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Sie möchten einen Durchsuchungsbeschluss
für Professor Robertsons Haus haben?«, fragte Detective Inspector
Hitchens und quietschte besorgt mit seinem Drehstuhl. »Welche
Begründung haben Sie dafür?«
Fry berichtete von ihrem Gespräch mit Lucy
Somerville, während der Detective Inspector mit zunehmender
Besorgnis zuhörte und die Falten auf seiner Stirn immer tiefer
wurden. Gavin Murfin war ebenfalls anwesend, doch er lauschte, ohne
überrascht zu sein, als sie von den Sorgen der Tochter des
Professors erzählte.
»Und dann habe ich einen von den Reservepolizisten
gebeten, nach diesen Websites zu recherchieren und rauszufinden, ob
Robertson sie besucht hat«, sagte Fry.
»Was haben Sie sich dadurch erhofft, Diane?«
»Mich hat interessiert, wie weit Professor
Robertsons Interesse am Tod tatsächlich geht. Wie nahe er der
Realität kommen möchte.«
Fry erinnerte sich, wie Freddy Robertson im
Darley-Dale-Tal auf dem Kirchhof gestanden, die Gedenktafeln
bewundert und Cooper erzählt hatte, dass in Derbyshire niemals
Leichenräuber am Werk gewesen seien. Damals schien das nicht von
Bedeutung zu sein. Doch Fry hatte die Geschichten über
Leichenräuber gehört, die allgemein bekannt waren, und diese
konnten nur existieren, weil sie Abnehmer gehabt hatten, die bereit
waren, für unrechtmäßig erworbene Leichname zu bezahlen.
»Was wollen Sie damit sagen?«, erkundigte sich
Hitchens.
»Es ist unglaublich, was man heutzutage im Internet
alles findet.« Sie warf einen Blick auf die Liste, die sie bekommen
hatte. »›Tod-Online‹, ›Die Todesuhr‹, ›Beinhaus‹, oh, und eine
Seite mit dem Namen ›Leiche der Woche‹.«
»Sie machen Scherze.«
Fry schnitt eine Grimasse. »Die letzte habe ich mir
angesehen. Man braucht einen starken Magen dafür, glauben Sie mir.
Die Seite ist ein Archiv von Fotos – in erster Linie Aufnahmen aus
Leichenhallen, von Tatorten und so weiter. Mit sämtlichen
Details.«
»Ist das eine britische Seite?«
»Ja. Aber die Beiträge stammen aus aller Welt –
Fotos von Autopsien in Polen, von Hinrichtungen in Afghanistan, von
den Überresten tschetschenischer Selbstmordattentäter.«
»Ist das legal?«
»Ich glaube schon. Es ist ja nicht so, als würde
man zufällig darüber stolpern. Man muss auswählen, welche Bilder
man sich ansehen möchte. Aber ich nehme an, es hängt davon ab, wie
die Fotos beschafft worden sind. Für mich sehen viele davon aus wie
Scans von offiziellen Dokumenten. Leichenhallenangestellte und
Tatortfotografen, die ihre besten Arbeiten mit der ganzen Welt
teilen.«
»Was ist ›Die Todesuhr‹?«, fragte Murfin.
»Das ist eine Website, auf der man seine
persönlichen Daten eingeben kann: Alter, Größe, Gewicht, ob man
Raucher oder Nichtraucher ist. Dann bekommt man eine Prognose, wann
man sterben wird.«
»Oh, toll.«
Hitchens sah Fry interessiert an. »Haben Sie es
ausprobiert?«
»Ja.«
»Und...?«
»Achtzehnter April 2040.«
Sie sah, wie die beiden im Kopf nachrechneten,
genau wie sie es auch getan hatte. Wie viel Zeit ihr noch blieb,
wie alt sie sein würde, wenn sie starb. Und wie viele Jahre sie
ihre Polizeipension würde genießen können, falls sie überhaupt
wenigstens dreißig Jahre alt werden würde.
»Die Todesuhr zeigt einem die verbleibende Zeit in
Sekunden an«, sagte sie. »Man kann zusehen, wie sie heruntergezählt
werden.«
»Aber das ist doch Blödsinn, oder?«, sagte
Murfin.
