19
Auf dem Weg nach Cressbrook am nächsten
Morgen sah Ben Cooper das Kuppeldach der alten Spinnerei im
Sonnenlicht funkeln. Hier hatte einst eine Glocke die Arbeiter aus
ihren Cottages in der Apprentice Row zur Arbeit gerufen. Das sollte
jedoch der letzte Sonnenstrahl sein, den er an diesem Vormittag zu
sehen bekam. Noch bevor er bei der Spinnerei ankam, hatte sich die
Wolkendecke wieder geschlossen, und der Regen kehrte zurück.
Die Straßen hier unten waren alle einspurig, und
nur an einigen Stellen waren Ausweichbuchten in die Böschung
gegraben worden, damit zwei Autos vorsichtig aneinander
vorbeifahren konnten. Das verlangte natürlich nach einem hohen Maß
an Rücksicht bei den Fahrern. Doch solange keine Touristen in den
Ausweichbuchten parkten, um Fotos zu machen, funktionierte diese
Regelung problemlos.
Cooper stellte erfreut fest, dass die beiden
ehemaligen Spinnereien in diesem Teil des Wye Valley nach Jahren
der Verwahrlosung zu schicken Wohnanlagen umgebaut worden waren.
Die Entfernung zwischen den zwei Spinnereien betrug nur etwa eine
Dreiviertelmeile oder etwas mehr, wenn man den Windungen und Wehren
des River Wye folgte. Die Litton Mill, die sich ein Stück
flussaufwärts befand, war im neunzehnten Jahrhundert, als sie sich
noch im Besitz der Familie Needham befunden hatte, für die
Ausbeutung von Kindern berüchtigt gewesen. Waisenkinder aus London
waren zur Arbeit in der Spinnerei gezwungen worden, und durch
Züchtigung und Misshandlungen waren so viele Kinder gestorben, dass
die Needhams ihre Leichname zur Bestattung in andere Pfarrbezirke
bringen ließen, um das Ausmaß der Misshandlungen zu
vertuschen.
Cressbrook dagegen war das genaue Gegenteil
gewesen, ein Zeugnis der aufgeklärten Einstellung des
autodidaktisch gebildeten Zimmermanns William Newton. Er hatte
seine Spinnerei im Stil eines prunkvollen georgianischen
Herrenhauses bauen lassen, mit einer Dorfschule und mehreren Reihen
hübscher Cottages mit Sprossenfenstern für seine Arbeiter. Hatten
Newtons Mieter sehen können, wie das Blut der minderjährigen
Arbeitskräfte seines Konkurrenten flussabwärts und über das Wehr
floss? Den Bewohnern der neuen Appartements in der Litton Mill
zuliebe hoffte Cooper, dass die Toten ruhig schliefen.
Oberhalb von Cressbrook machte die Straße, die den
steilen Hügel hinaufführte, eine ziemlich knifflige Haarnadelkurve.
Und ein paar Meter unterhalb dieser Kurve zweigte die Straße ins
Ravensdale-Tal ab. Sie war zum Teil geteert, allerdings nur bis zu
den Ravensdale Cottages, den alten Häusern der Spinnereiarbeiter,
die in der Gegend als »The Wick« bekannt waren. Die Cottages waren
winzig, und zwölf von ihnen standen sich in zwei Reihen auf einem
abschüssigen Streifen Erde gegenüber. Sie waren aus
Kalksteinblöcken errichtet worden, mit einer Treppe, die zur
Eingangstür führte, hatten bleiverglaste Rundbogenfenster, und an
ihren Außenwänden rankte Schlingknöterich.
Die Straße durch das Ravensdale-Tal war immer noch
feucht, obwohl es schon vor Stunden aufgehört hatte zu regnen und
die Sonne auf die höher gelegenen Hänge schien. Am oberen Ende des
Tals war es so still, dass Cooper die Stimmen von zwei
Felskletterern hören konnte, die sich gegenseitig Anweisungen
zuriefen, während sie in der Wand des Ravenscliffe Crag
hingen.
