30
Fry hatte nicht Ausschau gehalten, ob Ben
Cooper an diesem Morgen zum Dienst erschien. Über Nacht war ein
festgenommener Mann in eine der Zellen gebracht worden, und sie
hatte sich mit dem zuständigen Sergeant wegen der
Vernehmungsmodalitäten beraten.
Als sie durch die Sicherheitstür des Zellentrakts
trat, um zurück ins Hauptgebäude zu gehen, blieb sie kurz stehen
und schlug ihren Kragen hoch, um sich vor dem Platzregen zu
schützen. Dann warf sie einen Blick über den Mitarbeiterparkplatz.
Ein Lichtstrahl, der von einer Windschutzscheibe reflektiert wurde,
als ein Wagen rückwärts in eine Parklücke fuhr, hatte ihre
Aufmerksamkeit erregt. Sie erkannte Coopers roten Toyota und
zögerte, mit der Absicht, auf ihn zu warten, damit sie zusammen in
die Einsatzzentrale hinaufgehen konnten. Sie sah Cooper aussteigen,
doch er blickte sich nicht um.
Dann ging die Beifahrertür auf, und Fry bemerkte,
dass er jemanden zur Arbeit mitgenommen hatte. Er war der Inbegriff
des guten Samariters. Wahrscheinlich hatte Gavin Murfins Wagen den
Geist aufgegeben, und Cooper war sofort zur Stelle gewesen, um zu
helfen.
Als sie gerade weitergehen wollte, erhaschte sie
einen Blick auf blondes Haar und einen marineblauen Pullover.
Coopers frühmorgendlicher Passagier war nicht so gebaut, um Gavin
Murfin sein zu können. Vollkommen anders. Das Bild von einem
kaputten Auto verschwand aus ihren Gedanken und wurde von einem
völlig anderen Szenario ersetzt.
Fry hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren,
als sie den Weg nach oben fortsetzte. Sie versuchte, sich zu
erinnern, um welche weiteren wichtigen Angelegenheiten sie sich
kümmern musste, ehe sie das Gelände verließ. Irgendetwas gab es
bestimmt. Vermutlich sogar mehrere Dinge. Auf jeden Fall wollte sie
die Skelette in der Alder-Hall-Gruft überprüfen lassen. John Casey
hatte gesagt, dass bereits früher einmal eine Bestandsaufnahme der
Gebeine gemacht worden war, die sich als äußerst hilfreich erweisen
müsste.
»Alder Hall? Oh, ich glaube, da kann ich Ihnen
weiterhelfen«, sagte Dr. Jamieson, als Fry ihn anrief. »Die
Untersuchung, die Sie meinen, wurde von einem meiner Vorgänger
durchgeführt. Der Bericht müsste sich hier in unserem Archiv
befinden.«
»Das wäre fantastisch. Aber sind Sie sich
sicher?«
»Ich kann gleich nachsehen. Ich rufe Sie so schnell
wie möglich zurück.«
Als Cooper den Raum betrat, merkte er sofort, dass
irgendetwas nicht stimmte. Es lag eine Beklommenheit in der Luft,
die sich nur schwer bestimmen ließ. Er warf Fry einen Blick zu und
sah, wie sie den Telefonhörer auflegte. Ihr angespannter
Gesichtsausdruck bestätigte seinen Verdacht.
»Letzte Nacht hat es einen Zwischenfall im
Bestattungsunternehmen gegeben«, berichtete Fry, ohne sich die Mühe
zu machen, »guten Morgen« zu sagen.
Cooper sah verwirrt auf seine Armbanduhr. Es konnte
nicht daran liegen, dass er zu spät zum Dienst erschienen war.
Genau genommen war er sogar etwas zu früh dran. Er spürte
Verärgerung über ihre Unhöflichkeit in sich aufsteigen.
