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WIE EIN STEIN, der aus einer blauen Schüssel herausgeschleudert wurde, löste sich der Raumgleiter von der besetzten Erde. Glitzernd und taumelnd gewann das kleine zylindrische Raumschiff an Höhe.
Der Qax-Gouverneur auf Terra hatte an Jasoft Parz die Aufforderung ergehen lassen, sich in der Erdumlaufbahn zu einem Meeting einzufinden. Parz zermarterte sich das Gehirn, das seit den Jahren seines diplomatischen Dienstes nur noch in starren Mustern dachte, nach den möglichen Gründen dieser Vorladung. Natürlich; es mußte mit dem Erscheinen dieses verdammten Wurmlochs zu tun haben, das die Qax wie einen Schwarm Hornissen aufgescheucht hatte.
Aber warum sollte er sich gerade jetzt melden? Was war geschehen?
Proportional zur zunehmenden Entfernung von der Erde wuchs auch Parz’ Besorgnis.
Parz war allein in dem automatisierten Raumer. Er sah, wie Bahnen von aquamarinfarbenem terrestrischen Licht durch die kleinen Bullaugen stachen, der Rotation des Bootes folgten und durch die staubige Atmosphäre schnitten. Wie immer nahm ihm die glühende Unschuld des Planeten den Atem. Zwei Jahrhunderte Besatzung durch die Qax hatten nur wenige sichtbare Narben auf der Erde hinterlassen – viel weniger jedenfalls, als die Menschen während ihres langsamen und unbedachten Aufstieges zu einer technischen Zivilisation verursacht hatten. Doch nach wie vor waren die von den Qax betriebenen Planktonfarmen, die sich als grüne Grenzen um jeden Kontinent legten, ein bedrückender Anblick; genauso wie die landeinwärts verstreuten glasierten Flächen, die vom kurzen und ruhmlosen Kampf der Menschheit gegen die Qax kündeten.
Wie oft schon hatte Parz diese spiegelnden Abschnitte aus dem Weltraum studiert? Hundertmal, tausendmal? Und jedesmal hatte er angestrengt versucht, sich an die Reaktion zu erinnern, mit der er als Jugendlicher zum erstenmal die zerstörten Städte betrachtet hatte. Dieser befreiende, lodernde Zorn; die Entschlossenheit, keinen Mitläufer abzugeben, wie die anderen es getan hatten. Ja, er würde im Rahmen des Systems mitarbeiten – sogar eine Laufbahn im verhaßten diplomatischen Dienst einschlagen, dieser kollaborativen Mittlerinstanz zwischen Menschen und Qax. Doch ihm war es dabei nur darum gegangen, einen Weg zu finden, der Menschheit ihren Stolz wiederzugeben.
Na, Jasoft, fragte er sich; und was ist aus all den hehren Zielen geworden? Wo sind sie abhanden gekommen, in all diesen düsteren Jahren? Parz stocherte in seinen abgestumpften alten Emotionen. Manchmal fragte er sich, ob er überhaupt noch in der Lage war, echte Gefühle zu entwickeln; sogar die zerstörten Städte wirkten jetzt nicht mehr so deprimierend auf ihn und dienten vielmehr dazu, nostalgische Erinnerungen an seine Jugend hervorzurufen.
Natürlich hätte er die Qax im Bedarfsfall sogar für die biologische Tatsache verantwortlich machen können, daß er älter wurde. Hatten diese nämlich nicht wenige Monate nach ihrer Invasion die Grundlagen der menschlichen AntiSenescence-Technologie zerstört?
Manchmal fragte sich Parz, wie man sich wohl als AS-konservierter Mensch fühlen würde. Welchen Wert sollte Nostalgie für einen Unsterblichen dann noch haben?