Hinter den Cottages schlängelte sich ein
schlammiger Pfad in Richtung Norden, hinauf ins Cressbrook-Tal bis
zum Peter’s Stone und hinüber nach Wardlow. Auf der rechten Seite
zweigte ein Weg durch die Felder ab und folgte dem Bach. Das Laub
des vergangenen Jahres, das in Haufen neben dem Weg verrottete, war
von den Reifen vorbeikommender Fahrzeuge zu braunem Matsch
zerquetscht worden.
Eine Gruppe von Wanderern kam vorbei. Ihre
Windjacken und ihre wasserdichten Hosen raschelten, und ihre
Stiefel knirschten auf den feuchten Steinen und landeten platschend
in den Pfützen. Alle vier hielten den Kopf gesenkt und blickten auf
ihre Füße. Auf diesem Streckenabschnitt wurde nicht gesprochen.
Vielleicht sparten sie sich ihren Atem für den Anstieg auf der
anderen Seite des Tals auf, wo der Pfad noch matschiger und
gefährlicher war.
Als Cooper den Weg hinunterfuhr, wurden die Flanken
des Tals niedriger, die Felsen verschwanden, und die Stimmen der
Kletterer verhallten im Hintergrund.
In den Wäldern unterhalb von Litton Foot war die
Suche wieder aufgenommen worden. Fry war bereits vor Ort und sprach
mit dem Anthropologen, Detective Inspector Hitchens hingegen war
offenbar eben erst angekommen. Hoch in den Bäumen hingen
Nebelschwaden, und durch das Laubwerk plätscherte ununterbrochen
Wasser herab. Kaum war Cooper aus dem Auto ausgestiegen, da spürte
er bereits die kühle Feuchtigkeit im Gesicht.
»Was ist los?«, fragte Hitchens, als Fry sich den
Weg über den unebenen Boden zu ihnen bahnte.
»Das Uniteam hat Bedenken, ob sich die sterblichen
Überreste unversehrt bergen lassen, weil die Vegetation durch die
Knochen gewachsen ist. Sie sagen, dass die Wurzeln ziemlich fest
sitzen und die Knochen womöglich auseinanderfallen werden, wenn sie
versuchen, sie zu bewegen.«
»Und was schlagen sie dann vor?«
»Sie möchten etwas tiefer graben und die oberste
Schicht Erdreich zusammen mit der Vegetation am Boden in einem
Stück abtransportieren, damit sie das Ganze dann im Labor
auseinandernehmen können, ohne die Knochen zu beschädigen.«
»Ist das überhaupt möglich?«
»Angeblich schon. Schlimmstenfalls müssen sie die
Leiche irgendwo an der Wirbelsäule in zwei Teile schneiden. Sie
sagen, dass sie zwischen Knochenverletzungen zum Todeszeitpunkt und
postmortalen Beschädigungen durch Wurzelwuchs unterscheiden
müssen.«
»Welche Lösung ist Ihrer Meinung nach die
kostengünstigste?«, fragte Hitchens.
»Vermutlich ist das Labor billiger, als all diese
Leute vor Ort arbeiten zu lassen.«
»Bessere Ergebnisse bekommen wir auf diese Weise
ebenfalls«, rief der Anthropologe, der mitgehört hatte. »Falls Sie
das überhaupt interessiert.«
Hitchens drehte sich weg. »Solange es ihr Labor
ist«, sagte er. »Ich würde der Gerichtsmedizin nur ungern eine
solche Sauerei vorsetzen.«
»Ich denke, wir müssen uns nach ihnen richten, wenn
wir irgendwelche Ergebnisse haben möchten«, sagte Fry.
»Finden Sie nicht auch, dass die Kriminaltechniker
manchmal mehr Schwierigkeiten machen, als nützlich zu sein?
Außerdem sind sie Gift für unser Budget.«
»Ja, Sir. Aber leider sind sie diejenigen, denen
die Richter heutzutage glauben, und nicht wir.«
Cooper stellte fest, dass ihnen benachbarte
Polizeikräfte einen speziellen Suchhund zur Verfügung gestellt
hatten, der darauf geschult war, menschliche Überreste aufzuspüren.
