Jupiter zielen. Ich glaube, daß es Geschütze sind – Singularitätenkanonen. Ich glaube weiterhin, daß ihr diese Singularitäten nacheinander aus ihren elektromagnetischen Käfigen freisetzt und sie aus diesen Rohren auf den Jupiter verschießt.«
Jaar nickte langsam. »Und was werden wir dann tun?«
Poole breitete die Hände aus. »Warten Sie es ab…«
Er deutete eine Singularität an – eine winzige, kaum sichtbare Ballung ultrastarker Gammastrahlung – die sich in großen, langsamen Ellipsen um Jupiter bewegte und bei jedem Umlauf einen kleinen Kanal durch die dünnen Gase in der äußersten Atmosphäreschicht schoß. Die Gravitation des Planeten würde heftig an der Singularität zerren, und Plasma-Bogenwellen würden nach der Singularität greifen, während sie durch die Atmosphäre pflügte. Schließlich würde die Singularität wie mit ausgestreckten Händen von der Atmosphäre eingefangen werden.
Auf seiner engen spiralförmigen Bahn zum Mittelpunkt des Planeten würde das Schwarze Loch die Methan- und Wasserstoffschichten des Jupiter durchtrennen und schließlich in den Kern aus metallischem Wasserstoff stürzen. Es würde irgendwo in der Nähe des Gravitationszentrums des Jupiter zur Ruhe kommen. Und es würde anfangen zu wachsen.
»Ihr werdet ständig für Nachschub sorgen«, fuhr Poole fort. »Bald wird es dort vor Singularitäten nur so wimmeln, die einander wie Insekten im festen Kern des Planeten umkreisen. Und alle wachsen sie unaufhaltsam drauflos und zehren dabei immer mehr von der Substanz des Jupiter auf. Bis einige der Löcher kollidieren und verschmelzen, wobei sie vermutlich Schockwellen aussenden, die die äußeren Schichten des Planeten noch mehr destabilisieren.« Vielleicht, spekulierte Poole, konnten die Freunde sogar die Fusion der Schwarzen Löcher steuern – die gepulsten Gravitationswellen so bündeln, daß sie den Kollaps des Planeten herbeiführten.
Bis die Löcher Jupiter wie ein Krebs zerstört hätten.
Während der Kern aufgezehrt wurde, implodierte die Gashülle des Planeten wie ein zusammenfallender Ballon; Poole vermutete, daß sich der Planet erhitzte und ›Taschen‹ der Verwerfung und Instabilität entstanden – Explosionen, die den größten Teil der Atmosphäre in den Weltraum schleudern würden. Gezeiteneffekte würden die Monde aus ihren alten Umlaufbahnen reißen oder sie in elliptische Orbits drängen; die menschlichen Bewohner dieses Raumsektors müßten natürlich evakuiert werden. Vielleicht würden einige der Monde durch die Gezeitenwirkung und die Gravitationswellen sogar zerstört werden.
»Zum Schluß wird nur noch eine einzige, massive Singularität übrigbleiben«, erkannte Poole. »Aus den Überresten der Jupiter-Atmosphäre und den Bruchstücken seiner Satelliten wird sich eine Akkretionsscheibe herausbilden, und die restlichen Monde werden wie aufgeschreckte Hühner in diesem ganzen Chaos umhertaumeln.«
Jaars Schweigen war so ausdrucksvoll wie der Werkstoff der Xeelee.
Poole runzelte die Stirn. »Natürlich würde auch schon eine einzige Singularität ausreichen, um Jupiter kollabieren zu lassen, wenn das alles wäre, was ihr bezwecken wollt. Warum habt ihr dann also diesen Haufen Zeugs mitgebracht?«
»Ich bin ganz zuversichtlich, daß Sie auch das schon eruiert haben«, erwiderte Jaar trocken.
»In der Tat. Ich vermute, daß ihr die Größe der Endstufen-Singularität kontrollieren wollt«, meinte Poole. »Liege ich da richtig? Die multiplen ›Start‹-Singularitäten dienen dazu, vor dem endgültigen Kollaps einen Bruchteil der Planetenmasse zu eliminieren. Ich glaube, daß ihr diese Implosion mit dem Ziel konstruiert habt, schließlich ein Schwarzes Loch mit einer ganz bestimmten Größe und Masse zu erhalten.«
»Und warum sollten wir das tun?«
»Daran arbeite ich noch«, entgegnete Poole grimmig. »Aber der Zeitplan… Das könnte Jahrhunderte dauern. Ich verstehe mittlerweile eine ganze Menge, aber was ich nicht begreife, ist, wie ihr ohne AS in solchen Dimensionen planen könnt.«
»Ein Mensch kann auch auf ein Ereignis jenseits seiner eigenen Lebenserwartung hinarbeiten«, erklärte Jaar in jugendlichem Optimismus.