Ein leises Klingeln lief durch den Raumer und wies Parz darauf hin, daß seine Begegnung mit der Spline-Flotte in weniger als fünf Minuten bevorstehen würde. Parz lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen; er seufzte leise, als die semi-adaptiven Polster sich der Kontur der Wirbelsäule anpaßten und die schmerzende Rückenmuskulatur massierten, und legte die knochigen, leberfleckigen Hände auf die Brieftasche auf der kleinen Ablage vor sich. Er versuchte, sich auf das baldige Treffen mit dem Gouverneur einzustimmen. Es würde eine schwierige Angelegenheit werden – aber war es jemals einfach gewesen? Parz stand vor der Herausforderung, den Gouverneur irgendwie milde zu stimmen: ihn dazu zu bewegen, angesichts des Wurmloch-Zwischenfalls nicht zu drastischen Maßnahmen zu greifen und das Besatzungsregime nicht weiter zu verschärfen.
Als ob dies das Stichwort gewesen wäre, schob sich das mehrere Kilometer durchmessende Spline-Flaggschiff des Gouverneurs in sein Blickfeld und ließ die Erde plötzlich ganz klein erscheinen. Parz konnte sich der Wirkung des Anblicks dieses riesigen Schiffes nicht entziehen. Das Flaggschiff war eine Kugel, frei von den Aufschriften und Markierungen, mit denen vor einigen Jahrhunderten die Raumschiffe der Menschheit versehen waren. Die Hülle bestand weder aus Kunststoff noch aus Metall, sondern aus einem runzligen, lederartigen Überzug, der an die Haut eines vernarbten alten Elefanten erinnerte. Diese ›Haut‹ war mit metergroßen Pockennarben übersät, großen Stückpforten, in denen unübersehbar Sensoren und Waffen glitzerten. In einem dieser Löcher rollte ein Auge und fixierte Parz eindringlich; das Auge war eine drei Meter breite Kugel und wirkte erschreckend menschlich; ein Zeugnis der Macht konvergenter Evolution. Parz wandte sich ab und fühlte sich fast schuldig deswegen. Wie die übrigen Organe des Spline war das Auge vergütet worden, um die Belastungen eines Raumfluges überstehen zu können – einschließlich der verschärften Bedingungen im Hyperraum – und für die Bedürfnisse der Raumschiffbesatzung modifiziert. Doch Parz wußte, daß der Spline nach wie vor ein eigenes Wahrnehmungsvermögen besaß; und er fragte sich, in welchem Maße die Intensität dieses großen Blicks durch das Bewußtsein des Spline selbst, beziehungsweise durch die Sekundärbeobachtung der Besatzung hervorgerufen wurde.
Parz schob das Gesicht näher an das Bullauge. Oberhalb des fleischigen Horizontes des Spline hob sich die Krümmung eines blauen Segmentes der Erde gegen die Dunkelheit ab, und dem alten Mann war es, als ob ein Stahlseil sein Herz zu diesem unerreichbaren Stück seines Heimatplaneten zerren wollte. Und über dem blauen Segment ortete er ein weiteres Spline-Schiff, das perspektivisch auf die Größe seiner Faust reduziert wurde. Er erkannte, daß es sich bei diesem Raumer um ein Kriegsschiff handelte; seine biologische Hülle starrte vor Geschützständen – die meisten waren drohend auf Parz gerichtet, als ob sie ihn dazu auffordern wollten, es doch mal zu versuchen. Die massive Drohung des kilometergroßen Schlachtschiffes wirkte lächerlich auf Parz; er schüttelte eine knochige Faust gegen den Spline und streckte ihm die Zunge heraus.
Jetzt registrierte er, daß oberhalb des Kriegsschiffes noch ein weiteres Spline-Schiff stand, und zwar in einer solchen Entfernung, daß Parz es trotz der durch Horn- und Netzhautverstärkung optimierten Optik nur als pinkbraunen Punkt ausmachen konnte. Und hinter diesem Raumer rollte noch ein Spline durch das All. Wie fleischgewordene Monde umkreiste die Flotte die Erde mit spielerischer Dominanz.
Parz war einer von einer Handvoll Menschen, die seit der Implementierung des Besatzungsstatuts durch die Qax die Erde hatten verlassen dürfen, und einer von noch wenigeren, die sich überhaupt einem Abschnitt der Hauptflotte der Qax genähert hatten.