Gerüchten zufolge wurden diese Hunde irgendwo im Westen Schottlands
ausgebildet, wo sie Schweinekadaver finden mussten, die in
Polizeiuniformen vergraben wurden. Angeblich kam der Geruch von
verwestem Schweinefleisch dem bei der Verwesung eines Menschen
entstehenden Gestank am nächsten. Aber die Geschichte mit den
Polizeiuniformen war doch bestimmt nicht ernst gemeint, oder?
Cooper nutzte die Gelegenheit, um mit dem
Hundeführer ins Gespräch zu kommen. Er interessierte sich dafür,
worauf andere Leute spezialisiert waren. Eines Tages würde er sich
wahrscheinlich selbst spezialisieren müssen. Vor ungefähr einem
Jahr war er der Rural Crime Unit, einer Spezialeinheit für
ländliche Verbrechen, zugeteilt worden, und er hatte damit
gerechnet, dass dies der erste Schritt in Richtung einer Versetzung
sei. Seitdem war das Thema jedoch nicht mehr zur Sprache gekommen,
und Nachforschungen anzustellen, das hätte bedeutet, das Schicksal
herauszufordern.
»Diese Hündin ist großartig«, sagte der
Hundeführer. »Ihre Nase ist wie ein Radargerät. Sie kann eine
verweste Leiche am Grund eines Sees aufspüren, indem sie an den
Luftblasen an der Oberfläche schnüffelt.«
»Sie machen Scherze.«
Cooper betrachtete den Deutschen Schäferhund, der
ruhig neben seinem Führer saß. Eigentlich war das, was der Hund mit
seiner Nase vollbrachte, besser als jedes Radargerät, doch ihm fiel
nichts ein, womit man es sonst hätte vergleichen können.
»Aber es geht nicht nur darum, mit dem Hund umgehen
zu können«, erklärte der Hundeführer. »Archäologische Kenntnisse
sind in diesem Job ebenfalls von Nutzen. Wir sind darin
ausgebildet, Veränderungen in der Vegetation und der Landschaft zu
erkennen, die von vergrabenen Leichnamen verursacht wurden.«
»Wie funktioniert das?«
»Na ja, über einem Grab wird die Vegetation
zunächst vergiftet, weil das Erdreich zu viele Rohnährstoffe
enthält. Die stammen von dem Leichnam.«
»Aha.«
»Aber im Lauf der Zeit lösen sich die Nährstoffe
auf, und der Pflanzenwuchs wird ungewöhnlich üppig. Also kann ein
auffallend grüner Fleck in einer karg bewachsenen Gegend ein
Hinweis auf ein Grab sein.«
Cooper musterte den Hundeführer. Der Mann sprach
einen schottischen Dialekt, doch das verlieh dem Schweine-Gerücht
nicht unbedingt Glaubwürdigkeit. Er trug nicht einmal Uniform,
sondern einen blauen Overall.
»Das ergibt einen Sinn.«
»Es trifft allerdings nicht immer zu. Wir haben
auch schon erlebt, dass die Vegetation wieder völlig normal aussah,
obwohl die Leiche erst wenige Wochen zuvor vergraben wurde. Es ist
unglaublich, wie schnell das gehen kann. Dann hat man ein echtes
Problem.«
Sie sahen beide zum Wald hinunter, wo das Team der
Universität und die Spurensicherung noch immer an der Arbeit
waren.