»Ich nehme an, man sollte es nicht wirklich ernst
nehmen.«
»Ja.«
»Aber sehen Sie sich mal diese Fotos an, die
Robertson bei ›Leiche der Woche‹ platziert hat.«
»Moment mal, woher wollen Sie wissen, dass er sie
ins Netz gestellt hat?«, fragte Hitchens.
»Die E-Mail-Adresse des Einsenders ist angegeben.
Und der Professor hat uns seine Visitenkarte mit seinen
Kontaktdaten dagelassen, einschließlich seiner E-Mail-Adresse. Er
nennt sich natürlich ›Thanatos‹.«
Hitchens studierte die Fotos gewissenhaft.
»Ziemlich scheußlich.«
»Wo wurden sie Ihrer Ansicht nach aufgenommen?«,
fragte Fry.
»Tja, das hier irgendwo in einer Leichenhalle –
nicht in unserer, aber es könnte in der des Medico Legal Centre in
Sheffield gemacht worden sein. Und das nächste ist mit Sicherheit
am Tatort eines Gewaltverbrechens entstanden. Das Opfer hat
Schusswunden.«
»Selbstmord, laut Bildunterschrift. Was ist mit den
beiden anderen Fotos?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls sind sie
nicht in einer Leichenhalle gemacht worden. Die Beleuchtung passt
überhaupt nicht.«
»Da stimme ich zu. Aber der Leichnam wurde
sorgfältig in Position gebracht, also kann es sich auch nicht um
Tatortfotos handeln.«
»Was steht in den Bildunterschriften der beiden
Fotos?«, fragte Hitchens.
»›Einer für die Nekros.‹«
»Mein Gott.«
»Wie Sie sehen, zeigen sie den Leichnam einer Frau,
aber ohne irgendwelche Anzeichen von Gewalteinwirkung. Gott sei
Dank handelt es sich nicht um Audrey Steele.«
Der Detective Inspector sah sie scharf an. »Finden
Sie, dass das ein Grund ist, dankbar zu sein?«
Fry senkte den Blick, sagte jedoch nichts.
»Der Präparationsraum in einem
Bestattungsunternehmen«, sagte Hitchens. »Das muss es sein.«
»Möglich.«
»Wir sollten herausfinden, ob Robertson irgendeine
Verbindung zu Hudson und Slack hat.«
»Das lässt sich machen.« Fry nahm die Fotos wieder
entgegen. »Ja, es wäre möglich, dass sie im Präparationsraum eines
Bestattungsunternehmens aufgenommen wurden, aber überzeugt bin ich
nicht. Mich würde interessieren, ob es im Keller der Residenz eines
edwardianischen Gentlemans nicht vielleicht einen ganz ähnlichen
Raum gibt.«
»In einer was?«
»In Professor Robertsons Haus in Totley.«
»Ich verstehe.« Hitchens fing wieder an, sich mit
seinem Stuhl hin und her zu drehen. »Diane, das ist kein Beweis.
Das ist reine Spekulation. Sie brauchen etwas Handfesteres.«
»Tja, außerdem haben wir noch das hier gefunden...«
Fry reichte ihm zwei eng bedruckte Seiten Text. »Das ist ein
Artikel, den Professor Robertson verfasst und auf einer der
Thanatologie-Websites veröffentlicht hat.«
Hitchens ließ den Blick über die Seiten wandern.
»Das sieht für mich nach einer ziemlich morbiden Angelegenheit
aus.«
»Ich habe die relevanten Paragrafen für Sie
markiert, Sir.«
»Haben Sie das?«
Fry beobachtete Hitchens beim Lesen und sah, wie
sich Begreifen auf seinem Gesicht abzeichnete. Sie war sich nicht
sicher gewesen, ob er die Verbindung sofort herstellen würde. Er
hatte sich die Tonbandaufzeichnung der Anrufe nicht so oft angehört
wie sie. Und er kannte die Formulierungen nicht auswendig, so wie
sie.
Sie kannte den exakten Wortlaut der Abschnitte aus
Freddy Robertsons Website-Artikel, die der Detective Inspector
las.
