9
Am nächsten Morgen fand Diane Fry zwei Detective Constables mittleren Alters vor, die an Schreibtischen in der Einsatzzentrale saßen. Sie trugen beinahe identische dunkelblaue Anzüge und waren beide ein bisschen zu füllig um die Schultern, sodass sie aussahen, als besäßen sie keinen Hals. Einer hatte eine blau gestreifte Krawatte umgebunden, der andere eine schwarzweiß karierte. Die beiden hätten auch Vertreter einer Pharmazeutikfirma sein können.
»Wer sind die beiden?«, fragte Gavin Murfin.
»Reserve-Kriminaler«, erwiderte Fry.
»Was?«
»Sie waren bis zu ihrer Pensionierung im letzten Jahr bei der D-Division. Aber sie sind zurückgekommen, um uns ein bisschen auszuhelfen, solange wir unterbesetzt sind. Mr. Hitchens sagt, sie wären sehr erfahren. Sie sind beide mit Feuereifer bei der Sache.«
»Ja, das sehe ich.«
Bei der morgendlichen Einsatzbesprechung zum Sandra-Birley-Ermittlungsverfahren hob Ben Cooper als Erster die Hand. Offenbar war er darauf erpicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Sir, halten Sie es für möglich, dass Mrs. Birleys Angreifer sie bereits ein paar Tage lang beobachtet hatte, um ihre Gewohnheiten auszukundschaften?«
»Welche Gewohnheiten?«, fragte Detective Inspector Hitchens.
»Zunächst einmal den Ort, an dem sie ihren Wagen in der Regel geparkt hat. Und ihre Angewohnheit, den Aufzug nicht zu benutzen, wenn es darin stinkt.«
»Was, und dann hat er in den Aufzug gepinkelt, um sie davon abzuhalten, dass sie ihn benutzt?«
»War nur so eine Idee.«
»Das wäre doch zu schön, um wahr zu sein, oder? Ein Verdächtiger, der für uns seine DNA auf dem Boden des Aufzugs verteilt?« Der Detective Inspector dachte darüber nach. »Nein, das passt nicht zusammen, Ben. Er konnte unmöglich wissen, dass Sandra Birley an diesem Abend länger arbeiten würde.«
»Nein? Na ja, es sei denn …«
»Es sei denn?«
»Es sei denn, er arbeitet in derselben Firma.«
»Dann müssen wir alle ihre Kollegen unter die Lupe nehmen«, sagte Hitchens. »Wie viele davon gibt es?«
»Bei Peak Mutual arbeiten etwa vierzig Leute«, sagte Fry. »Männer und Frauen.«
»Männer und Frauen? Guter Hinweis, Detective Sergeant Fry. Wir dürfen in diesem Stadium noch nicht davon ausgehen, dass wir nach einem männlichen Verdächtigen suchen.«
»Und der Anruf, Sir?«, fragte jemand.
»Der Anruf hat unter Umständen überhaupt nichts mit der Entführung zu tun.«
Detective Chief Inspector Kessen war bei der Besprechung zugegen, saß jedoch auf der Seite und überließ Detective Inspector Hitchens das Wort. Fry war nicht überrascht, den stellvertretenden Chef der Kriminalpolizei zu sehen.Wenn der Fall Birley zu einer Morduntersuchung wurde, würde Kessen zum Ermittlungsleiter ernannt werden. Doch bislang hatten sie noch keine Leiche, noch keinen Hinweis auf ein Schwerverbrechen. Bei der Möglichkeit, dass Sandra Birley aus dem Clappergate-Parkhaus entführt worden war, handelte es sich um nichts weiter als das: um eine Möglichkeit.
»Werden wir den Ehemann bitten, sich an die Bevölkerung zu wenden, Sir?«, fragte Cooper, nachdem er erneut die Hand gehoben hatte. Fry nickte widerwillig. Zumindest war das eine Taktik, die sie anwenden konnten, ohne sich in irgendeiner Weise festzulegen.