»Wissen Sie«, sagte der Hundeführer, »manchmal
kommt es einem so vor, als würde die Landschaft Leichen einfach
verschlucken und im Lauf der Zeit vollständig verdauen.«
Fry kam zu Cooper herüber und lotste ihn von dem
Hundeführer weg. »Die Experten sind der Meinung, dass es sich bei
den fehlenden Knochen um eine natürliche Begleiterscheinung der
Skelettierung einer Leiche handeln könnte«, sagte sie, als habe er
sie danach gefragt. »Es sind keine Haut und keine Muskeln mehr
vorhanden, die sie zusammenhalten. Aber ich glaube trotzdem, sie
wurden gewaltsam vom Skelett getrennt. Meinst du nicht?«
»Denkst du, jemand könnte das Skelett zufällig
gefunden und beschlossen haben, ein paar Trophäen mitzunehmen,
anstatt den Fund zu melden?«
»Möglich wäre es. Aber du weißt ganz genau, dass es
auch jemand gewesen sein könnte, der wusste, dass sich die
Überreste dort befanden, und einfach auf den richtigen Zeitpunkt
gewartet hat.«
»Und wer würde so was tun?«
»Jemand, der vom Tod fasziniert ist.«
»Denkst du, er könnte Audrey Steele gewürgt haben,
nachdem sie bereits tot war?«
»Warum hätte er sonst das Zungenbein mitnehmen
sollen?«
»Wir wissen ja nicht, ob er es mitgenommen hat. Wir
wissen nur, dass es fehlt, das ist alles. Im Bericht des
Anthropologen steht, dass es vielleicht auch ein Tier verschleppt
haben könnte. Eine Ratte oder ein Fuchs. Oder ein Vogel – er hat
gesagt, dass es auch ein Vogel gewesen sein könnte. Diane, dieser
Knochen könnte inzwischen überall sein.«
»Er kehrt immer wieder zu der Leiche zurück«, sagte
Fry bestimmt. »Wenn irgendjemand diesen Knochen mitgenommen hat,
dann er.«
»Wie viele Leute würden ein Zungenbein erkennen,
wenn sie eines sehen? Wie viele wissen überhaupt, dass es
existiert?«
Doch Fry ließ sich nicht irritieren. »Jeder, der
ein bisschen Ahnung von Anatomie hat. Das heißt, jeder, der
Erfahrung mit Leichen hat.«
Einen Augenblick lang beobachteten sie, wie sich
das Team der Universität wieder mit Spaten an die Arbeit machte und
der Hund weiter unten am Hang den Boden absuchte.
»Diane, ich habe über Tom Jarvis nachgedacht«,
sagte Cooper. »Er hat vier Hunde, die auf seinem Grundstück unten
bei Litton Foot frei rumlaufen. Na ja, inzwischen sind es nur noch
drei. Und er hat sie schon eine ganze Weile – von klein auf.«
»Und?«
»Wie kann es sein, dass ihn keiner von ihnen auf
eine verweste Leiche aufmerksam gemacht hat, die ein paar Meter
neben seiner Grundstücksgrenze lag? Auch wenn ihm selbst der Geruch
nicht aufgefallen ist, den Hunden kann er doch unmöglich entgangen
sein.«
»War die Leiche während der Verwesung der Luft
ausgesetzt?«
Cooper zögerte. »Als sie gefunden wurde,
schon.«
»Aber zu diesem Zeitpunkt war sie ja bereits
skelettiert.«
»Ja. Die Sache ist nur, wir sind davon ausgegangen,
dass sie die ganze Zeit über der Luft ausgesetzt war. Das würde zum
zeitlichen Rahmen passen, zum raschen Tempo der Skelettierung. Aber
im Anfangsstadium muss der Gestank ziemlich übel gewesen sein. Er
muss sich weit verbreitet haben, vor allem, wenn er vom Wind
fortgetragen wurde. Dafür bräuchte man keinen Hund, der darauf
geschult ist, menschliche Überreste aufzuspüren. Jeder Köter mit
einem funktionierenden Geruchssinn wäre darauf aufmerksam
geworden.«
Sie gingen ein paar Schritte weiter, und Fry
schwieg, während sie Cooper seinen Gedankengang zu Ende führen
ließ. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
»Andererseits, wenn die Leiche ursprünglich
zugedeckt oder in irgendwas eingewickelt war, hätte sich zwar der
Geruch in Grenzen gehalten, aber dann wäre auch die Verwesung
langsamer vorangeschritten.«
»Daraus ließe sich noch etwas anderes folgern«,
sagte Fry.