Hat nicht Sigmund Freud gesagt, dass jedes
menschliche Wesen über einen Todestrieb verfügt? In jedem Menschen
liefert sich der böse Thanatos eine endlose Schlacht mit Eros, dem
Lebenstrieb. Und Freud zufolge dominiert immer das Böse. Im Leben
muss es Tod geben.Töten ist ein natürliches Bedürfnis von uns. Die
Frage lautet nicht, ob wir töten, sondern, wie wir es tun.
UnserVerstand sollte den Urinstinkt verfeinern, ihm einen Grund und
einen Zweck verleihen. Ohne einen Zweck hat der Akt des Tötens
keine Bedeutung.
Das blinkende grüne Licht auf dem Anrufbeantworter
sorgte bei Cooper ausnahmsweise einmal für einen kleinen Anflug von
Freude, als er seine Wohnung betrat. Er drückte den Knopf und hörte
die Nachricht ab, bevor er sein Jackett auszog und sich der Katze
zuwandte.
»Ah, ja«, sagte die Stimme. »Hier spricht
Robertson.«
Cooper erstarrte mitten im Zimmer. Robertson?
Professor Robertson? Er musste es sein, doch seine Stimme
klang ziemlich verändert. Sie hatte jegliche Herzlichkeit verloren.
Auch seine Arroganz und Selbstgefälligkeit waren verschwunden.
Stattdessen klang er müde und niedergeschlagen.
»Ich, äh... das heißt, es gibt da etwas, was ich
Ihnen erzählen muss«, sagte Robertson. »Hoffentlich haben Sie
nichts dagegen, dass ich Sie zu Hause anrufe, aber Sie haben mir
Ihre Privatnummer gegeben. Und, na ja, es gibt
etwas...«
Dann folgte eine Pause. Cooper lauschte, ob
irgendwelche Hintergrundgeräusche zu hören waren, wie er es auch
bei den Aufnahmen des anonymen Anrufers getan hatte. Doch es
herrschte Stille. Kein Verkehrslärm, keine Stimmen, die zu den
ersten Zeilen von »Abide With Me« anhoben. Nur das leise Pfeifen
des Atems des Professors, langsam und unsicher.
»Seltsamerweise ist es die eine Sache, über die wir
nie gesprochen haben«, sagte Robertson. Und jetzt war wieder eine
Spur von seinem alten Selbst zu erkennen, von jenem Mann, dem
Cooper so ausgiebig zugehört hatte. Er war nur ansatzweise zu
erkennen, aber er war da: der unterschwellige, beißende Spott, der
ihm nur allzu vertraut geworden war.
Er ging zum Anrufbeantworter, weil er glaubte, die
Nachricht sei zu Ende. Doch dem war nicht so. Eine Sache hatte der
Professor noch zu sagen.
»Sie brauchen mir nicht einmal die richtige Frage
zu stellen«, sagte er. »Diese Information ist gratis. Das bin ich
Ihnen schuldig.«
Cooper spielte die Aufnahme noch einmal ab. Der
Professor klang gar nicht gut. Nicht mehr nur exzentrisch oder
verschroben, sondern verstört. Er klang, als stünde er kurz davor,
die Nerven zu verlieren.
Der Anruf war vor über einer Stunde eingegangen,
als Cooper sich noch mit Tom Jarvis unterhalten hatte. Doch
Robertson hatte seine Telefonnummer nicht hinterlassen. Vermutlich
hatte er es einfach vergessen, so verwirrt, wie er wirkte. Cooper
rief die Rufnummernauskunft an, doch eine Tonbandstimme sagte ihm,
dass der Anrufer seine Nummer unterdrückt habe. Er hatte beinahe
den Eindruck, als verhöhnte der Professor ihn noch immer. Ich
muss Ihnen etwas sagen. Aber Sie werden nie in der Lage sein, mich
zu fragen, was es ist. Ah, was für ein Spaß. Er fragte sich, ob
Robertson an seinem Telefon ständig die Nummernunterdrückung
eingestellt hatte oder ob er sie nur für diesen Anruf benutzt
hatte, um Cooper das Leben schwer zu machen.