Die Menschheit war vor zweieinhalbtausend Jahren zum erstenmal ins All gestartet, optimistisch, expandierend und voller Hoffnung… oder so kam es Jasoft jetzt zumindest vor. Dann war es zur ersten Kontaktaufnahme mit einer extraterrestrischen Spezies gekommen – einem geistigen Kollektivlebewesen mit der Bezeichnung Squeem – und alle Hoffnungen wurden zu Grabe getragen.
Die Menschheit wurde unterworfen, und die erste Besetzung der Erde begann.
Doch schließlich wurde die Herrschaft der Squeem abgeschüttelt, und die Menschheit bereiste erneut den Weltraum.
Dann waren die Qax auf ein terranisches Raumschiff gestoßen.
Zunächst war alles eitel Sonnenschein gewesen. Mit den Qax wurden Handelsbeziehungen aufgebaut und ein Kulturaustausch vorbereitet.
Aber die Freude war nur von kurzer Dauer.
Als die Qax gemerkt hatten, wie schwach und naiv die Menschen im Grunde waren, schickten sie die Spline-Kriegsschiffe los.
Dennoch hatte die Menschheit in dieser kurzen Phase der ersten Kontaktaufnahme schon am meisten über die Qax und den Grund ihrer Überlegenheit gelernt. So hatte man zum Beispiel erfahren, daß die von den Qax eingesetzten Spline-Raumschiffe von riesigen Meereslebewesen mit ausgeprägten Extremitäten abgeleitet waren, die einst die Tiefen eines planetenumspannenden Ozeans durchpflügt hatten. Die Splines hatten die Raumfahrt entwickelt und für Jahrtausende die Sterne bereist. Dann, vor etwa einer Million Jahren, hatten sie eine strategische Entscheidung getroffen.
Sie ›konstruierten‹ sich neu.
Sie beschichteten ihre Haut, vergüteten ihre inneren Organe – und erhoben sich von der Oberfläche ihres Planeten wie kilometergroße, mit Auswüchsen besetzte Ballons. Sie waren zu lebendigen Raumschiffen geworden, die sich von der kargen Materie im interstellaren Raum ernährten. Die Spline hatten sich in Trägerschiffe verwandelt, die sich durch ihre eigene Vermietung an hundert verschiedene Spezies einen Platz im Universum sicherten.
Das war keine schlechte Überlebensstrategie, sinnierte Parz. Das Operationsgebiet der Spline mußte sich weit über den Raumsektor hinaus erstrecken, den die Menschheit vor der Invasion der Qax erschlossen hatte – sogar über die größere Einflußsphäre der Qax, in welche das traurige, kleine Reservat der Menschen eingebettet war.
Eines Tages würden die Qax wieder verschwinden, wußte Parz. Vielleicht würde die Menschheit das selbst besorgen; vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall würde unter der Herrschaft einer neuen Rasse Handel getrieben, Informationen und Güter zwischen den Sternen ausgetauscht werden. Und es würde neue Kriege geben. Und nach wie vor würde es die Spline geben, die größten Schiffe überhaupt – mit der möglichen Ausnahme, konzedierte sich Parz selbst, der unvorstellbaren Flotten der Xeelee höchstselbst – die immer noch zwischen den Sternen kreuzten, unerkannt und unsterblich.
Das kleine Sichtfenster glühte kurz rot auf, wobei Laserpunkte auf dem minderwertigen Kunststoff funkelten. Dann aktivierte sich zischend ein irgendwo in dem Kleinraumschiff integrierter Translator, woraus Parz schloß, daß die Spline eine Laserbrücke geschaltet hatten. Das Bewußtsein, daß sich seine Reise ihrem Höhepunkt näherte, ließ ihn wieder innerlich erzittern; und als der Qax-Gouverneur von Terra ihn schließlich mit seiner unmodulierten, unpassend femininen Stimme ansprach, zuckte er zusammen.
