30
Fry hatte nicht Ausschau gehalten, ob Ben Cooper an diesem Morgen zum Dienst erschien. Über Nacht war ein festgenommener Mann in eine der Zellen gebracht worden, und sie hatte sich mit dem zuständigen Sergeant wegen der Vernehmungsmodalitäten beraten.
Als sie durch die Sicherheitstür des Zellentrakts trat, um zurück ins Hauptgebäude zu gehen, blieb sie kurz stehen und schlug ihren Kragen hoch, um sich vor dem Platzregen zu schützen. Dann warf sie einen Blick über den Mitarbeiterparkplatz. Ein Lichtstrahl, der von einer Windschutzscheibe reflektiert wurde, als ein Wagen rückwärts in eine Parklücke fuhr, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie erkannte Coopers roten Toyota und zögerte, mit der Absicht, auf ihn zu warten, damit sie zusammen in die Einsatzzentrale hinaufgehen konnten. Sie sah Cooper aussteigen, doch er blickte sich nicht um.
Dann ging die Beifahrertür auf, und Fry bemerkte, dass er jemanden zur Arbeit mitgenommen hatte. Er war der Inbegriff des guten Samariters. Wahrscheinlich hatte Gavin Murfins Wagen den Geist aufgegeben, und Cooper war sofort zur Stelle gewesen, um zu helfen.
Als sie gerade weitergehen wollte, erhaschte sie einen Blick auf blondes Haar und einen marineblauen Pullover. Coopers frühmorgendlicher Passagier war nicht so gebaut, um Gavin Murfin sein zu können. Vollkommen anders. Das Bild von einem kaputten Auto verschwand aus ihren Gedanken und wurde von einem völlig anderen Szenario ersetzt.
Fry hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, als sie den Weg nach oben fortsetzte. Sie versuchte, sich zu erinnern, um welche weiteren wichtigen Angelegenheiten sie sich kümmern musste, ehe sie das Gelände verließ. Irgendetwas gab es bestimmt. Vermutlich sogar mehrere Dinge. Auf jeden Fall wollte sie die Skelette in der Alder-Hall-Gruft überprüfen lassen. John Casey hatte gesagt, dass bereits früher einmal eine Bestandsaufnahme der Gebeine gemacht worden war, die sich als äußerst hilfreich erweisen müsste.
»Alder Hall? Oh, ich glaube, da kann ich Ihnen weiterhelfen«, sagte Dr. Jamieson, als Fry ihn anrief. »Die Untersuchung, die Sie meinen, wurde von einem meiner Vorgänger durchgeführt. Der Bericht müsste sich hier in unserem Archiv befinden.«
»Das wäre fantastisch. Aber sind Sie sich sicher?«
»Ich kann gleich nachsehen. Ich rufe Sie so schnell wie möglich zurück.«
 
 
Als Cooper den Raum betrat, merkte er sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Es lag eine Beklommenheit in der Luft, die sich nur schwer bestimmen ließ. Er warf Fry einen Blick zu und sah, wie sie den Telefonhörer auflegte. Ihr angespannter Gesichtsausdruck bestätigte seinen Verdacht.
»Letzte Nacht hat es einen Zwischenfall im Bestattungsunternehmen gegeben«, berichtete Fry, ohne sich die Mühe zu machen, »guten Morgen« zu sagen.
Cooper sah verwirrt auf seine Armbanduhr. Es konnte nicht daran liegen, dass er zu spät zum Dienst erschienen war. Genau genommen war er sogar etwas zu früh dran. Er spürte Verärgerung über ihre Unhöflichkeit in sich aufsteigen.