Wie auch immer, Cooper fand die Nummer des
Professors schließlich in seinem Notizbuch. Doch bevor er ihn
zurückrief, spielte er die Nachricht ein zweites Mal ab, lauschte
genau der Stimme und versuchte zu beurteilen, ob sie ernst klang,
welche Emotionen ihr zu Grunde lagen und wie labil der Professor
geworden war. Kopfschüttelnd wählte er die Nummer.
Zwanzig Meilen entfernt, in einem renovierten
edwardianischen Haus am Stadtrand von Sheffield, begann Freddy
Robertsons Telefon zu klingeln. Doch die Eichen-Eingangstür hatte
sich bereits geschlossen, der Schlüssel hatte sich im Schloss
gedreht, und ein Auto war auf der Zufahrt angelassen worden. Das
Haus war leer.
Und jetzt war Ben Cooper an der Reihe, eine
Nachricht auf einem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Er sprach ins
Leere.
Die meisten Restaurants in der High Street waren
am Montagabend geschlossen. Die Pubs hatten geöffnet, waren jedoch
voller minderjähriger Trinker. Um diese Zeit würde er nirgendwo
ohne weiteres etwas zu essen bekommen außer bei McDonald’s. Aber
ein Happy Meal würde seine Arterien ja nicht gleich verstopfen,
oder?
Cooper erkannte den Mitarbeiter, der hinter der
Theke bediente, nicht sofort. Vielleicht hatte er sich von der
Uniform und der Schildmütze, dem Firmenimage, in die Irre führen
lassen.
»Sie sind doch Ben Cooper, habe ich recht?«, sagte
der junge Mann, nachdem er die Bestellung durchgegeben und kassiert
hatte.
»So ist es.«
Cooper sah genauer hin. Er hatte ein gutes
Gedächtnis für Gesichter, und dieses kam ihm irgendwie bekannt vor.
Gegeltes Haar mit blonden Strähnen, ein Stoppelbart, eine Nase, die
vermutlich schon einmal gebrochen gewesen, aber wieder gut verheilt
war. Die Augen waren es, die ihm bekannt vorkamen, als er sich die
Mühe machte, den jungen Mann genauer zu betrachten. Vielleicht
hatte er ihn irgendwann in der Vergangenheit einmal
verhaftet?
»Tut mir leid«, sagte Cooper. »Ich weiß, dass ich
Sie irgendwoher kenne, aber ich kann mich nicht mehr erinnern,
woher.«
»Ich bin Nick Summers. Mein Dad ist ein Freund von
Ihrem Bruder Matt.«
»Ja, natürlich. Ihr Vater arbeitet für den
Agrarhandel. Sie waren ein paar Mal mit ihm auf der Farm, nicht
wahr? Aber ich dachte, ich hätte gehört, dass Sie auf die
Universität gegangen sind.«
Der junge Mann sah auf, als sich die Tür öffnete.
Aber es waren nur zwei Gäste, die hinausgingen. Er entspannte sich
wieder und lehnte sich auf die Theke.
»Ich habe diesen Sommer meinen Abschluss gemacht.
Ich habe jetzt einen Bachelor of Science in Umweltschutz und
Ökologie von der Universität Leicester.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
Cooper beobachtete die Teenager, die mit ihren
Colas und ihren Pommes frites an einem Tisch in der Ecke saßen, und
lauschte dem Lachen, das aus der Küche kam. Dort erblickte er zwei
weitere junge Männer mit roten Baseballkappen, die
Burgerverpackungen öffneten.
»Und, was haben Sie für Pläne, Nick?«
»Oh, ich warte darauf, dass mir der richtige Job
über den Weg läuft. In der Zwischenzeit verdiene ich meinen
Lebensunterhalt, indem ich hier arbeite. Das ist gar nicht so übel.
Die wollten mich sogar befördern, aber das brauche ich eigentlich
nicht. Irgendwas wird in nächster Zeit schon auftauchen, das meinen
Qualifikationen entspricht.«
Der Geräuschpegel stieg abrupt an, als eine Gruppe
von Gästen aus dem Pub auf der anderen Straßenseite hereinkam. Nick
richtete sich auf und ging zurück zur Kasse. Cooper nahm sein Essen
in Empfang und suchte sich einen Tisch.
»Viel Glück«, sagte er.