»Ein Zwischenfall? Bei Hudson und Slack, meinst
du?«
»Wo denn sonst?«
»Na ja, ich weiß nicht«, erwiderte er. »In dieser
Division gibt es noch jede Menge andere
Bestattungsunternehmen.«
Fry musterte ihn mit einem kühlen Blick. »Ja, bei
Hudson und Slack. Eine oder mehrere unbekannte Personen haben dort
in den frühen Morgenstunden einen Brand gelegt. Die Feuerwehr
spricht von erheblichem Sachschaden. Ich war noch nicht dort. Ich
dachte, du möchtest vielleicht mitkommen – das heißt, wenn du nicht
mit irgendwas anderem beschäftigt bist.«
»Womit sollte ich beschäftigt sein?«
»Na ja, ich weiß nicht. In dieser Division gibt es
noch jede Menge andere laufende Ermittlungsverfahren.«
Cooper seufzte. »Okay, Diane. Ging es in dem Anruf
darum?«
»Nein. Ob du’s glaubst oder nicht, das war ein
hilfsbereiter Anthropologe. Wenn wir Glück haben, kann er uns einen
Bericht über die Knochensammlung auf Alder Hall liefern.«
»Da könnten wir tatsächlich von Glück reden.«
»Das erste Mal bislang.«
»Also, ich muss sagen, dass diese Knochen für mich
ziemlich alt ausgesehen haben«, sagte Cooper. »Wenn ein neuerer
menschlicher Schädel von den sterblichen Überresten aus dem
Ravensdale-Tal dabei wäre, würde er auffallen, oder?«
»Bist du neuerdings ein Experte? Hast du etwa mehr
von deinem Freund, dem Professor, gelernt, als wir dachten?«
Cooper schüttelte den Kopf, um seine Verärgerung
loszuwerden. »Wenn der Bericht stimmig ist, könnte das bedeuten,
dass wir Dr. Jamieson und sein Team gar nicht bitten müssen, sich
die Knochen anzusehen. Dann könnten wir Kosten einsparen.«
»Und, Hokuspokus, alle sind glücklich«, sagte
Fry.
Doch Cooper betrachtete sie nachdenklich. Sie sah
alles andere als glücklich aus.
»John Casey zufolge wurden die Knochen irgendwo auf
dem Grundstück des Herrenhauses gefunden«, sagte sie. »Denkst du,
Mrs. Chadwick weiß, wo genau?«
»Schon möglich.«
»Dann frag sie.«
»Okay.«
Er warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Arbeit
wartete auf ihn. Falls irgendetwas davon wirklich dringend war –
tja, dann musste es eben warten, es sei denn, er konnte ein paar
Minuten entbehren. Doch Fry war noch nicht fertig.
»Ben, du glaubst doch nicht etwa, dass die
Alder-Hall-Gruft das ist, was er mit ›Todesstätte‹ meint, oder?«,
fragte sie.
»Es ist nur so ein Gefühl. Das würdest du
vielleicht nicht verstehen.«
»Versuch es doch mal.«
»Ich hatte das Gefühl... Na ja, als ich da unten
war, hatte ich den Eindruck, dass dieser Ort schon zu lange tot
ist. Ergibt das einen Sinn?«
Fry starrte ihn an, als versuchte sie tatsächlich,
ihn zu verstehen. »Das ist alles?«
»Tut mir leid.«
Cooper zog seine Jacke wieder an, und sie verließen
das Gebäude. Er wollte Fry gegenüber nicht zugeben, was er wirklich
dachte. Es hatte etwas damit zu tun, was Freddy Robertson zu ihm
gesagt hatte, als er den Zweck eines Sarkophags und eines
Beinhauses erklärt hatte und die Rituale, die damit in Zusammenhang
standen.
Die Erinnerung war zurückgekehrt, als er in der
Gruft von Alder Hall gestanden hatte. Einen Augenblick lang hatte
Cooper das Gefühl gehabt, zu verstehen, woran seine frühen
Vorfahren instinktiv geglaubt hatten. Die Knochenhaufen in der
Gruft waren vollkommen sauber und trocken gewesen, frei von den
letzten Fleischfetzen, die einst an ihnen gehangen hatten. Wenn es
die Bruchstücke einer physischen Struktur waren, die die Seele im
Körper festhielten, dann waren die Geister, die über diesen Knochen
schwebten, längst verschwunden.