»Ein Zwischenfall? Bei Hudson und Slack, meinst du?«
»Wo denn sonst?«
»Na ja, ich weiß nicht«, erwiderte er. »In dieser Division gibt es noch jede Menge andere Bestattungsunternehmen.«
Fry musterte ihn mit einem kühlen Blick. »Ja, bei Hudson und Slack. Eine oder mehrere unbekannte Personen haben dort in den frühen Morgenstunden einen Brand gelegt. Die Feuerwehr spricht von erheblichem Sachschaden. Ich war noch nicht dort. Ich dachte, du möchtest vielleicht mitkommen – das heißt, wenn du nicht mit irgendwas anderem beschäftigt bist.«
»Womit sollte ich beschäftigt sein?«
»Na ja, ich weiß nicht. In dieser Division gibt es noch jede Menge andere laufende Ermittlungsverfahren.«
Cooper seufzte. »Okay, Diane. Ging es in dem Anruf darum?«
»Nein. Ob du’s glaubst oder nicht, das war ein hilfsbereiter Anthropologe. Wenn wir Glück haben, kann er uns einen Bericht über die Knochensammlung auf Alder Hall liefern.«
»Da könnten wir tatsächlich von Glück reden.«
»Das erste Mal bislang.«
»Also, ich muss sagen, dass diese Knochen für mich ziemlich alt ausgesehen haben«, sagte Cooper. »Wenn ein neuerer menschlicher Schädel von den sterblichen Überresten aus dem Ravensdale-Tal dabei wäre, würde er auffallen, oder?«
»Bist du neuerdings ein Experte? Hast du etwa mehr von deinem Freund, dem Professor, gelernt, als wir dachten?«
Cooper schüttelte den Kopf, um seine Verärgerung loszuwerden. »Wenn der Bericht stimmig ist, könnte das bedeuten, dass wir Dr. Jamieson und sein Team gar nicht bitten müssen, sich die Knochen anzusehen. Dann könnten wir Kosten einsparen.«
»Und, Hokuspokus, alle sind glücklich«, sagte Fry.
Doch Cooper betrachtete sie nachdenklich. Sie sah alles andere als glücklich aus.
»John Casey zufolge wurden die Knochen irgendwo auf dem Grundstück des Herrenhauses gefunden«, sagte sie. »Denkst du, Mrs. Chadwick weiß, wo genau?«
»Schon möglich.«
»Dann frag sie.«
»Okay.«
Er warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Arbeit wartete auf ihn. Falls irgendetwas davon wirklich dringend war – tja, dann musste es eben warten, es sei denn, er konnte ein paar Minuten entbehren. Doch Fry war noch nicht fertig.
»Ben, du glaubst doch nicht etwa, dass die Alder-Hall-Gruft das ist, was er mit ›Todesstätte‹ meint, oder?«, fragte sie.
»Es ist nur so ein Gefühl. Das würdest du vielleicht nicht verstehen.«
»Versuch es doch mal.«
»Ich hatte das Gefühl... Na ja, als ich da unten war, hatte ich den Eindruck, dass dieser Ort schon zu lange tot ist. Ergibt das einen Sinn?«
Fry starrte ihn an, als versuchte sie tatsächlich, ihn zu verstehen. »Das ist alles?«
»Tut mir leid.«
Cooper zog seine Jacke wieder an, und sie verließen das Gebäude. Er wollte Fry gegenüber nicht zugeben, was er wirklich dachte. Es hatte etwas damit zu tun, was Freddy Robertson zu ihm gesagt hatte, als er den Zweck eines Sarkophags und eines Beinhauses erklärt hatte und die Rituale, die damit in Zusammenhang standen.
Die Erinnerung war zurückgekehrt, als er in der Gruft von Alder Hall gestanden hatte. Einen Augenblick lang hatte Cooper das Gefühl gehabt, zu verstehen, woran seine frühen Vorfahren instinktiv geglaubt hatten. Die Knochenhaufen in der Gruft waren vollkommen sauber und trocken gewesen, frei von den letzten Fleischfetzen, die einst an ihnen gehangen hatten. Wenn es die Bruchstücke einer physischen Struktur waren, die die Seele im Körper festhielten, dann waren die Geister, die über diesen Knochen schwebten, längst verschwunden.