Während Cooper seinen Burger aß, beobachtete er,
wie Nick Summers Gäste bediente. Er schien für den Job geboren zu
sein. Es spielte überhaupt keine Rolle, über welche akademischen
Qualifikationen er verfügte oder nicht, solange er eine Uniform
tragen und die Kasse betätigen konnte.
Cooper erinnerte sich an einen seiner eigenen
Ferienjobs als Teenager, bei dem er Wohnwagen mit einem Eimer
Seifenlauge und einer langen Bürste gewaschen hatte. Er hatte
damals eifrig gelernt und war fest entschlossen gewesen, sein
Vorhaben, zur Polizei zu gehen, in die Tat umzusetzen. Trotzdem war
er dankbar für das Trinkgeld der Touristen gewesen, die ihn wie
einen Dorftrottel behandelt hatten. Er hatte sich nie die Mühe
gemacht, sie davon abzubringen.
Die Pommes frites hatten besser gerochen, als sie
schmeckten. Cooper verteilte etwas Tomatenketchup auf ihnen, um
auszuprobieren, ob das etwas half. Die Sauce war dick und
aromatisch, und ein Teil davon blieb ihm an den Fingern
kleben.
Das war das Problem mit vorgefassten Meinungen: Sie
ermöglichten es den Leuten, sich für jemand völlig anderen
auszugeben, ohne sich wirklich anstrengen zu müssen.
Dieser Gedanke rief Cooper den Präparationsraum bei
Hudson und Slack in Erinnerung. Er stellte sich vor, wie ein
nackter Leichnam auf dem Tisch lag und Blut aus einer Vene lief,
während stattdessen Korrosionsmittel hineingepumpt wurde. Er dachte
an einen Leichnam, durch dessen Gewebe Formaldehyd floss, das
Proteine gerinnen ließ und Muskelzellen verhärtete, in die Organe
eindrang und den Prozess des Todes stoppte wie eine Hand, die eine
Uhr anhält. Und trotzdem war es in gewisser Weise noch immer ein
Mensch, der dort auf dem Tisch lag, jemand, der Jahre jünger aussah
als noch ein paar Tage zuvor. Viele Jahre jünger.
Wenn ein Leichnam für die Hinterbliebenen
präpariert wurde, formte der Balsamierer ein Gesicht, wie es auch
die forensische Rekonstrukteurin getan hatte, um ein Abbild von
Audrey Steele zu erschaffen. Tote Gesichter erschlafften und
wirkten grimmig, deshalb mussten sie wieder in Form gebracht
werden, damit die Verwandten zufrieden waren. Es galt, den Mund zu
modellieren, das Haar zu kämmen, Make-up aufzutragen.
Entleert, ausgestopft und geschminkt. So hatte
Professor Robertson es genannt. Doch auch ohne das Entleeren und
Ausstopfen – wer die Toten lebendig aussehen lassen konnte, wäre
sicher in der Lage, auch sein eigenes Aussehen mit Hilfe von
Make-up zu verändern, zumindest weit genug, um einen flüchtigen
Betrachter in die Irre zu führen. Hudson und Slack hatten ein
ganzes Sortiment von Flüssigkeiten, Cremes und Pudern auf Lager.
Eine geübte Hand könnte leicht den Teint verändern, die Wangen
fülliger oder schmaler erscheinen lassen, ein Doppelkinn verbergen
oder die Augenlider straffen.
Dann erinnerte sich Cooper daran, was Madeleine
Chadwick über den Mann gesagt hatte, der aufgetaucht war und die
Gebeine in der Alder-Hall-Gruft hatte sehen wollen, den Mann, über
dessen Alter sie sich so unsicher gewesen war. Eigentlich hätte
Mrs. Chadwick seinen Geruch erkennen müssen, doch sie hatte diesen
Geruch nicht an einem Mann erwartet. Vermutlich hatte sie ihn eher
mit einem Besuch im Schönheitssalon in Verbindung gebracht.
Vielleicht hatte es sich um eine Mischung aus Alkohol, Öl, Wachs
und Glyzerin gehandelt, die auf Kosmetikcremes und Massageöle
zurückzuführen war.