»Übrigens«, sagte Fry im Wagen, »ich habe
angefangen, Nachforschungen zu John Caseys Hintergrund
anzustellen.«
»Der Immobilienmakler? Warum?«
»Na ja, die sterblichen Überreste von beiden Toten
wurden auf dem Grundstück von Alder Hall gefunden. Zugegebenermaßen
waren sie näher am Haus von Mr. Jarvis als am Herrenhaus, aber das
liegt nur an der Größe des Anwesens. Casey ist derjenige, der
unmittelbar verantwortlich für das Anwesen ist, und er hat
uneingeschränkten Zugang. Sobald man sich innerhalb der Tore
befindet, bleibt alles, was man tut, vor den Augen der
Öffentlichkeit verborgen. Das gilt nicht für jemanden, der sich vom
Ravensdale-Tal aus nähert, wo es Anwohner in den Cottages und
Wanderer auf dem Fußweg gibt.«
»Von den Jarvis’ und ihren Hunden ganz zu
schweigen.«
»Genau.«
»Na ja, John Casey mag zwar nicht der beste
Immobilienmakler der Welt sein, aber mir kam er eher inkompetent
als kriminell vor.«
»Findest du nicht, dass er unsere Aufmerksamkeit
recht schnell auf Maurice Goodwin und seine Rolle auf Alder Hall
lenken wollte? Meiner Ansicht nach war das schon sehr
praktisch.«
»Tatsächlich?«
»Sieh mal, Goodwin hat die Firma vor drei Monaten
verlassen. Und zufälligerweise hat Casey seitdem noch keine
Vorkehrungen getroffen, dass jemand anderer regelmäßig auf Alder
Hall nach dem Rechten sieht? Und zufälligerweise hat er noch keinen
Ersatz für Goodwin gefunden? Warum nicht? Was ist so besonders an
diesem Job, dass er mit keinem der Bewerber zufrieden war?«
»Ich weiß nicht, Diane, was vermutest du?«
»Ich frage mich, ob Casey Maurice Goodwin als
Sündenbock benutzt hat, der immer schuld war, wenn irgendwas
schiefgegangen ist. Auf jeden Fall wüsste ich gern, warum Goodwin
gekündigt hat.«
»Persönliche Konflikte, laut Mr. Casey.«
»Das bedeutet in der Regel ein handfester Streit
mit dem Boss. Was ist, wenn John Casey Goodwin absichtlich in eine
Position manövriert hat, in der er zu dem Schluss gekommen ist,
dass er die Schnauze voll hat, und gekündigt hat?«
»Und Casey damit auf dem Anwesen freie Hand
hatte?«
»Ja.«
»Aber freie Hand wofür, Diane? Um Leichen im
Unterholz zu entsorgen?«
»Oder um jemand anderem die Gelegenheit dazu zu
geben.«
»Das wäre ganz schön riskant«, sagte Cooper. »Was
wäre denn, wenn ein Kaufinteressent vorbeikäme, um sich das
Grundstück anzusehen? Außerdem hätte es auf dem Anwesen plötzlich
von Gutachtern und Bauarbeitern wimmeln können.«
»Nicht ohne Vorwarnung. Casey ist der Mann mit den
Schlüsseln, wenn du dich erinnerst. Außerdem ist das Herrenhaus
seit zwei Jahren auf dem Markt. Ich wette, das Angebot an
Kaufinteressenten ist längst erschöpft.«
»Zwei Jahre, das stimmt...« Cooper rechnete nach.
»Und ich wette, dass derjenige, der Audrey Steeles Leichnam
beseitigt hat, gehofft hat, dass sich nie ein Käufer für das
Herrenhaus findet und dass das Anwesen immer mehr verwahrlost.
Dabei hat er allerdings übersehen, dass das ›allgemeine Wegerecht‹
Spaziergängern jetzt freien Zutritt ermöglicht.«
»Mich würde interessieren, ob Casey jemals den
Vorschlag gemacht hat, mit dem Preis für das Anwesen
runterzugehen«, sagte Fry.
»Warum?«
»Na ja, das würde ein Makler doch normalerweise
tun, wenn er keinen Käufer findet. Er würde dem Verkäufer
empfehlen, ein bisschen weniger zu verlangen. Wenn man sich
weigert, den Preis zu senken, entsteht der Eindruck, als würde man
es mit dem Verkauf nicht ernst meinen.«
»Du scheinst dich ja plötzlich ziemlich gut auf dem
Immobilienmarkt auszukennen, Diane. Ich dachte, du hättest nie
selber ein Haus besessen. Du hast doch auch nur eine Wohnung
gemietet, genau wie ich.«
»Ich habe nicht immer in Derbyshire gewohnt. Bevor
ich hierher gezogen bin, habe ich in der Zivilisation
gelebt.«
Fry wandte sich ab und sah zum Fenster des Wagens
hinaus, als hätten ihre Gedanken bereits begonnen
abzuschweifen.