»Übrigens«, sagte Fry im Wagen, »ich habe angefangen, Nachforschungen zu John Caseys Hintergrund anzustellen.«
»Der Immobilienmakler? Warum?«
»Na ja, die sterblichen Überreste von beiden Toten wurden auf dem Grundstück von Alder Hall gefunden. Zugegebenermaßen waren sie näher am Haus von Mr. Jarvis als am Herrenhaus, aber das liegt nur an der Größe des Anwesens. Casey ist derjenige, der unmittelbar verantwortlich für das Anwesen ist, und er hat uneingeschränkten Zugang. Sobald man sich innerhalb der Tore befindet, bleibt alles, was man tut, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Das gilt nicht für jemanden, der sich vom Ravensdale-Tal aus nähert, wo es Anwohner in den Cottages und Wanderer auf dem Fußweg gibt.«
»Von den Jarvis’ und ihren Hunden ganz zu schweigen.«
»Genau.«
»Na ja, John Casey mag zwar nicht der beste Immobilienmakler der Welt sein, aber mir kam er eher inkompetent als kriminell vor.«
»Findest du nicht, dass er unsere Aufmerksamkeit recht schnell auf Maurice Goodwin und seine Rolle auf Alder Hall lenken wollte? Meiner Ansicht nach war das schon sehr praktisch.«
»Tatsächlich?«
»Sieh mal, Goodwin hat die Firma vor drei Monaten verlassen. Und zufälligerweise hat Casey seitdem noch keine Vorkehrungen getroffen, dass jemand anderer regelmäßig auf Alder Hall nach dem Rechten sieht? Und zufälligerweise hat er noch keinen Ersatz für Goodwin gefunden? Warum nicht? Was ist so besonders an diesem Job, dass er mit keinem der Bewerber zufrieden war?«
»Ich weiß nicht, Diane, was vermutest du?«
»Ich frage mich, ob Casey Maurice Goodwin als Sündenbock benutzt hat, der immer schuld war, wenn irgendwas schiefgegangen ist. Auf jeden Fall wüsste ich gern, warum Goodwin gekündigt hat.«
»Persönliche Konflikte, laut Mr. Casey.«
»Das bedeutet in der Regel ein handfester Streit mit dem Boss. Was ist, wenn John Casey Goodwin absichtlich in eine Position manövriert hat, in der er zu dem Schluss gekommen ist, dass er die Schnauze voll hat, und gekündigt hat?«
»Und Casey damit auf dem Anwesen freie Hand hatte?«
»Ja.«
»Aber freie Hand wofür, Diane? Um Leichen im Unterholz zu entsorgen?«
»Oder um jemand anderem die Gelegenheit dazu zu geben.«
»Das wäre ganz schön riskant«, sagte Cooper. »Was wäre denn, wenn ein Kaufinteressent vorbeikäme, um sich das Grundstück anzusehen? Außerdem hätte es auf dem Anwesen plötzlich von Gutachtern und Bauarbeitern wimmeln können.«
»Nicht ohne Vorwarnung. Casey ist der Mann mit den Schlüsseln, wenn du dich erinnerst. Außerdem ist das Herrenhaus seit zwei Jahren auf dem Markt. Ich wette, das Angebot an Kaufinteressenten ist längst erschöpft.«
»Zwei Jahre, das stimmt...« Cooper rechnete nach. »Und ich wette, dass derjenige, der Audrey Steeles Leichnam beseitigt hat, gehofft hat, dass sich nie ein Käufer für das Herrenhaus findet und dass das Anwesen immer mehr verwahrlost. Dabei hat er allerdings übersehen, dass das ›allgemeine Wegerecht‹ Spaziergängern jetzt freien Zutritt ermöglicht.«
»Mich würde interessieren, ob Casey jemals den Vorschlag gemacht hat, mit dem Preis für das Anwesen runterzugehen«, sagte Fry.
»Warum?«
»Na ja, das würde ein Makler doch normalerweise tun, wenn er keinen Käufer findet. Er würde dem Verkäufer empfehlen, ein bisschen weniger zu verlangen. Wenn man sich weigert, den Preis zu senken, entsteht der Eindruck, als würde man es mit dem Verkauf nicht ernst meinen.«
»Du scheinst dich ja plötzlich ziemlich gut auf dem Immobilienmarkt auszukennen, Diane. Ich dachte, du hättest nie selber ein Haus besessen. Du hast doch auch nur eine Wohnung gemietet, genau wie ich.«
»Ich habe nicht immer in Derbyshire gewohnt. Bevor ich hierher gezogen bin, habe ich in der Zivilisation gelebt.«
Fry wandte sich ab und sah zum Fenster des Wagens hinaus, als hätten ihre Gedanken bereits begonnen abzuschweifen.