»Wir glauben, dass es dafür noch zu früh ist«, erwiderte Hitchens. »Außerdem ist er dazu momentan sowieso nicht in der Lage. Ich habe heute gleich in aller Frühe mit der Psychologin gesprochen, und anscheinend hat sich Mr. Birleys Gemütsverfassung seit gestern beträchtlich verschlechtert.«
Dann stellte sich heraus, dass die beiden pensionierten Detective Constables ebenfalls eine Frühschicht eingelegt hatten. Sie hatten sich bereits alle Videobänder aus den Überwachungskameras im Clappergate-Parkhaus angesehen. Das war nicht jedermanns Lieblingsbeschäftigung. Die Gefühle der Anwesenden ihnen gegenüber erwärmten sich langsam.
»Als Erstes ist es uns gelungen, die Besitzer der anderen beiden Fahrzeuge auszuschließen, die über Nacht im Parkhaus abgestellt waren«, sagte derjenige mit der schwarz-weißen Krawatte. »Der eine hatte im Pub zu viel getrunken und sich vernünftigerweise dafür entschieden, ein Taxi zu nehmen. Er ist am nächsten Morgen aufgetaucht, um seinen Wagen zu holen, also haben wir eine Aussage von ihm bekommen. Er hat nichts gesehen. Aber wie sollte er auch, wenn er zur fraglichen Zeit im Pub war?«
»Okay«, sagte Hitchens. »Und der andere?«
»Der ist sogar noch unschuldiger. Er arbeitet in der IT-Abteilung einer Firma, die Büroräume in der Buxton Road hat. Ihm ist an diesem Nachmittag ein Computermonitor auf den Fuß gefallen, und er hat sich zwei Zehen gebrochen. Zur fraglichen Zeit war er in der Notaufnahme. Seine Freundin ist gekommen und hat den Wagen abgeholt.«
»Eigentlich sind die beiden sowieso nie als Kandidaten in Frage gekommen. Warum hätte Sandra Birleys Angreifer sowohl sein eigenes Fahrzeug als auch ihres im Parkhaus stehen lassen sollen?«
»Ganz genau, Sir. Aber wir mussten trotzdem sichergehen. Außerdem haben wir uns alle Bänder aus den funktionierenden Kameras von vorn bis hinten angesehen, und es ist uns gelungen, alle Fahrzeuge ausfindig zu machen, die das Parkhaus später am Abend verlassen haben – das heißt, nachdem Mrs. Birley entführt wurde. Es waren insgesamt nur vier, da das Parkhaus bereits so gut wie leer war. Bis auf eines konnten wir sogar alle diese Fahrzeuge den Besitzern zuordnen, die zu ihren Wagen zurückgekehrt sind. Zwei von ihnen waren einzelne Männer. Es war auch ein Pärchen dabei, die beiden sind allerdings schon älter, etwa Anfang sechzig. Auf dem Videoband lässt sich deutlich erkennen, dass die Frau nicht Sandra Birley ist. Sie hat das falsche Alter, die falsche Größe, die falsche Kleidung, und auch sonst gibt’s keine Übereinstimmungen. Alle diese Personen wurden befragt, und sie scheinen glaubwürdig zu sein.«
»Und keinem von ihnen ist irgendwas Verdächtiges aufgefallen?«, erkundigte sich Fry.
»Das ist richtig, Sergeant.«
Fry seufzte. Das war das Problem mit gesetzestreuen Bürgern: Ihnen fiel nie irgendetwas auf. Sie hatte mittlerweile den Überblick verloren, wie oft sie schon bei schwerwiegenden Zwischenfällen zugegen gewesen war und dabei Bürger mit hilfsbereitem Lächeln und Kurzzeitgedächtnis angetroffen hatte.