»Botschafter Parz. Du hängst im Sessel wie die Pik Sieben. Bist du krank?«
Parz schnitt eine Grimasse. Er wußte, daß dies das Maximum an Etikette war, das sich ein Qax abringen konnte; es war eine seltene Ehre, die er nur seiner langen Bekanntschaft mit dem Gouverneur verdankte. »Ich habe Kreuzschmerzen, Gouverneur«, erläuterte er. »Entschuldigung. Ich werde mich dadurch aber nicht von unseren Geschäften ablenken lassen.«
»Glaube ich nicht. Warum läßt du den Schaden nicht beheben?«
Parz bemühte sich, eine zivile Antwort zu formulieren, doch im Vordergrund seines Bewußtseins stand wieder die unabweisbare Erkenntnis des Alterns. Parz war jetzt siebzig Jahre alt. Wenn er vor dem Auftauchen der Qax gelebt hätte, würde er jetzt wohl in einen Jungbrunnen steigen, den Körper entschlacken und regenerieren, den Geist wieder auf Vordermann bringen und das Reaktionsvermögen eines Kindes zurückerhalten. Doch die AntiSenescence-Technologie war nicht mehr verfügbar; offensichtlich paßte es den Qax ins Konzept, daß die Menschen im Zeitablauf dahingerafft wurden. Früher, so erinnerte sich Parz, hatte er die Qax vor allem wegen dieser Maßnahme innerlich verflucht: Wegen der willkürlichen Beendigung von Milliarden Menschenleben, wegen der Vernichtung dieses ganzen Potentials. Na schön, jetzt schien er sich indessen nicht mehr allzuviel über irgend etwas aufzuregen…
Doch, so dachte er bitter, von all den Plagen, welche die Qax über die Menschheit gebracht hatten, würde er ihnen niemals seine Rückenschmerzen verzeihen.
»Danke für Ihre Güte, Gouverneur«, erwiderte er. »Mein Rücken kann nicht so einfach repariert werden. Er ist ein Parameter, mit dem ich für den Rest meines Lebens arbeiten muß.«
Das Qax ließ das kurz auf sich wirken und meinte dann: »Ich bin besorgt darüber, daß deine Funktionalität eingeschränkt ist.«
»Die Menschen sind nicht mehr unsterblich, Gouverneur«, flüsterte Parz. Und er erkühnte sich hinzuzufügen: »Gott sei Dank.« Dies war der einzige Trost des Alters, reflektierte er müde – wobei er sich im Sessel räkelte, um die Massagewirkung für die schmerzenden Körperpartien zu verstärken –, daß Besprechungen wie diese sicher bald zu einem Ende kommen mußten.
»Gut«, sagte das Qax mit einem leicht ironischen Unterton in der perfekten Kunststimme, »laß uns weitermachen, bevor dein Körper noch ganz auseinanderfällt. Das Wurmloch. Das Objekt befindet sich bereits im Kometenhalo dieses Systems.«
»In der Oort-Wolke, richtig. Knapp ein drittel Lichtjahr von der Sonne entfernt.«
Parz wartete einige Sekunden darauf, daß das Qax endlich spezifizierte, weshalb er überhaupt hierher gebracht worden war. Als das Qax sich jedoch ausschwieg, holte er einige Disketten aus seiner Mappe, präsentierte Charts mit Zahlen und Grafiken und ging so das Briefing durch, das er vorbereitet hatte.
»Es ist ein altes terranisches Artefakt«, mutmaßte das Qax.