»Tja, wenn Alder Hall die ›Todesstätte‹ ist«, sagte
Cooper, »dann hatte John Casey zumindest in einem Punkt
recht.«
»Und der wäre?«
»Dass es sich nicht um einen gewöhnlichen
Hausverkauf handelt.«
Er lachte und warf Fry einen Blick zu. Doch ihr
Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Sie war irgendwohin
abgedriftet, an einen Ort, an dem es nicht viel zu lachen
gab.
Der Parkplatz von Hudson und Slack war leer,
abgesehen vom Kleintransporter der Brandermittlung und zwei
Polizeifahrzeugen. Als Cooper und Fry die Straße entlangfuhren,
schien das Gebäude auf den ersten Blick nicht beschädigt zu sein.
Das Schild über dem Eingang war intakt und behauptete noch immer,
dass es sich bei Hudson und Slack um einen zuverlässigen
Familienbetrieb handelte. Erst als sie neben einem der
Streifenwagen parkten, sahen sie die geschwärzten Wände und die
zersplitterten Fensterscheiben. Der Parkplatz war überflutet, doch
es war schwer zu beurteilen, wie viel von dem Wasser Regen war und
wie viel aus den Schläuchen der Feuerwehr stammte.
»Der Schaden ist beträchtlich, beschränkt sich
allerdings auf die Büroräume und einen Lagerraum«, sagte der
Brandermittler und wischte sich Ruß von seiner fluoreszierenden
Jacke. »Glücklicherweise sind die Innentüren alle ziemlich stabil
und mit einem automatischen Schließmechanismus versehen. Sie haben
den Flammen standgehalten, bis das erste Löschfahrzeug vor Ort war
und das Feuer in etwa einer halben Stunde unter Kontrolle bringen
konnte.«
»Und es besteht kein Zweifel, dass es sich um
Brandstiftung handelt?«
»Nicht der geringste. Die Hintertür wurde
aufgestemmt, und im Lagerraum sind überall Spuren eines
Brandbeschleunigers. Das Feuer hat sich einen bis eineinhalb Meter
von der Türöffnung entfernt entzündet. Bei dem Fahrzeug ist es eine
ähnliche Geschichte.«
»Fahrzeug?«
Er deutete auf den Hof hinter dem Gebäude. »Dort
steht ein ausgebrannter Leichenwagen. Ihre Brandstifter haben die
Windschutzscheibe eingeschlagen, Beschleuniger reingekippt und ihn
angezündet. Ich habe auf dem Vordersitz die Reste eines
Plastik-Benzinkanisters gefunden.«
»Das könnte uns weiterhelfen.«
Der Ermittler lächelte. »Plastik hält den Flammen
nicht besonders gut stand, also ist es nur noch ein geschmolzener
Klumpen. Aber Sie dürfen ihn gerne haben. Ich bezweifle allerdings,
dass Ihnen die Spurensicherung viel sagen kann, außer dass er grün
ist.«
»Grün? Hat das irgendwas zu bedeuten?«
»Tja, wenn sie sich an die Vorschriften gehalten
haben, müsste bleifreies Benzin drin gewesen sein.«
Vom Gebäude bis zum Zaun erstreckten sich zwei
Bahnen Tatort-Absperrband, und ein uniformierter, mit einer
wasserdichten Jacke bekleideter Polizist stand mit einem Klemmbrett
daneben und bewachte den abgesperrten Bereich. Man hörte ein Husten
und das Prasseln eines Trümmerhagels, als durch die beschädigte Tür
eine Mitarbeiterin der Spurensicherung auftauchte. Cooper stellte
erfreut fest, dass es sich um Liz Petty handelte. Nun ja, in
Anbetracht der derzeitigen Belegschaftszahlen hatten die Chancen
fünfzig zu fünfzig gestanden, dass sie zum Tatort gerufen
wurde.
Petty lächelte, dann warf sie einen Blick auf Fry
und senkte den Kopf, um sich mit einer behandschuhten Hand Ruß aus
dem Gesicht zu wischen.
»Kein Geheimnis, was hier passiert ist«, sagte
sie.
»Das haben wir schon gehört«, erwiderte Fry. »Aber
Sie können doch sicher noch was hinzufügen.«
Petty blinzelte leicht, vermied jedoch sorgsam,
irgendjemandem in die Augen zu sehen. Sie deutete auf den Zaun.