»Wenn ich richtig gerechnet habe, war noch ein weiteres Fahrzeug da.«
»Leider war das vierte Fahrzeug offenbar auf der zweiten Ebene geparkt.«
»Wo sich eine nicht-funktionierende Kamera befindet?«
»Sie haben es erraten, Sergeant. Allerdings wurde das Fahrzeug an der Schranke gefilmt, als es aus dem Parkhaus fuhr. Es handelt sich um einen blauen Saab. Der Fahrer scheint ein Mann zu sein, aber auf dem Beifahrersitz ist niemand zu sehen.«
»Und ist der Fahrzeughalter befragt worden?«
»Er wohnt in Sheffield. Es ist bereits ein Team unterwegs, um sich mit ihm zu unterhalten.«
»Falls der Fahrer aus Sheffield ausgeschlossen werden kann«, sagte Fry, »bleibt also nur noch die eine Möglichkeit, dass unser Mann selbst kein Fahrzeug im Parkhaus hatte.«
»Tja, er muss irgendwo in der Nähe ein Fahrzeug gehabt haben«, warf der Detective Constable mit der gestreiften Krawatte ein. »Wahrscheinlich hatte er es auf der Straße geparkt.«
»Also noch mehr Videobänder aus Überwachungskameras. Die Kameras in der Innenstadt?«
»Genau.«
Fry drehte sich zum Detective Inspector um. »Und was unternehmen wir wegen der Telefonbotschaften, Sir? Die Hinweise, die er uns gegeben hat...?«
Hitchens hatte seine Landkarte an der Tafel aufgehängt – oder genauer gesagt eine überarbeitete Version davon, auf der der vollständige Sechs-Meilen-Kreis um Wardlow sowie verschiedene mit Aufklebern markierte Orte zu sehen waren.
»Wir haben eine Liste mit in Frage kommenden Orten erstellt, damit uniformierte Streifen sie bei Gelegenheit überprüfen können«, sagte er. »Damit meine ich sämtliche Orte, die man unter Umständen als ›Todesstätte‹ bezeichnen könnte. Ansonsten gibt’s nichts Konkretes, aufgrund dessen wir handeln könnten, es sei denn, seine Hinweise werden deutlicher. Bis dahin lassen Sie es mich einfach wissen, wenn Sie irgendwelche vernünftigen Vorschläge haben. Falls Sie die Tonbandaufnahmen noch nicht gehört haben und sie gerne hören möchten, wenden Sie sich bitte an Detective Sergeant Fry.«
»Bei Gelegenheit? Das könnte auch nie sein«, sagte Cooper.
Hitchens zuckte mit den Schultern. »Wie Sie selbst schon festgestellt haben, Detective Constable Cooper, sind die Möglichkeiten endlos. Wir brauchen etwas Stichhaltigeres.«
»Also hoffen wir darauf, dass er wieder anruft?«
»Tja, das würde uns bestimmt weiterhelfen, oder etwa nicht?«
Detective Chief Inspector Kessen hatte der Diskussion wortlos gelauscht. Als die Besprechung zu Ende war, stand er auf und legte Hitchens die Hand auf den Arm.
»Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, Paul«, sagte er. »Regelmäßige Updates.«
 
 
Ben Cooper wollte gerade mit allen anderen die Einsatzbesprechung verlassen, als ihn der Detective Inspector zu sich rief. Zunächst dachte er, er habe sich verhört, und Hitchens musste ihn noch einmal ansprechen – diesmal etwas lauter, als hätte Cooper im Klassenzimmer in der letzten Reihe gesessen und vor sich hin geträumt.
»Oh, Ben. Hätten Sie kurz Zeit?«
»Ja, Sir?«
Cooper ließ sein Jackett über der Stuhllehne hängen und ging zum anderen Ende des Raumes, wobei er sich gegen den Strom von Körpern bewegte und sich der Blicke bewusst war, mit denen er bedacht wurde. Vielleicht war er aber auch nur übermäßig empfindlich. Er schämte sich noch immer für seinen Wutausbruch im Krankenhaus am Abend zuvor, und an diesem Morgen hatte er das Gefühl, sich nicht länger als ein paar Minuten auf etwas konzentrieren zu können. Seine Gedanken kehrten immer wieder zum Anblick des bleichen, hilflosen Körpers seiner Mutter zurück, die in einem Nebenzimmer der Station lag, umgeben vom Geruch von Desinfektionsmitteln und dem ständigen Klappern von Absätzen auf dem Flur vor der Tür, hin und her, hin und her, bis ihn die Erinnerung wahnsinnig machte. Als er in aller Frühe in der Station angerufen hatte, war ihm mitgeteilt worden, dass Mrs. Coopers Zustand »zufriedenstellend« sei.