»Ja.« Parz holte ein Chart auf den Bildschirm – glühende Gitterkonstruktionen vor einem lachsrosa Hintergrund – und schickte es per Tastendruck über die Datenleitung zum Gouverneur. »Dies ist ein Videobild der Initiierung des Wurmlochs in der Jupiterumlaufbahn, vor etwa anderthalbtausend Jahren. Der Vorgang firmierte unter der Bezeichnung ›Projekt Interface‹.« Er fuhr mit einem Fingernagel über die Abbildung, um auf die Details hinzuweisen. »Im wesentlichen bestand die Konstruktion aus zwei pyramidenförmigen Gitterrohrrahmen. Beide hatten eine Basiskantenlänge von etwa fünf Kilometern. Diese Rahmen bildeten die Begrenzung einer Raum-Zeit-Brücke.« Er blickte hoch, irgendwo in Richtung der Decke. Nicht zum erstenmal wünschte er sich, daß er irgendein Bild vom Gouverneur hatte, an dem er seine Aufmerksamkeit festmachen konnte, nur einen kleinen Hinweis, um die in diesen Meetings herrschende Orientierungslosigkeit abzumildern. Bisher hatte er sich immer von der Aura des Gouverneurs eingeschlossen gefühlt, als ob dieser irgendein mächtiger Gott wäre. »Wollen Sie Einzelheiten hören, Gouverneur? Die sogenannte Einstein-Rosen-Brücke ermöglicht in Nullzeit den Transfer zwischen zwei Punkten im Raum-Zeit-Kontinuum aufgrund…«
»Weiter.«
Parz nickte. »Einer der Pyramiden-Gitterrohrrahmen verblieb in der Jupiter-Umlaufbahn, während der andere mit Unterlichtgeschwindigkeit von der Erde wegtransportiert wurde, in Richtung des Zentrums dieser Galaxis.«
»Warum gerade dorthin?«
Parz zuckte die Schultern. »Die Richtung war im Grunde irrelevant. Es ging nur darum, das eine Ende der Einstein-Rosen-Brücke viele Lichtjahre von der Erde entfernt zu positionieren und es später wieder zurückzuholen.«
Parz’ Terminal klingelte leise. Abbildungen, auf die das Qax jetzt direkt zugriff, liefen über den Bildschirm: Konstruktionszeichnungen der Pyramiden aus allen Perspektiven, seitenweise relativistische Gleichungen… Die Gitterkonstruktionen wirken wie Kunstwerke, dachte er; oder wie Ohrschmuck, der an der narbigen Wange des Jupiter baumelt.
»Wie wurden die Pyramiden konstruiert?« fragte das Qax.
»Aus irgendwelchen exotischen Werkstoffen.«
»Woraus?«
»Das ist ein Begriff aus unserer Sprache«, erwiderte Parz schroff. »Schlagen Sie ihn nach. Eine Substanz mit besonderen Eigenschaften, die es ermöglichen, ein Wurmloch offenzuhalten. Die Technologie wurde von einem Menschen namens Michael Poole entwickelt.«
»Wie du weißt, wurde, als die Menschheit in ihre jetzigen engen Geschäftsbeziehungen mit den Qax eintrat, das zweite Terminal dieser Raum-Zeit-Brücke - der stationäre, der sich noch immer im Orbit um den Jupiter befindet – zerstört«, dozierte der Gouverneur.
»Ja. Ihr zerstört ohnehin alles, was ihr nicht versteht«, kommentierte Parz trocken.
Das Qax erwiderte zunächst nichts. Dann meinte es: »Wenn dich die Dysfunktion deines Körpers behindert, können wir auch später weitermachen.«
»Lassen Sie es uns zu Ende bringen«, entgegnete Parz. »Nach fünfzehn Jahrhunderten kehrt das Gegenstück der Brücke in das Sonnensystem zurück. Es befindet sich im Schlepp der Cauchy, eines alten terranischen Frachtraumers; wir vermuten, daß die vor eintausendfünfhundert Jahren gestartete Schiffsbesatzung wegen der Zeitdilatation noch am Leben ist.«
»Warum kommt das Brückenteil zurück?«
»Weil es bei der Mission so vorgesehen war. Sehen Sie.« Parz schickte weitere Daten über den Rechner. »Sie sollten in etwa zu diesem Zeitpunkt zurückkommen, und das tun sie auch.«
»Vielleicht funktioniert die Raum-Zeit-Brücke seit der Vernichtung der zweiten, stationären Pyramide nicht mehr«, spekulierte das Qax. »Wir sollten deshalb diesen – Besuch von den Sternen – nicht als Bedrohung interpretieren. Was meinst du?«
»Vielleicht haben Sie recht.«
»Warum sollten wir uns irren?«
»Weil der eigentliche Zweck des Projekts ›Interface‹ nicht darin bestanden hatte, einen Weg zur Reise durch den Raum zu finden… sondern durch die Zeit. Ich bin zwar kein Physiker, aber ich glaube nicht, daß eure Zerstörung des zweiten Terminals die Funktionsfähigkeit der Brücke beeinträchtigt hat.«
Auf Parz’ Bildschirm erschien nun die einfache Darstellung eines Pyramidengitters; das Bild war bis zur Auflösungsgrenze vergrößert und fokussiert, ohne daß jedoch Details erkennbar waren.