»Tja, wenn Alder Hall die ›Todesstätte‹ ist«, sagte Cooper, »dann hatte John Casey zumindest in einem Punkt recht.«
»Und der wäre?«
»Dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Hausverkauf handelt.«
Er lachte und warf Fry einen Blick zu. Doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Sie war irgendwohin abgedriftet, an einen Ort, an dem es nicht viel zu lachen gab.
 
 
Der Parkplatz von Hudson und Slack war leer, abgesehen vom Kleintransporter der Brandermittlung und zwei Polizeifahrzeugen. Als Cooper und Fry die Straße entlangfuhren, schien das Gebäude auf den ersten Blick nicht beschädigt zu sein. Das Schild über dem Eingang war intakt und behauptete noch immer, dass es sich bei Hudson und Slack um einen zuverlässigen Familienbetrieb handelte. Erst als sie neben einem der Streifenwagen parkten, sahen sie die geschwärzten Wände und die zersplitterten Fensterscheiben. Der Parkplatz war überflutet, doch es war schwer zu beurteilen, wie viel von dem Wasser Regen war und wie viel aus den Schläuchen der Feuerwehr stammte.
»Der Schaden ist beträchtlich, beschränkt sich allerdings auf die Büroräume und einen Lagerraum«, sagte der Brandermittler und wischte sich Ruß von seiner fluoreszierenden Jacke. »Glücklicherweise sind die Innentüren alle ziemlich stabil und mit einem automatischen Schließmechanismus versehen. Sie haben den Flammen standgehalten, bis das erste Löschfahrzeug vor Ort war und das Feuer in etwa einer halben Stunde unter Kontrolle bringen konnte.«
»Und es besteht kein Zweifel, dass es sich um Brandstiftung handelt?«
»Nicht der geringste. Die Hintertür wurde aufgestemmt, und im Lagerraum sind überall Spuren eines Brandbeschleunigers. Das Feuer hat sich einen bis eineinhalb Meter von der Türöffnung entfernt entzündet. Bei dem Fahrzeug ist es eine ähnliche Geschichte.«
»Fahrzeug?«
Er deutete auf den Hof hinter dem Gebäude. »Dort steht ein ausgebrannter Leichenwagen. Ihre Brandstifter haben die Windschutzscheibe eingeschlagen, Beschleuniger reingekippt und ihn angezündet. Ich habe auf dem Vordersitz die Reste eines Plastik-Benzinkanisters gefunden.«
»Das könnte uns weiterhelfen.«
Der Ermittler lächelte. »Plastik hält den Flammen nicht besonders gut stand, also ist es nur noch ein geschmolzener Klumpen. Aber Sie dürfen ihn gerne haben. Ich bezweifle allerdings, dass Ihnen die Spurensicherung viel sagen kann, außer dass er grün ist.«
»Grün? Hat das irgendwas zu bedeuten?«
»Tja, wenn sie sich an die Vorschriften gehalten haben, müsste bleifreies Benzin drin gewesen sein.«
Vom Gebäude bis zum Zaun erstreckten sich zwei Bahnen Tatort-Absperrband, und ein uniformierter, mit einer wasserdichten Jacke bekleideter Polizist stand mit einem Klemmbrett daneben und bewachte den abgesperrten Bereich. Man hörte ein Husten und das Prasseln eines Trümmerhagels, als durch die beschädigte Tür eine Mitarbeiterin der Spurensicherung auftauchte. Cooper stellte erfreut fest, dass es sich um Liz Petty handelte. Nun ja, in Anbetracht der derzeitigen Belegschaftszahlen hatten die Chancen fünfzig zu fünfzig gestanden, dass sie zum Tatort gerufen wurde.
Petty lächelte, dann warf sie einen Blick auf Fry und senkte den Kopf, um sich mit einer behandschuhten Hand Ruß aus dem Gesicht zu wischen.
»Kein Geheimnis, was hier passiert ist«, sagte sie.
»Das haben wir schon gehört«, erwiderte Fry. »Aber Sie können doch sicher noch was hinzufügen.«
Petty blinzelte leicht, vermied jedoch sorgsam, irgendjemandem in die Augen zu sehen. Sie deutete auf den Zaun. »Auf diesem Weg haben sich die Eindringlinge Zugang zum Grundstück verschafft. Sie haben den Zaun zerschnitten und sind von den Bahngleisen aus über die Mauer geklettert.«
Cooper ging zur Mauer und blickte zu den Bahngleisen hinunter. »Auf der anderen Seite der Gleise befinden sich einige Gewerbebetriebe.«
»Überwachungskameras?«, fragte Fry.