Cooper wartete, bis Nick Summers frei war, und ging
zur Theke zurück. »Umweltschutz und Ökologie?«, sagte er. »Sie
kennen nicht zufällig eine Pflanze, die aussieht wie ein drei Meter
hoher Wiesen-Kerbel mit violettem Stamm?«
Als Cooper in seiner Wohnung ankam, überprüfte er
abermals den Anrufbeantworter, dann schaltete er seinen Computer an
und recherchierte bei Google, um herauszufinden, ob Nick
Summers’Vermutung richtig war. Ja, es schien sich tatsächlich um
die Pflanze zu handeln, die er gesehen hatte. Riesen-Bärenklau. Ein
scheußliches Gewächs.
Der Cheeseburger, den er gegessen hatte, lag ihm im
Magen, als er auf die Website einer der großen
Internetbuchhandlungen ging und nach Beatrix Potters The Tale of
Mr.Tod suchte. Professor Robertson hätte ihm ganz sicher sagen
können, welche Bedeutung das deutsche Wort »Tod« im Buchtitel
hatte, wenn er ihn danach gefragt hätte. Vermutlich kannte er das
Wort Tod in fünfunddreißig Sprachen.
Doch als der Einband des Buches auf dem Bildschirm
erschien, starrte Cooper es ein paar Sekunden lang an und schlug
sich dann gegen die Stirn.
»Was bin ich doch für ein Idiot«, sagte er. »Das
hat man davon, wenn man besonders schlau sein will.«
Der Einband zeigte eine klassische Illustration von
Beatrix Potter: einen Fuchs, der mit einem langen Schal und einer
Wildererjacke bekleidet war und über eine Steinmauer
kletterte.
»Wenn ich das morgen früh Diane erzähle.«
Da niemand anderer da war, hielt Cooper nach seinem
Kater Ausschau, um ihm seine Erkenntnis mitzuteilen. »Das deutsche
Wort hat natürlich nichts zu bedeuten. Aber dieses...«
Er hielt inne, warf noch einmal einen Blick auf den
Bildschirm und erinnerte sich daran, dass er versucht hatte, Freddy
Robertson anzurufen. Der Professor war heute Abend nicht zu
Hause.
»Oh, Scheiße«, sagte Cooper. »Er ist
hingefahren.«
Freddy Robertsons BMW stand nicht auf der Zufahrt
vor seinem Haus, und niemand reagierte, als sie an der Tür
klingelten.
»Okay, dann öffnen wir sie eben«, sagte Hitchens.
»Ohne zu viel kaputt zu machen, wenn es sich vermeiden
lässt.«
Fry sah zu, wie die Eichentür aufgebrochen wurde.
Ihr war es ziemlich egal, ob sie dabei beschädigt wurde. Eigentlich
hoffte sie sogar, dass die Mosaikfliesen im Hausflur springen und
die Mahagoni-Balustraden splittern würden. Versehentlich
natürlich.
Sie folgte ihren Kollegen ins Haus, die alle Zimmer
kontrollierten, um sicherzugehen, dass sich niemand darin aufhielt.
Sie selbst suchte nach dem Keller, von dessen Existenz sie
überzeugt war. Den Anblick der Gruft auf Alder Hall hatte sie noch
deutlich vor Augen – die unauffällige Tür im Hausflur, die
Steinstufen hinunter in die Dunkelheit, der Geruch von feuchter
Erde.
Zunächst entdeckte sie nichts und glaubte schon
fast, sich getäuscht zu haben. Doch dann wurde ihr bewusst, dass
sie nach dem Falschen suchte. Sie verdrängte Alder Hall aus ihren
Gedanken, ging in die Küche und hob einen Teppich an, der auf dem
Fliesenboden lag. Und da war die Falltür.
Sie rief nach Unterstützung, um den Teppich
zurückzuschlagen, dann klappte sie den Messingring hoch, der ins
Holz eingelassen war. Die Scharniere bewegten sich butterweich,
obwohl die Tür stabil und schwer war. Als sie sie ganz geöffnet
hatten, wurden Holzstufen sichtbar, die in die Tiefe führten. Fry
konnte den Geruch, der aus der Öffnung aufstieg, nicht genau
einordnen. Er war nicht feucht und erdig wie in ihrer Erinnerung,
sondern irgendwie süßlich. Unangenehm süßlich.