»Willst du damit andeuten, daß wir hier eine funktionierende Zeitmaschine sehen?« fragte der Gouverneur, »…eine Passage, einen Zeittunnel, der uns mit der Menschheit vor anderthalbtausend Jahren verbindet?«
»Ja, vielleicht tun wir das.« Parz starrte auf das Bild und versuchte, irgendwelche Einzelheiten der Pyramide zu erkennen. War es möglich, daß sich gleich unter diesen Schichten des deformierten Raum-Zeit-Kontinuums ein Sonnensystem befand, das frei von der Beherrschung durch die Qax war – ein System, bevölkert von freien, wagemutigen und unsterblichen Menschen, die kühn genug waren, ein derart gewaltiges Projekt wie ›Interface‹ zu realisieren? Er versuchte, durch diese körnigen Bildpunkte in eine bessere Vergangenheit zu sehen. Aber die Auflösung dieser Fernerfassungsaufnahme war so schlecht, daß sich seine alten Augen trotz der Sehhilfen bald überanstrengten.
Das Qax sagte nichts.
Mit dieser Abbildung als Standbild auf dem Monitor ließ sich Parz wieder in seinen Sessel sinken und schloß die schmerzenden Augen. Er hatte langsam genug von dem Spiel des Gouverneurs. Am besten brachte man es zu gegebener Zeit zu Ende.
Der Gedanke, daß die Menschheit im Verlauf der Besatzung fast nichts Neues über die Qax gelernt hatte, war bedrückend: Sogar die Botschafter der Menschen wie Parz wurden auf Distanz gehalten. Dennoch hatte Parz seine diversen Kontakte genutzt, um Fragmente über Wissen und Philosophie sowie einen Einblick in die Natur der Qax zu erlangen und alles in das Bild integriert, das aus einer glücklicheren Vergangenheit überliefert war.
Wie alle anderen hatte auch Parz bisher nie ein Qax zu Gesicht bekommen. Er vermutete, daß sie im physischen Sinne große Wesen waren – warum hätten sie sonst Spline-Frachter benutzt? – aber auf jeden Fall war es nicht ihre körperliche Erscheinungsform, sondern die geistige Kapazität und Motivation, die so faszinierten. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß die Menschheit nur durch die Kenntnis des Feindes – indem man das Universum mit der Mentalität der Qax betrachtete – hoffen konnte, das drückende Joch der Besatzung abzuschütteln.
Er war zum Beispiel zu der Vermutung gelangt, daß die Rasse der Qax aus relativ wenigen Individuen bestand – vielleicht nicht einmal zweitausend. Auf jeden Fall nicht zu vergleichen mit den Milliarden, aus denen einst die Menschheit bestanden hatte, in den Jahren vor der Entwicklung der AS-Technologie. Und er war sich sicher, daß lediglich drei oder vier einzelne Qax mit der Überwachung der Erde beauftragt waren und zu diesem Zweck in ihren gemütlich warmen Spline-Frachtern um den Planeten kreisten.
Aus dieser Hypothese ergaben sich natürlich viele Implikationen.
Die Qax waren wahrscheinlich unsterblich – es gab sicher Hinweise dafür, daß seit der Invasion ein und derselbe Gouverneur auf der Erde herrschte. Und bei einer so kleinen und statischen Population, und mit aller Zeit dieser Welt, würde jedes Qax den Rest seiner Spezies sicherlich sehr gut kennen.