»Ja, ich weiß. Das würde auf jeden Fall bedeuten,
dass jemand an den Schauplatz zurückgekehrt ist – und die Leiche
freigelegt hat. Dem Laborbericht zufolge gibt’s allerdings
keinerlei Hinweise darauf, dass sich ein Mensch an den sterblichen
Überresten zu schaffen gemacht hat.«
»Wir könnten die Spurensicherung bitten, die
Fundstelle noch mal unter die Lupe zu nehmen.«
»Diesmal mit einem feinen Kamm?«
Fry legte ihm die Hand auf den Arm. »Mit besonderem
Augenmerk auf Spuren von Gewalteinwirkung jüngeren Datums, Ben.
Beim letzten Mal haben sie es als historische Stätte betrachtet.
Wahrscheinlich sind sie davon ausgegangen, dass sie sich als
Archäologen betätigen sollen.«
»Manchmal bin ich der Meinung, dass man für
bestimmte Leute den Galgen wieder einführen sollte«, sagte Tom
Jarvis, als Cooper ihm einen Besuch in Litton Foot abstattete.
»Oder irgendwas, das noch schlimmer ist als Hängen.«
Jarvis hatte in einem Schuppen neben seinem Haus
gearbeitet. Inmitten des darin untergebrachten Werkzeugs entdeckte
Cooper auch einen Schraubstock und eine Drehbank. Durch die offene
Tür strömte der Geruch von frischen Holzspänen nach draußen.
»Noch schlimmer, Sir?«
»Angeblich gab es früher hier in der Gegend noch
andere Methoden. Damals wurde mit Mördern und anderen Verbrechern
kurzer Prozess gemacht.«
»Das ist aber lange her, Mr. Jarvis.«
Jarvis schnaubte und klatschte in die Hände, um
einige helle Holzkringel von seinen Arbeitshandschuhen zu
entfernen.
»Kennen Sie den großen Felsen am östlichen Kamm,
ganz am Anfang des Cressbrook-Tals?«
Er deutete das Tal hinauf. In der Ferne war gerade
noch die vereinzelte Kalkstein-Felsnase zu erkennen, die Cooper ein
paar Tage zuvor aufgefallen war. Von hier aus sah sie beinahe
quaderförmig aus, wie der letzte zersplitterte Backenzahn in einem
Mund, in dem der Zerfall bereits weit fortgeschritten war.
»Ja, der ist mir aufgefallen. Das ist der Peter’s
Stone, nicht wahr?«
»Tja, das ist der Name, der in den Karten steht«,
sagte Jarvis. »Aber hier in der Gegend wurde er schon immer Gibbet
Rock genannt.«
Cooper starrte ihn an, während er die unerwarteten
Worte verarbeitete. »Sagten Sie ›Gibbet‹? Er wurde ›Galgenfelsen‹
genannt?«
»Und er wird immer noch so genannt, zumindest von
denjenigen, die sich erinnern.«
Jarvis ging wieder in den Schuppen und zog seine
Handschuhe aus. Er blickte überrascht auf, als Cooper ihn am Arm
packte.
»Sich woran erinnern, Mr. Jarvis?«
»Na ja, es heißt, dass dort die letzte Hinrichtung
durch Erhängen stattgefunden hat. Das habe ich gemeint.«
Cooper ließ die Hand sinken und schämte sich für
seine Reaktion. »Erzählen Sie weiter.«
»Anthony Lingard – so hieß der junge Bursche. Er
wurde wegen Mordes an dem Mautstellenwärter bei Wardlow Mires
hingerichtet. Anschließend wurde er in einem Eisenkäfig an dem
Felsen aufgehängt, damit ihn jeder sehen konnte.«
»Wann war das?«
»Im Jahr der Schlacht bei Waterloo, heißt
es.«
»Dann muss es also 1815 gewesen sein.«
Jarvis zuckte mit den Schultern. Damit schien er
sagen zu wollen, dass die Einzelheiten keine Rolle spielten. Es
hätte ebenso gut gestern passiert sein können.