»Ein paar, aber die decken nur die jeweiligen Grundstücke ab. Es gibt keinen Grund, warum man hierher eine Kamera richten sollte.«
»Wir müssen rausfinden, ob dort irgendwo Nachtschicht gearbeitet wurde.«
Petty ließ die Hand über die Türzarge gleiten. »Ich habe an der Tür ein paar ziemlich gute Werkzeugspuren gefunden. Aber vermutlich haben sie nur ein gewöhnliches Stemmeisen oder eine gewöhnliche Brechstange benutzt.«
»Warum geht diese Tür nach außen auf?«, fragte Fry.
»Weil es sich ironischerweise um einen Notausgang handelt.«
»Und in dem Lagerraum wurde Beschleuniger verwendet?«
»Ja, und zwei Innentüren wurden aufgebrochen. Übrigens, ich möchte die Türen ausbauen und ins Labor bringen lassen.«
»Wozu?«
»Tja, Ihre Eindringlinge waren in Eile, also haben sie sich nicht die Mühe gemacht, die Innentüren aufzustemmen – sie haben sie einfach eingetreten. Ich bin ziemlich sicher, dass auf den Türblättern Fußabdrücke sind. Aber bei den Schäden, die das Feuer angerichtet hat, müssen wir sie im Labor untersuchen, um irgendwas Brauchbares zu finden.«
»Du sagst immer ›sie‹«, stellte Cooper fest. »Wie kommst du darauf, dass mehr als eine Person hier war?«
Petty zuckte mit den Schultern. »Na ja, es gibt keinen direkten Beweis, es sei denn, wir finden zwei unterschiedliche Fußabdrücke auf den Türen. Aber sie haben sich hier nicht lange aufgehalten. Die Feuerwehr sagt, dass bereits zehn Minuten nach dem Alarm eine Mannschaft hier war. Ich würde sagen, sie waren zu zweit, möglicherweise sogar zu dritt. Zwei haben die Türen aufgebrochen, während der Dritte das Benzin verteilt hat. Dann haben sie das Gebäude schnell wieder verlassen, ein Streichholz oder einen brennenden Lumpen reingeworfen und das Weite gesucht. Bis auf den einen, der noch nicht damit zufrieden war, was er angerichtet hatte...«
»Du meinst den Leichenwagen?«
»Ja. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen und sieht nach Gehässigkeit aus. Es muss ihre Flucht um ein paar Minuten verzögert haben.«
Ohne das Band zu übertreten, ging Cooper zu einer Stelle, von der er den Hof und die verkohlte Lackierung des Leichenwagens sehen konnte. Erstaunlicherweise war nur der vordere Teil des Fahrzeugs beschädigt worden, während der Laderaum zwar von innen von Rauch geschwärzt, aber ansonsten fast intakt war.