Vielleicht schon zu gut.
Parz stellte sich vor, wie über die Jahrhunderte Rivalitäten entstanden waren, mit Intrigen, Manövern, endlosen Kabalen… und Handel. Bei einer so kleinen und eng verbundenen Spezies konnte es keine organisierten politischen Strukturen geben. Wie hätte zum Beispiel ein Konsens für eine Legislative erreicht werden können? Wie hätten Gesetze verabschiedet werden können, die nicht im Verdacht standen, die Freiheitsrechte des Einzelnen einzuschränken?
… Aber es gab Naturgesetze, denen jede Gesellschaft unterlag. Parz, der jetzt in den Bereich der Kontemplation abdriftete, nickte selbst zu seinen Gedankengängen. Es war ganz logisch. Wie so viele andere unabhängige Verbände auch, mußten sich die Qax in einem Zustand der vollständigen Konkurrenz befinden; sie bewegten sich in einem Meer der vollständigen Information über die Aktivitäten und Pläne der anderen, wobei ein Anschein von Ordnung nur durch die Gültigkeit der Gesetze der Ökonomie aufrechterhalten wurde. Ja; diese Theorie war für Parz plausibel. Die Qax waren ihrem Wesen nach Händler. Das mußten sie sein. Und über Handelsbeziehungen hatten sie auch Kontakt zu anderen Spezies aufgenommen, als sie über ihren Heimatplaneten hinaus expandierten.
Sofern nicht, wie es bei der Menschheit der Fall gewesen war, andere, verlockende Möglichkeiten winkten…
Parz glaubte nicht – im Gegensatz zur Ansicht vieler Kommentatoren –, daß die Qax eine inhärent militaristische Rasse waren. Bei einer derart geringen Bevölkerungszahl hätten sie niemals eine kriegerische Philosophie entwickeln können; sie würden niemals daran gedacht haben, Soldaten (ihrer eigenen Rasse) als billiges Kanonenfutter oder als erneuerbare Ressource zu betrachten bzw. sie in einem Konflikt als Mittel zum Zweck einzusetzen. Die Ermordung eines Qax mußte als ein unvorstellbares Verbrechen gelten.
Nein, die Qax waren keine Krieger. Sie hatten die Menschheit besiegt und die Erde besetzt, weil es eben so einfach gewesen war.
Natürlich war dies keine sehr populäre Ansicht, und Parz hatte gelernt, sie für sich zu behalten.
»Botschafter Jasoft Parz.«
Die dissonant scharfe, feminine Stimme des Gouverneurs versetzte ihn in einen Zustand der höchsten Alarmbereitschaft. Hatte er tatsächlich geschlafen? Er rieb sich die Augen und setzte sich gerade hin – und dann ließ ihn ein neuer Schmerz im Rücken zusammenzucken. »Ja, Gouverneur. Ich höre Sie.«
»Ich habe dich hierher bestellt, um neue Entwicklungen zu besprechen.«
Parz klärte seinen Blick und richtete ihn auf den Computer vor sich. Na endlich, dachte er. Er sah die näherkommende Interface-Pyramide, wobei genausowenig Details wie vorher zu erkennen waren; die Bildpunkte schienen so groß wie Fingerabdrücke. Die Sterne im Hintergrund funkelten langsam. »Ist das eine Aufzeichnung? Warum zeigen Sie mir das? Dieses Bild ist noch schlechter als die Daten, die ich Ihnen mitgebracht habe.«
»Sieh hin.«
Mit einem Seufzer machte Parz es sich so bequem wie möglich; der Sensorsessel massierte wohltuend den Rücken und die Beine.
Einige Minuten verstrichen; auf dem Monitor hing die Pyramide reglos am Rande des interstellaren Leerraums.
Dann kam von rechts eine verschwommene Störung ins Bild, ein Strahl Bildpunkte, der ins Zentrum der Pyramide stach und dann verschwand.