»Ich habe da etwas für Sie, Ben«, sagte der Detective Inspector und hantierte mit ein paar Unterlagen auf seinem Klemmbrett herum. »Es sieht so aus, als hätten Sie überraschend früh Glück gehabt. Eine Dame hat angerufen und behauptet, sie hätte die Gesichtsrekonstruktion erkannt.«
»Jetzt schon?«
»Sie war gestern Abend in der Zeitung und wurde sogar kurz in den lokalen Fernsehnachrichten gezeigt.«
»Ausgezeichnet.«
Hitchens warf ihm einen kritischen Blick zu, als habe er bemerkt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Cooper fragte sich, ob er vergessen hatte, sich ordentlich zu rasieren, oder seine Krawatte schief gebunden hatte. Beides war durchaus möglich.
»Die Dame heißt Ellen Walker. Sie glaubt, dass es sich bei der Verstorbenen um ihre Cousine Audrey Steele handelt. Hier ist die Adresse, Ben.«
»Ich bin schon unterwegs, Sir.«
Cooper nahm sein Jackett von der Stuhllehne und versuchte, seine Krawatte zu richten. Man tat gut daran, professionell zu wirken, wenn man gesetzestreue Bürger traf.
»Noch eine Sache, Ben …« Hitchens hielt ihm ein Blatt hin, das er aus einem Notizblock gerissen hatte.
»Was ist das?«
»Noch ein Glücksfall für Sie. Dieser Gentleman ist ein pensionierter forensischer Anthropologe mit einem besonderen Interesse für Thanatologie. Offenbar haben wir ihn in der Vergangenheit hin und wieder um Rat gefragt, und er wohnt seit seiner Pensionierung hier in der Gegend. Er ist bereit, uns kostenlos zu beraten.«
»Kostenlos? Wer hat das behauptet?«
Hitchens lächelte. »Der Vizepräsident des Polizeikomitees, der Mitglied im selben Rotary Club ist wie Professor Robertson.«
Cooper nahm das Blatt Papier entgegen und warf einen Blick auf die Kontaktdaten. »Ist er von der Association of Chief Police Officers anerkannt?«
»Selbstverständlich. Versuchen Sie es mal bei ihm, Ben. Er könnte genau derjenige sein, den Sie brauchen.«
»Ja, das ist gut möglich.« Und er dachte: Vor allem, weil er kostenlos ist. Doch das sagte er nicht laut.
»Also gut, Ben, das war alles.«
Cooper bemerkte, dass sich der Raum inzwischen geleert hatte und der Detective Inspector es eilig hatte wegzukommen. Doch sein Vater hatte ihm beigebracht, dass er nie so tun sollte, als habe er etwas verstanden, wenn dem nicht so war.
»Äh... nur noch eine Sache, Sir«, sagte er.
»Ja?«
»Was, in aller Welt, ist Thanatologie?«
Hitchens machte einen Augenblick lang ein verdutztes Gesicht, dann klappte er den Deckel seines Klemmbretts zu und steuerte hastig auf die Tür zu, als habe er für derart dumme Fragen keine Zeit.
»Herrgott noch mal, Cooper – wenn Sie es nicht wissen, dann schlagen Sie es nach.«
 
 
Als Cooper sich bereit machte, das Büro zu verlassen, bemerkte er ein Buch auf Gavin Murfins Schreibtisch. Gavin hatte nie Bücher auf seinem Schreibtisch liegen. Gebäck und Kuchen, ja. Schokolade, selbstverständlich. Eigentlich alles Essbare. Wenn dieses Buch nicht aus glasiertem Pudding bestand, handelte es sich um eine historische Premiere.