»Tja, jemanden so an den Galgen zu hängen, das war
früher eine ziemliche Attraktion«, sagte Jarvis. »Damals gab es
noch kein Fernsehen, wissen Sie. Es sind so viele Leute gekommen,
um sich Lingard anzuschauen, dass die schlauen Burschen aus der
Gegend in der Nähe des Felsens Buden aufgestellt haben. Sie haben
Hotdogs und Ansichtskarten verkauft, oder was es damals so gab. Das
ist natürlich nicht lange gut gegangen.«
»Warum?«
»Als die Leiche anfing zu verwesen, hat das
Spektakel seinen Reiz verloren.«
Cooper nickte. In Derbyshire lebten solche Episoden
in der Landschaft weiter, der Nachwelt überliefert durch Mahnmale
wie den Gibbet Rock. Die Hinrichtung von Anthony Lingard hätte
tatsächlich erst gestern stattfinden können. Für diejenigen, die
sich erinnerten.
»Sie sind doch sicher aus einem bestimmten Grund
hier«, sagte Jarvis. »Ich nehme an, Sie haben wichtigere Dinge zu
tun als ich.«
»Mr. Jarvis, Sie haben mir erzählt, dass Sie Ihre
Hunde früher frei im Wald herumlaufen ließen. Warum dürfen sie das
jetzt nicht mehr?«
»Ich habe es ihnen nicht verboten. Der Besitzer des
Anwesens hat neue Zäune aufstellen lassen. Deshalb laufen die Hunde
nicht mehr in den Wald.«
»Und wann genau war das?«
»Hm, keine Ahnung. Vorletztes Jahr
wahrscheinlich.«
»Könnten wir uns den neuen Zaun mal ansehen?«
»Wenn Sie wollen. Aber da gibt’s nicht viel zu
sehen. Es ist nur ein Zaun.«
Jarvis führte ihn über den Pfad durch den Garten
und betrat die Koppel durch ein Seitentor. Zwei der Hunde liefen
sofort mit hängenden Zungen und vor Aufregung rollenden Augen auf
sie zu. Jarvis streckte die Hand aus, obwohl er noch immer seine
Arbeitshandschuhe trug.
»Na du, Feckless«, sagte er und rieb einem der
Hunde das Ohr. »Das da bei Ihnen ist Aimless.«
Aimless klebte mit der Nase buchstäblich an Coopers
Stiefeln. Sie schnüffelte wie ein Bluthund und hätte beinahe die
Enden seiner Schnürsenkel eingeatmet. Cooper wagte es kaum, die
Füße zu heben, weil er fürchtete, dem Hund dabei in seine
neugierige Schnauze zu treten.
»Keine Sorge«, sagte Jarvis, als er sein Zögern
bemerkte. »Wo kein Verstand ist, ist auch kein Gefühl.«
Der alte Zaun auf der Ostseite des Baches war an
verschiedenen Stellen umgestürzt und voller Löcher, die groß genug
waren, dass einer von Tom Jarvis’ Hunden oder sogar Jarvis selbst
durchgepasst hätte. Doch etwa dreißig Meter oberhalb, in der Nähe
des Scheitelpunkts des Hanges, stand ein neuer Zaun aus dicken
Holzpfosten und geschweißtem Drahtgeflecht, über den als oberer
Abschluss Stacheldraht gespannt war. Man hatte den Eindruck, als
habe das Anwesen seine Grenzen zurückversetzt und den seit kurzem
zugänglichen Bereich abgetreten. In anderen Gegenden hatte die
Nationalparkverwaltung Zaunübertritte aufgestellt, um den Zugang zu
ermöglichen, doch das war hier nicht nötig gewesen.
»Hier gibt’s kein Durchkommen«, sagte Cooper.
»Ich würde da auch nicht unbedingt drüberklettern
wollen«, erwiderte Jarvis.