»Vielleicht. Aber was geschieht, wenn ihr die letzte eurer Singularitäten abgefeuert habt? Das Erd-Schiff wird auseinanderbrechen. Auch wenn die Innenschale aus Xeelee-Werkstoff unbeschädigt bleibt, wird das Äußere – das Erdreich, das Gras und die Luft – zusammen mit der Quelle eures Schwerefeldes im All verschwinden.«
Er stellte sich vor, wie sich die Menhire wie gigantische Extremitäten vom Gras erhoben und in den Raumsektor von Jupiter entschwanden; es würde ein merkwürdiges Ende für Stonehenge werden, weit merkwürdiger als das, was sich die antiken Steinmetze hätten vorstellen können.
»Und was wird aus euch werden? Ihr scheint entschlossen, keine Hilfe von uns anzunehmen. Ihr werdet sterben müssen… vielleicht schon in ein paar Monaten. Und sicher lange bevor ihr mit dem Kollaps von Jupiter das Gelingen eures Projektes erleben könnt.«
Jaars Gesicht war ruhig, unbewegt und ausdruckslos. »Wir wären nicht die ersten, die ihr Leben für eine größere Sache opfern.«
»Und ein Sieg über die Qax wäre eine solche größere Sache? Vielleicht wäre es das. Aber…« – Poole sah dem Freund direkt in die großen braunen Augen -»aber ich glaube nicht, daß sich die Vorgänge hier nur mit einer noblen Selbstaufopferung erklären lassen. Stimmt’s, Jaar? Ihr seid nicht an unserem Angebot interessiert, die AS-Technologie in Anspruch zu nehmen. Und ihr könntet euch vor dem Abschluß eures Projekts in Sicherheit bringen. Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit für euer Opfer, nicht wahr? Aber ihr habt vor dem Tod gar keine Angst. Der Tod ist einfach… irrelevant.«
Jaar antwortete nicht.
Poole machte einen Schritt zurück. »Ihr Leute macht mir angst«, sagte er offen heraus. »Und ihr macht mich wütend. Ihr reißt Stonehenge aus dem Boden. Stonehenge, um Himmels willen! Dann besitzt ihr die Frechheit, aus der Zukunft zurückzukehren und die Zerstörung eines Planeten vorzubereiten… den Gravitationskollaps des wertvollsten Planeten des Sonnensystems. Jaar, ich fürchte mich nicht vor den Konsequenzen meiner eigenen Handlungen. Schließlich bin ich derjenige gewesen, der die Zeitmaschine konstruiert hatte, die euch hierher gebracht hat. Aber ich verstehe nicht, wie ihr die Dreistigkeit aufbringen könnt, dies zu tun, Jaar – so viel vom gemeinsamen Erbe der Menschheit zu verbrauchen und zu zerstören.«
»Michael, Sie brauchen sich deswegen nicht aufzuregen. Ich bin mir sicher, daß Shira Ihnen das auch gesagt hat. Am Ende wird nichts von alledem« – er deutete auf die Höhle – »und niemand von uns – wichtig sein. Alles wird gut werden. Sie wissen, daß wir Ihnen nicht mehr sagen werden als das, was Sie bereits wissen. Aber Sie brauchen sich deswegen nicht zu grämen, Michael. Was wir tun, ist zu Nutz und Fromm der ganzen Menschheit – in der Zukunft und in der Vergangenheit…«
Poole stieß sein Gesicht fast in das des jungen Mannes. »Wie können Sie es wagen, solche Forderungen zu stellen und derartige Pläne zu entwerfen?« zischte er. »Verdammt, Mann, Sie können doch nicht älter als fünfundzwanzig Jahre sein. Die Qax sind eine schreckliche Plage für die Menschheit. Ich habe genug gesehen und gehört, um davon überzeugt zu sein. Aber ich glaube, daß euer Projekt die Bedrohung durch einen einfachen Unterdrücker wie die Qax noch weit in den Schatten stellt. Jaar, ich glaube, daß Sie die Geschichte ändern wollen. Aber Sie sind kein Gott! Ich halte euch für gefährlicher als die Qax.«
Jaar zuckte kurz vor Pooles Zorn zurück, gewann aber bald wieder seine unerschütterliche Sicherheit zurück.
Poole verbrachte noch einige Zeit bei dem Jungen in der Höhle, argumentierte, forderte, drohte. Aber sein weiterer Erkenntnisgewinn belief sich auf null.
Schließlich gestattete er Jaar, ihn wieder an die äußere Oberfläche zu bringen. Auf dem Weg nach oben versuchte Poole, die Fahrstuhlkontrollen zu bedienen, wie er es zuvor bei dem Freund gesehen hatte. Jaar hielt ihn nicht davon ab. Natürlich reagierte die Steuerung nicht.
Als sie wieder auf der kleinen Prärie standen, stiefelte Poole zu seinem Schiff zurück, voller Zorn und Angst.