Murfin bemerkte seinen Blick. Bevor er das Buch verschwinden lassen konnte, nahm Cooper es in die Hand. Dutzende von Zetteln standen heraus, mit denen bestimmte Seiten eingemerkt waren.
»Beförderungs-Paukbuch für Sergeants, erster Teil. Ich dachte mir schon, dass es einen Grund dafür geben muss, warum du plötzlich wie ein Ausbildungslehrbuch daherredest. Was hast du denn vor, Gavin?«
»Ich versuche nur, meine Leistung zu verbessern«, erwiderte Murfin.
»Deine was
»Meiner Meinung nach sollten wir das alle hin und wieder machen. Das heißt, wenn wir beruflich irgendwie weiterkommen wollen.«
Cooper starrte ihn an. »Aber das ist ein Paukbuch, Gavin. Du hast doch nicht etwa vor, dich um eine Beförderung zu bemühen?«
»Genau das habe ich vor.«
»Du willst die Sergeant-Prüfung ablegen? Ist das dein Ernst?«
Murfin schnappte sich sein Buch. »Warum nicht? Hier weiß offenbar niemand meine große Erfahrung zu schätzen. Ich war schon bei der Kriminalpolizei, als du noch in kurzen Hosen rumgelaufen bist. Ich habe wirklich alles gesehen. Also wird es höchste Zeit, dass ich in einer Führungsposition anderen mein Wissen und meine Sachkenntnis zugutekommen lasse.«
»Du hast ja schon deine Antworten im Auswahlgespräch geübt«, sagte Cooper voller Verwunderung.
»Nur zu, mach dich ruhig lustig. Ist mir doch egal. Einer der Vorteile meiner jahrelangen Erfahrung ist der, dass ich gelassen bleibe und mich nicht aus der Ruhe bringen lasse, auch wenn ich extrem provoziert werde.«
»Moment mal«, sagte Cooper. »Wie viele Jahre genau?«
»Was?«
»Wie viele Jahre Erfahrung, Gavin? Wie lange bist du schon bei der Kriminalpolizei?«
Murfin gab ihm keine Antwort. Er schlug sein Buch auf und tat so, als würde er eine Seite studieren.
»Komm schon, Gavin – wie viele Jahre?«
»Elf«, sagte Murfin beiläufig.
Cooper atmete lange aus. »Aha, deine Amtszeit. Das erklärt alles. Du hast nur noch ein Jahr, höchstens. Und du möchtest nicht wieder Uniform tragen müssen. Gavin, bei dir macht sich Verzweiflung breit.«
»Findest du es wirklich so unvorstellbar, dass ich zum Sergeant befördert werden könnte?«
»Na ja, eigentlich schon.«
»Vielen Dank.«
Cooper lachte und hatte sofort ein schlechtes Gewissen – nicht deshalb, weil er Gavin ausgelacht hatte, sondern weil es nicht in Ordnung zu sein schien, dass er momentan überhaupt etwas zu lachen hatte.
Sie sahen beide auf, als Diane Fry das Zimmer betrat. Ihr Gesicht war vor Verärgerung gerötet.
»Aha«, sagte Murfin leise. »Steht uns mal wieder ein Motivationstraining bevor?«
»Psst. Du nimmst sie nur wieder auf den Arm«, sagte Cooper.
»Tja, diese Teambildungsübungen machen mich fix und fertig, Ben. Ich werde emotional bald völlig erschöpft sein, bei all der Liebe, die ich für meine Kollegen empfinde.«
Fry steuerte geradewegs auf Cooper zu. »Ben, der Detective Inspector sagt, er hätte dir den Namen von irgend so einem alten Professor gegeben, mit dem du dich unterhalten sollst.«
»Ja, ich hoffe, dass ich mich heute Nachmittag mit ihm treffen kann.«
»Gib mir doch bitte kurz Bescheid, wenn du wieder zurück bist, ja? Ich muss beurteilen, ob er uns bei einem anderen Ermittlungsverfahren behilflich sein könnte. Deshalb würde mich interessieren, was du von ihm hältst.«
»Normalerweise bist du ja nicht gerade scharf auf unabhängige Experten, Diane«, sagte Cooper.