»Ist das ganze Anwesen neu eingezäunt worden, als
dieser Zaun hier aufgestellt wurde?«
»Nein. Dort, wo das Grundstück an Straßen angrenzt,
stehen Steinmauern. Die sind drei Meter hoch. Sie wurden vor langer
Zeit gebaut, um das gewöhnliche Volk auszusperren. An anderen
Stellen stehen Viehzäune, und die Farmer achten darauf, dass sie
gut in Schuss sind. Nein, anscheinend haben die sich nur um die
Wälder Gedanken gemacht. Wahrscheinlich hat ihnen die Vorstellung
nicht gefallen, dass irgendjemand reinspazieren und Spaß dabei
haben könnte.«
»Sind denn vorher Leute in die Wälder
gegangen?«
»Oh, ja. An der oberen Grenze meines Grundstücks
gibt’s einen Fußweg. Er führt oben über den Kamm und dann wieder
runter ins Miller’s-Dale-Tal. Wenn man allerdings wusste, wo der
Zaun umgefallen war, konnte man auch durch den Wald hineingehen.
Ich habe hin und wieder jemanden gesehen. Nachts, wissen
Sie.«
»Wilderer?«
»Höchstwahrscheinlich. Ich habe ihnen nie
irgendwelche Fragen gestellt. So blöd bin ich auch wieder
nicht.«
»Hält der neue Zaun sie ab?«
Jarvis schnaubte abermals. »Wilderer lassen sich
nicht so leicht abhalten, heutzutage nicht mehr. Das sind Profis,
die in Teams arbeiten und komplett ausgerüstet sind. Kein Wildhüter
würde es heutzutage allein mit einem Wilderer aufnehmen. Er würde
Gefahr laufen, den Schädel eingeschlagen zu bekommen.«
»Ja, ich weiß.«
Die Anwesenheit einer Bande von Wilderern erklärte
unter Umständen alles. Da sie höchstwahrscheinlich nicht aus der
Gegend stammten, würde sie niemand erkennen. Sie waren vermutlich
bewaffnet und nicht erfreut darüber, wenn sich der ungestüme Hund
von jemand anderem in ihre Angelegenheiten einmischte. Wenn man die
Wilderei auf dem Anwesen bemerkt hatte, erklärte das auch den neuen
Zaun. Doch welche Art von Wild lebte in diesen Wäldern, dass sich
Wilderei lohnte? Es gab dort sicher nichts anderes außer ein paar
Hasen, oder etwa doch?
Cooper blickte sich um. Hier unten war die Wand so
dick mit Moos überzogen, dass es aussah, als habe ihr jemand einen
leuchtend grünen Pullover gestrickt und sie in eine dicke Schicht
Arranwolle gehüllt. Eine Vertiefung in den Felsen oberhalb des
Weges war vollständig mit Moos bedeckt und von Farn behangen und
glich einem Wasserfall ohne Wasser – abgesehen von der ständigen
Feuchtigkeit, die aus der Oberfläche sickerte. Er fragte sich, ob
ein Teil der Pilze der Spezies angehörte, die eine Säure
absonderte, um damit Felsen aufzulösen und in Erde zu verwandeln.
Letztendlich wurde alles zersetzt.
Sie begannen den Aufstieg zurück zum Haus. Von
unten betrachtet, schien die massive Veranda das Haus zu strecken.
Es sah bucklig und geduckt aus wie ein Tier, das zum Sprung
ansetzt. Cooper fiel wieder ein, was er Tom Jarvis noch fragen
wollte.
»Mr. Jarvis, Sie haben mehrere Hunde auf Ihrem
Grundstück«, sagte er.
Jarvis sah die Hunde an, dann wieder Cooper.Warum
sollte er Wörter verschwenden? Cooper hatte bereits einen ganzen
Satz verschwendet.
»Ich habe gerade einen Suchhund in Aktion
beobachtet.«
Jarvis zog mit den Zähnen einen seiner Handschuhe
aus, dann streifte er den anderen ab und steckte beide in die
Tasche, als ob er sich auf einen Einsatz vorbereitete – oder als ob
ihn die Unterhaltung langweilte. Cooper spürte, dass er jeden
Moment völlig die Konzentration verlieren würde.
»Ich frage mich nämlich, Sir«, sagte er, »warum
keiner Ihrer Hunde den Gestank einer verwesten Leiche bemerkt hat,
die monatelang an Ihrer Grundstücksgrenze gelegen hatte.«
»Keine Ahnung. Da sollten Sie lieber die Hunde
fragen.«
»Den meisten Hunden würde so etwas auffallen. Der
Geruch ist eine Zeit lang äußerst intensiv. In einigen Stadien der
Verwesung ist er wirklich unverwechselbar.«
»Ich lasse sie nicht in den Wald«, erwiderte Jarvis
ungeduldig. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie da nie reingehen.