»Auf diesem Weg haben sich die Eindringlinge Zugang zum Grundstück
verschafft. Sie haben den Zaun zerschnitten und sind von den
Bahngleisen aus über die Mauer geklettert.«
Cooper ging zur Mauer und blickte zu den
Bahngleisen hinunter. »Auf der anderen Seite der Gleise befinden
sich einige Gewerbebetriebe.«
»Überwachungskameras?«, fragte Fry.
»Ein paar, aber die decken nur die jeweiligen
Grundstücke ab. Es gibt keinen Grund, warum man hierher eine Kamera
richten sollte.«
»Wir müssen rausfinden, ob dort irgendwo
Nachtschicht gearbeitet wurde.«
Petty ließ die Hand über die Türzarge gleiten. »Ich
habe an der Tür ein paar ziemlich gute Werkzeugspuren gefunden.
Aber vermutlich haben sie nur ein gewöhnliches Stemmeisen oder eine
gewöhnliche Brechstange benutzt.«
»Warum geht diese Tür nach außen auf?«, fragte
Fry.
»Weil es sich ironischerweise um einen Notausgang
handelt.«
»Und in dem Lagerraum wurde Beschleuniger
verwendet?«
»Ja, und zwei Innentüren wurden aufgebrochen.
Übrigens, ich möchte die Türen ausbauen und ins Labor bringen
lassen.«
»Wozu?«
»Tja, Ihre Eindringlinge waren in Eile, also haben
sie sich nicht die Mühe gemacht, die Innentüren aufzustemmen – sie
haben sie einfach eingetreten. Ich bin ziemlich sicher, dass auf
den Türblättern Fußabdrücke sind. Aber bei den Schäden, die das
Feuer angerichtet hat, müssen wir sie im Labor untersuchen, um
irgendwas Brauchbares zu finden.«
»Du sagst immer ›sie‹«, stellte Cooper fest. »Wie
kommst du darauf, dass mehr als eine Person hier war?«
Petty zuckte mit den Schultern. »Na ja, es gibt
keinen direkten Beweis, es sei denn, wir finden zwei
unterschiedliche Fußabdrücke auf den Türen. Aber sie haben sich
hier nicht lange aufgehalten. Die Feuerwehr sagt, dass bereits zehn
Minuten nach dem Alarm eine Mannschaft hier war. Ich würde sagen,
sie waren zu zweit, möglicherweise sogar zu dritt. Zwei haben die
Türen aufgebrochen, während der Dritte das Benzin verteilt hat.
Dann haben sie das Gebäude schnell wieder verlassen, ein
Streichholz oder einen brennenden Lumpen reingeworfen und das Weite
gesucht. Bis auf den einen, der noch nicht damit zufrieden war, was
er angerichtet hatte...«
»Du meinst den Leichenwagen?«
»Ja. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen und
sieht nach Gehässigkeit aus. Es muss ihre Flucht um ein paar
Minuten verzögert haben.«
Ohne das Band zu übertreten, ging Cooper zu einer
Stelle, von der er den Hof und die verkohlte Lackierung des
Leichenwagens sehen konnte. Erstaunlicherweise war nur der vordere
Teil des Fahrzeugs beschädigt worden, während der Laderaum zwar von
innen von Rauch geschwärzt, aber ansonsten fast intakt war.
»Was ist aus den anderen Fahrzeugen geworden?«,
erkundigte sich Fry. »Da standen doch mehrere Limousinen und noch
ein anderer Leichenwagen.«
»Die Mitarbeiter durften sie entfernen«, sagte
Petty. »Sie hatten gleich am Morgen eine Bestattung auf dem
Terminplan, also haben die Uniformierten es ihnen erlaubt. Im
Kühlraum war sogar noch ein Leichnam. Dieser Teil des Gebäudes ist
unbeschädigt, aber der Strom ist ausgefallen, also konnten sie die
arme Seele kaum da drin lassen.«
»Ich nehme an, das war die richtige Entscheidung«,
räumte Fry widerwillig ein. »Können wir reingehen, oder nehmen Sie
das Gebäude noch für sich in Beschlag?«
»Steigen Sie einfach auf die Trittplatten und
halten Sie sich nahe an der Wand.«
Cooper zögerte, als Fry ins Gebäude ging. Er sah
Petty an. »Das mit Diane tut mir leid. Sie ist heute schon die
ganze Zeit so, seit ich zum Dienst erschienen bin. Ich weiß auch
nicht, was mit ihr los ist.«
Petty streifte ihre Handschuhe ab. Ihr Gesicht war
gerötet und glitzerte vor Regentropfen. »Ich kann es mir vielleicht
vorstellen.«
»Tatsächlich? Hat sie sich mit dir
unterhalten?«
»Das darf ich dir nicht sagen, Ben.« Sie blickte
zum Fenster des Lagerraums, das von stählernen Gitterstäben
geschützt wurde. Die Hitze des Feuers hatte jedoch die Scheibe
bersten lassen. »Du solltest besser reingehen, sonst bekommst du
noch Schwierigkeiten.«
Cooper ging auf die Türöffnung zu, zögerte aber.