»Ich persönlich würde ihn noch nicht mal mit der Kneifzange anfassen, aber ich brauche einen Grund, um meine Entscheidung zu rechtfertigen, nicht auf ihn zurückzugreifen. Kapiert?«
»Dann möchtest du also, dass ich zurückkomme und dir erzähle, dass er unbrauchbar ist?«
»Ehrlich gesagt rechne ich damit, dass du zurückkommst und mir erzählst, dass er ein bekloppter pensionierter Akademiker mit langen Haaren ist, der zu viel trinkt, einen stinkenden Hund besitzt und Löcher in seiner Strickjacke hat, aber gern von netten jungen Polizisten Besuch bekommt. Irgendwas in dieser Richtung wäre gut.«
Als Fry wegging, deutete Murfin auf eine Seite in seinem Sergeant-Paukbuch, die mit einem gelben selbstklebenden Zettel eingemerkt war. »›Ein Vorgesetzter sollte immer darauf vorbereitet sein, jede seiner Entscheidungen zu rechtfertigen‹«, las er vor. »Siehst du, das hätte ich auch gewusst.«
»Hey«, sagte Cooper, »hast du zufällig das große Wörterbuch gesehen, als du die Präsenzbibliothek geplündert hast?«
»Das steht da drüben im Regal.«
»Danke.«
Cooper nahm das Buch aus dem Regal und blätterte die Seiten um. Da war es – Thanatologie: Die wissenschaftliche Untersuchung des Todes und der damit verbundenen Phänomene und Praktiken.Vom altgriechischen Thanatos, der Tod.
Reizend. Sein Professor war ein waschechter Dr. Tod.
 
 
Ellen Walker wohnte in einem Reihenmittelhaus in einer Steinhäuserzeile aus dem neunzehnten Jahrhundert, die in der Nähe der Pfarrkirche stand. Das letzte Haus in der Reihe war irgendwann einmal zu einem Laden umgebaut worden, doch jetzt waren seine Rollläden geschlossen, und es gab keinerlei Anzeichen, was dort früher verkauft worden war. Den Spitzenvorhängen an den Fenstern im ersten Stock nach zu urteilen, war die Wohnung über dem Laden noch bewohnt. Ein Gemüse- oder Eisenwarenhändler im Ruhestand vielleicht, dem ein Tesco-Supermarkt oder der riesige B & Q-Baumarkt am Stadtrand das Geschäft verdorben hatte.
Durch die Milchglasscheiben in der Eingangstür von Hausnummer 15 erhaschte Cooper einen verzerrten Blick in den Flur. Die Jalousien an allen vier Fenstern zur Straße waren so weit heruntergelassen, dass sie die Oberlichter verdeckten.
»Mrs. Walker?«, sagte Cooper, als eine Frau mittleren Alters die Tür öffnete.
»Sind Sie von der Polizei?«
»Detective Constable Cooper, Mrs. Walker.«
»Nennen Sie mich Ellen.«
»Vielen Dank, dass Sie uns angerufen haben. Kennen Sie die Umstände, warum wir die Gesichtsrekonstruktion haben anfertigen lassen?«
»Tja, ich habe das Foto in der Zeitung gesehen. Meine Nachbarin hat es mir gezeigt. Ich habe nicht ganz verstanden, warum es abgedruckt war, aber ich bin mir ziemlich sicher...«
»Lassen Sie uns zuerst noch mal einen Blick darauf werfen, ja?«
Cooper gefiel das »ziemlich sicher« nicht besonders gut. Es war bestimmt besser, die Zeugin langsamer zu ihrer Schlussfolgerung kommen zu lassen.