Fry sah sich um. Doch diesmal brauchte sie nicht zu
fragen. Es wurden bereits Lampen gebracht. Viele Lampen.
Cooper traf niemanden an, der ihn von der Tür von
Greenshaw Lodge aus beobachtete. Im Haus war es dunkel, und als er
in der Nähe der Stufen anhielt, konnte er im Scheinwerferlicht
sehen, dass die Hintertür offen stand.
Er nahm seine Taschenlampe aus dem Handschuhfach,
klopfte an die Eingangstür und klingelte. Dann folgte er dem Weg
zur Hintertür und klopfte an die Glasscheibe. In der Küche waren
schimmernde weiße Umrisse zu erkennen – Kühlschrank, Herd,
Waschmaschine. Doch weiter hinten im Haus war es vollkommen
dunkel.
»Hallo? Hier ist Detective Constable Cooper. Ist
jemand zu Hause? Mr. Slack?«
Keine Antwort. Die Slacks hatten keinen Hund,
deshalb war auch kein Bellen zu hören, wie es bei Tom Jarvis der
Fall gewesen wäre.
Die offene Tür genügte ihm als Einladung, das Haus
zu betreten. Die nächtliche Stunde, das ungesicherte Haus und die
Abwesenheit der Bewohner würden seine Nachforschungen
rechtfertigen. Trotzdem zögerte Cooper. Er tastete die Wand hinter
der Tür ab und fand zwei Lichtschalter. Einer davon setzte eine
Außenlampe in Gang, die über seinem Kopf am Mauerwerk angebracht
war. Er fuhr herum, weil er überzeugt war, hinter sich eine
plötzliche Bewegung wahrgenommen zu haben. Doch es war nur das
Licht, das die Schatten unter die Bäume vertrieb.
Einen Augenblick lang betrachtete er den Garten und
das angrenzende Feld. Er bemerkte Motorradspuren, die durch ein Tor
und über das Feld in den Wald führten.
Cooper drehte sich wieder zu der Tür um und
probierte noch einmal den anderen Lichtschalter aus, doch nichts
passierte. Die Beleuchtung in der Küche funktionierte nicht. Er
schwenkte den Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch das Zimmer und
erspähte das Glitzern von Glas auf dem Boden. Als er den Strahl zur
Decke richtete, sah er, dass die Glühbirne wie eine große, blasse
Blase zerplatzt war. Ihr Aluminiumsockel steckte noch in der
Fassung, aber die Glasscherben waren über den Fliesenboden
verstreut. Er konnte nicht beurteilen, wann es passiert war, aber
seitdem war mit Sicherheit niemand mehr im Haus gewesen. Wenn die
Slacks da gewesen wären, hätten sie die Scherben zusammengekehrt.
Niemand ließ Glasscherben am Boden liegen, oder?
Er hatte noch immer das Gefühl, irgendetwas
übersehen zu haben, und schwenkte seine Taschenlampe noch einmal
langsamer durch den Raum. Und diesmal sah er es: eine Ansammlung
schwarzer Flecken an der Decke, die sich in der Ecke bei der Tür
einen guten halben Meter an der Wand nach unten zogen. Es sah aus,
als habe die Küche plötzlich Windpocken bekommen. Unterhalb der
Flecken lag abgebröckelter weißer Putz auf der Arbeitsplatte und
auf dem Kühlschrank.
Cooper griff zu seinem Handy und forderte
Verstärkung an. Während er die Adresse durchgab, ließ er den Strahl
seiner Taschenlampe durch die Küche zurückwandern. Er zeichnete
einen Bogen von den Flecken auf dem Putz nach, der vorbei an der
zersplitterten Glühbirne und bis zur Tür zum Flur führte, wo er auf
den unteren Teil des Treppengeländers traf. Dort ließ er den
Lichtstrahl einen Moment lang ruhen, während er sich das zuckende,
von Panik ergriffene Ziel vorstellte, das ohrenbetäubende Krachen
im Haus, den Gestank der Pulverladung. Ungefähr dort am Fuß der
Treppe musste jemand gestanden haben, als die Schrotflinte
abgefeuert worden war.