»Was ist aus den anderen Fahrzeugen geworden?«, erkundigte sich Fry. »Da standen doch mehrere Limousinen und noch ein anderer Leichenwagen.«
»Die Mitarbeiter durften sie entfernen«, sagte Petty. »Sie hatten gleich am Morgen eine Bestattung auf dem Terminplan, also haben die Uniformierten es ihnen erlaubt. Im Kühlraum war sogar noch ein Leichnam. Dieser Teil des Gebäudes ist unbeschädigt, aber der Strom ist ausgefallen, also konnten sie die arme Seele kaum da drin lassen.«
»Ich nehme an, das war die richtige Entscheidung«, räumte Fry widerwillig ein. »Können wir reingehen, oder nehmen Sie das Gebäude noch für sich in Beschlag?«
»Steigen Sie einfach auf die Trittplatten und halten Sie sich nahe an der Wand.«
Cooper zögerte, als Fry ins Gebäude ging. Er sah Petty an. »Das mit Diane tut mir leid. Sie ist heute schon die ganze Zeit so, seit ich zum Dienst erschienen bin. Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist.«
Petty streifte ihre Handschuhe ab. Ihr Gesicht war gerötet und glitzerte vor Regentropfen. »Ich kann es mir vielleicht vorstellen.«
»Tatsächlich? Hat sie sich mit dir unterhalten?«
»Das darf ich dir nicht sagen, Ben.« Sie blickte zum Fenster des Lagerraums, das von stählernen Gitterstäben geschützt wurde. Die Hitze des Feuers hatte jedoch die Scheibe bersten lassen. »Du solltest besser reingehen, sonst bekommst du noch Schwierigkeiten.«
Cooper ging auf die Türöffnung zu, zögerte aber. »Sehen wir uns später?«
Petty nickte. »Ja.«
 
 
Diane Fry stand in dem ausgebrannten Gebäude, und ihre Nase füllte sich mit dem Gestank von Rauch und verkohlten Möbeln. Am Boden schwappte noch immer Wasser aus den Schläuchen der Feuerwehr umher, das geschwärzt und von Asche bedeckt war. Sie bemerkte, dass Cooper sich draußen mit Liz Petty unterhielt, hörte jedoch nicht, was die beiden sagten. Sie wollte es auch gar nicht hören und entfernte sich vom Fenster, um nicht ihren eigenen Namen aufzuschnappen. Tief in ihrem Inneren unterdrückte sie eine Woge der Wut, die so stark war, dass sie ihr auf Dauer nicht würde widerstehen können. Sie musste sie irgendwie kanalisieren, sonst würde der Damm brechen.
Sie sah sich in dem Lagerraum um. Die Türöffnung vor ihr führte in ein Zimmer, das sie als Aufenthaltsraum in Erinnerung hatte, den die Träger und die Büroangestellten in ihrer Mittagspause nutzen. Darin standen ein paar Tische und einige Stahlrohrstühle, eine Spüle, ein Kocher und ein Kühlschrank. Die Tapeten hatten sich von der Wand gelöst und hingen wie verbrannte Haut in Fetzen herab. Der Linoleumboden war geschmolzen, hatte Blasen geworfen und glich einer Mondlandschaft, die sämtliche Schatten der Beleuchtung der Spurensicherung schluckte.
Auf der rechten Seite stand eine weitere Tür offen. Fry durchquerte vorsichtig den Raum, indem sie den Aluminium-Trittplatten folgte. Sie verspürte eine unbegründete Angst davor, irgendetwas zu berühren – nicht weil sie Bedenken hatte, Fingerabdrücke zu hinterlassen, sondern aus Furcht, die verkohlten Oberflächen könnten schwarze Spuren auf ihrer Haut und ihrer Kleidung hinterlassen. Sie hatte das Gefühl, sie könnten sie irgendwie vergiften und auf ihrem Körper die dunklen Flecken zutage fördern, die in ihren Gedanken wuchsen, seit sie diesen Telefonanrufen gelauscht hatte.
Überall, wo sie in den letzten Tagen gewesen war, hatte sie sich gefragt, ob sie sich in der Todesstätte befand. Sie hatte damit gerechnet, jeden Moment eine Leiche zu finden, als wartete hinter jeder Tür ein Bündel blutverschmiertes Sackleinen oder das Rascheln fressender Maden. Doch jetzt durfte sie nicht einmal mehr nach ihr Ausschau halten. Hitchens hatte ihnen untersagt, wie die aufgescheuchten Hühner durch die Gegend zu rennen.
Obwohl Fry kaum noch zur Kenntnis nahm, dass sie sich bewegte, stand sie plötzlich im nächsten Raum. Um was für ein Zimmer handelte es sich? Zunächst konnte sie die schwarze Brühe zu ihren Füßen nicht deuten. Durchweichte Haufen ragten mehrere Zentimeter aus dem Wasser. An einer Wand stand eine Reihe verrußter Gebilde, und fleckige Metallschubladen klafften auf. Aktenschränke. Sie befand sich in dem Raum hinter dem Hauptbüro, wo die Unterlagen aufbewahrt wurden.
»Oh, Gott.«
Fry drehte sich um und sah Cooper hinter sich in der Türöffnung stehen. Er streckte die Hand zu einem der Aktenschränke aus und wischte den Ruß von einem laminierten Schild ab.
»Personalakten«, sagte er. »Sie haben die Personalakten verbrannt.«
Todesstatte
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