Ellen Walker schien es nervös zu machen, dass sie Besuch von einem Polizisten bekam. Das war so erfrischend, dass Cooper für einen Augenblick vergaß, dass es häufig ein Anzeichen für Schuld war. Er betrachtete den offenen Kamin im viktorianischen Stil mit erhöhter Kaminsohle aus Schieferstein. Enttäuschenderweise brannte darin ein Gasfeuer mit Kohleattrappen, das gar nichtsViktorianisches hatte. Die Fenster führten zur Straße, doch durch die Küche sah er einen Wintergarten, der zu einem von niedrigen Sandsteinmauern umschlossenen Innenhof führte.
»Die Qualität des Abdrucks in der Zeitung war womöglich nicht besonders gut. Das hier ist das Original, Ellen. Lassen Sie sich Zeit und sehen Sie es sich genau an. Bedenken Sie dabei, dass einige der Details vielleicht nicht genau stimmen. Die Frisur, zum Beispiel.«
Mrs. Walker studierte gehorsam die Aufnahme. »Die Frisur ist eigentlich gar nicht so verkehrt.«
»Sind Sie sicher, dass es sich um Ihre Cousine handelt?«
»Ziemlich sicher.«
Cooper seufzte. Ziemlich sicher war nicht viel, musste aber vorerst genügen.
»Die anderen Angaben stimmen«, sagte Mrs. Walker. »Audrey war zweiundvierzig und ein paar Zentimeter größer als ich.«
»War Audrey verheiratet?«
»Eine Zeit lang. Sie lernte einen Typen namens Carl kennen, der auf einer Bohrinsel vor der Küste arbeitete. Er war ganz in Ordnung, aber die beiden lebten sich nach einer Weile auseinander. Ich glaube, er ging nach Deutschland, nachdem die Scheidung durch war.«
»Könnten Sie uns seine Adresse geben, wenn wir sie bräuchten?«, erkundigte sich Cooper.
»Vermutlich schon.« Mrs.Walker runzelte die Stirn. »Audrey und ich standen uns immer sehr nahe, wissen Sie. Ihre Mutter ist meine Tante Viv, die Schwester meiner Mutter. Audrey war meine erste Brautjungfer, als ich geheiratet habe.«
»Ausgezeichnet. Also könnte man behaupten, dass Sie sie sehr gut kannten.«
»Das habe ich doch bereits gesagt.«
»Und wann ist Audrey Steele verschwunden?«, fragte Cooper.
Ellen Walker starrte ihn an. »Verschwunden?«
»Wann wurde sie zuletzt gesehen? Sie ist nicht in unserem Vermisstenregister verzeichnet. Aber anscheinend muss sie mindestens seit Februar oder März letzten Jahres verschwunden sein.«
»Sie ist nicht verschwunden. Sie ist gestorben.«
»Ja, wir wissen, dass sie gestorben ist«, sagte Cooper geduldig. »Wir wissen jetzt, dass sie gestorben ist. Aber bevor irgendjemand wusste, was ihr zugestoßen ist, muss sie doch vermisst worden sein.«
»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen«, sagte Ellen Walker nervös. »Audrey ist gestorben. Sie hatte eine Gehirnblutung und ist gestorben.«
Jetzt war Cooper an der Reihe zu starren. »Woher wissen Sie, woran sie gestorben ist?«
»Das stand auf der Sterbeurkunde.«
»Was?«
»Ihre Mutter hat sie bestimmt irgendwo aufbewahrt, wenn Sie sie sehen möchten.«
Mit einiger Mühe versuchte Cooper, seine Gedanken zu ordnen und zu verarbeiten, was Mrs.Walker ihm gerade gesagt hatte. »Wir sprechen doch über Audrey Steele, oder?«
»Ja, natürlich.«
»Ellen, wann genau ist Ihre Cousine gestorben?«
»In der zweiten Märzwoche letzten Jahres. Sie wurde in Edendale eingeäschert. Ein fürchterlicher Tag war das. Den ganzen Nachmittag Schneeregen.« Die Erinnerung ließ Ellen Walker frösteln. »Es gibt nichts Schlimmeres als Schneeregen, nicht wahr? Man friert und fühlt sich bis auf die Knochen durchnässt.«
Todesstatte
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