Parz vergaß seinen Rücken, setzte sich aufrecht hin und ließ den Rechner den Vorgang in Einzelbildschaltung wiederholen. Es war unmöglich, irgendwelche Details zu erkennen, aber die Bedeutung dieser Sequenz war trotzdem klar. »Mein Gott«, keuchte er. »Das ist ein Schiff, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte der Gouverneur. »Ein terranisches Schiff.«
Das Qax überspielte weitere Berichte mit kaum erkennbaren Einzelheiten.
Das in irgendeinen Deflektorschirm gehüllte Schiff war explosionsartig von der Erde gestartet und innerhalb weniger Sekunden im Hyperraum verschwunden, bevor die Spline-Flotte im Orbit reagieren konnte.
»Und es ist durch die Pyramide verschwunden?«
»Offensichtlich ist eine Gruppe von Menschen in die Vergangenheit entkommen. Ja.«
Parz schloß die Augen, als er von einer Woge des Triumphes erfaßt wurde, durch die er sich wieder jung fühlte. Also deshalb war er in den Orbit zitiert worden.
Rebellion…
»Botschafter«, fuhr das Qax fort. »Warum hast du mich nicht über die Ankunft der Interface-Komponente informiert? Du hast gesagt, daß das Missionsprofil dokumentiert und rekonstruierbar wäre und daß die Brücke zurückkehren würde.«
Parz zuckte die Achseln. »Was wollen Sie von mir hören? Ein Missionsprofil wie jenes, das auf der damaligen Technologie basiert, weist einen Streubereich von mehreren hundert Jahren auf. Es ist fünfzehnhundert Jahre her, Gouverneur!«
»Trotzdem«, unterstellte das Qax emotionslos, »würdest du es doch als deine Pflicht betrachten, mich vor solchen Ereignissen zu warnen?«
Parz neigte ironisch den Kopf. »Selbstverständlich. Mea culpa.« Wahrscheinlich fühlte das Qax sich besser, wenn es ihn tadelte, überlegte er sich. Na ja, es gehörte schließlich zu seinem Job, stellvertretend für die Menschheit gerügt zu werden.
»Und was ist mit den evakuierten Menschen? Mit dem entkommenen Schiff? Wer hat es gebaut? Wie konnten sie ihr Vorhaben verschleiern? Wo haben sie die Ressourcen herbekommen?«
Parz lächelte und fühlte, wie sich die papierene Haut seiner alten Wangen in Falten legte. Die Translatorstimme war so betörend, so sexy wie immer; aber er konnte sich vorstellen, daß das Qax in seinem gruftartigen Spline-Container vor namenloser Wut kochte. »Gouverneur, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich habe Sie offensichtlich enttäuscht. Und wissen Sie was? Es ist mir scheißegal.« Genausowenig, erkannte er mit Erleichterung, machte er sich Sorgen um sein persönliches Schicksal. Nicht mehr.
Er hatte gehört, daß Todgeweihte eine tiefe Ruhe empfanden, die fast an Gottergebenheit grenzte – ein Zustand, den die Menschheit seit der Einführung der AS-Technologie nicht mehr erlebt hatte. Konnte das seine jetzige Stimmung erklären, diese seltsame, gelöste Ruhe?
»Botschafter«, sagte das Qax. »Stelle Vermutungen an.«
»Sie sollten selbst Vermutungen anstellen«, konterte Parz. »Oder können Sie das nicht? Gouverneur, die Qax sind Händler – seid ihr doch? – und keine Eroberer. Wahre Eroberer versetzen sich in die Mentalität ihrer Untertanen hinein. Sie haben nämlich nicht die geringste Vorstellung davon, was in den Herzen der Menschen vorgeht… und deshalb sind Sie jetzt so geschockt.« Seine Augen glitten über die nüchterne Einrichtung des Raumbootes. »Ihre eigene, unglaubliche Ignoranz angesichts dieser beunruhigenden Rebellion. Deswegen haben Sie Angst, nicht wahr?«
Bis auf ein Zischen blieb der Translator stumm.