»Sehen wir uns später?«
Petty nickte. »Ja.«
Diane Fry stand in dem ausgebrannten Gebäude, und
ihre Nase füllte sich mit dem Gestank von Rauch und verkohlten
Möbeln. Am Boden schwappte noch immer Wasser aus den Schläuchen der
Feuerwehr umher, das geschwärzt und von Asche bedeckt war. Sie
bemerkte, dass Cooper sich draußen mit Liz Petty unterhielt, hörte
jedoch nicht, was die beiden sagten. Sie wollte es auch gar nicht
hören und entfernte sich vom Fenster, um nicht ihren eigenen Namen
aufzuschnappen. Tief in ihrem Inneren unterdrückte sie eine Woge
der Wut, die so stark war, dass sie ihr auf Dauer nicht würde
widerstehen können. Sie musste sie irgendwie kanalisieren, sonst
würde der Damm brechen.
Sie sah sich in dem Lagerraum um. Die Türöffnung
vor ihr führte in ein Zimmer, das sie als Aufenthaltsraum in
Erinnerung hatte, den die Träger und die Büroangestellten in ihrer
Mittagspause nutzen. Darin standen ein paar Tische und einige
Stahlrohrstühle, eine Spüle, ein Kocher und ein Kühlschrank. Die
Tapeten hatten sich von der Wand gelöst und hingen wie verbrannte
Haut in Fetzen herab. Der Linoleumboden war geschmolzen, hatte
Blasen geworfen und glich einer Mondlandschaft, die sämtliche
Schatten der Beleuchtung der Spurensicherung schluckte.
Auf der rechten Seite stand eine weitere Tür offen.
Fry durchquerte vorsichtig den Raum, indem sie den
Aluminium-Trittplatten folgte. Sie verspürte eine unbegründete
Angst davor, irgendetwas zu berühren – nicht weil sie Bedenken
hatte, Fingerabdrücke zu hinterlassen, sondern aus Furcht, die
verkohlten Oberflächen könnten schwarze Spuren auf ihrer Haut und
ihrer Kleidung hinterlassen. Sie hatte das Gefühl, sie könnten sie
irgendwie vergiften und auf ihrem Körper die dunklen Flecken zutage
fördern, die in ihren Gedanken wuchsen, seit sie diesen
Telefonanrufen gelauscht hatte.
Überall, wo sie in den letzten Tagen gewesen war,
hatte sie sich gefragt, ob sie sich in der Todesstätte befand. Sie
hatte damit gerechnet, jeden Moment eine Leiche zu finden, als
wartete hinter jeder Tür ein Bündel blutverschmiertes Sackleinen
oder das Rascheln fressender Maden. Doch jetzt durfte sie nicht
einmal mehr nach ihr Ausschau halten. Hitchens hatte ihnen
untersagt, wie die aufgescheuchten Hühner durch die Gegend zu
rennen.
Obwohl Fry kaum noch zur Kenntnis nahm, dass sie
sich bewegte, stand sie plötzlich im nächsten Raum. Um was für ein
Zimmer handelte es sich? Zunächst konnte sie die schwarze Brühe zu
ihren Füßen nicht deuten. Durchweichte Haufen ragten mehrere
Zentimeter aus dem Wasser. An einer Wand stand eine Reihe verrußter
Gebilde, und fleckige Metallschubladen klafften auf. Aktenschränke.
Sie befand sich in dem Raum hinter dem Hauptbüro, wo die Unterlagen
aufbewahrt wurden.
»Oh, Gott.«
Fry drehte sich um und sah Cooper hinter sich in
der Türöffnung stehen. Er streckte die Hand zu einem der
Aktenschränke aus und wischte den Ruß von einem laminierten Schild
ab.
»Personalakten«, sagte er. »Sie haben die
Personalakten verbrannt.«