Na ja, bis auf das alte Mädchen, und Sie wissen ja, was mit ihr
passiert ist.«
»Trotzdem...«
»Hören Sie, ich habe wirklich keine Ahnung.
Vielleicht hat sie der Gestank von Kacke abgelenkt.«
»Der Leichnam hat achtzehn Monate lang dort
gelegen«, sagte Cooper. »Die Tasche hat erst vor ein paar Tagen
jemand abgestellt.«
Jarvis blickte mit finsterer Miene über das Tal.
»Hier liegt eine Menge Scheiße in der Gegend rum.«
»Mag sein.« Cooper war sich darüber im Klaren, dass
er keinen Schritt weiterkommen würde, ohne Jarvis gegen sich
aufzubringen. »Was haben Sie eigentlich mit den Exkrementen
gemacht, die Sie gefunden haben?«
»Was ich damit gemacht habe?«, fragte Jarvis
verwundert. »Was soll ich denn schon damit gemacht haben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich habe sie auf den Komposthaufen geworfen. Gute
Kacke sollte man nicht vergeuden.«
»Und ist sie noch dort?«
»Natürlich ist sie das. Es sei denn, irgend so ein
Penner hat sich nachts reingeschlichen und sie mitgehen lassen.
Heutzutage kann man ja nie wissen.«
»Dürfte ich Sie bitten, sie noch eine Zeit lang
dort zu lassen, Sir?«
Jarvis starrte ihn an. »Sie wird einfach
verrotten«, sagte er. »Das ist der Sinn und Zweck von einem
Komposthaufen.«
»Ich würde gerne jemanden vorbeischicken, der eine
Probe nimmt. Für den Fall, dass wir die Chance bekommen, ein
DNA-Profil für Vergleichszwecke zu erstellen.«
»Ein DNA-Profil?«
»Ja, Sir.«
Doch Jarvis wirkte weiterhin skeptisch. Cooper
konnte es ihm nicht verdenken. Er stufte seine Chancen selbst nicht
allzu hoch ein, dafür eine Genehmigung zu erhalten oder einen
Spurensicherer davon überzeugen zu können, dass die Angelegenheit
hohe Priorität hatte. Irgendjemand würde sein Anliegen bestimmt
unter die Rubrik »Scheißjobs« einordnen.
»Ich weiß nicht viel über DNA«, sagte Jarvis
schließlich, »aber sie muss doch Zellen im Körper entnommen werden,
oder?«
»Irgendwelchen Zellen mit Nukleus«, erwiderte
Cooper. »Das ist richtig.«
»Na ja, Kacke...« Dann hielt Jarvis inne, als sei
er erstaunt, dass er es sogar Cooper erklären musste. »Kacke ist
doch Abfall, unverdautes Essen. Es ist das, was übrig bleibt, je
nachdem, was man gegessen hat. Wenn man diese Kacke testet, bekommt
man wahrscheinlich das DNA-Profil von einem Big Mac mit einer
großen Portion Pommes und Chicken-Nuggets. Natürlich laufen genug
davon auf zwei Beinen durch die Straßen von Edendale, aber was
würde Ihnen das bringen?«
»Wir würden auf ein paar Zellen hoffen, die sich
vielleicht von der Darmwand gelöst haben, als die Exkremente durch
die Gedärme gewandert sind«, erklärte Cooper geduldig.
»Meinen Sie?«
»Aber wir müssten uns ziemlich schnell darum
kümmern. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich
glaube, dass sich die DNA in Exkrementen innerhalb von wenigen
Wochen abbaut. In diesem Fall waren sie nicht der Sonne ausgesetzt,
was von Vorteil ist. Ultraviolette Strahlen bauen DNA schneller ab
als alles andere.«
»So ein Blödsinn«, sagte Jarvis. »Sie sollten
lieber was unternehmen, um den Mistkerl zu schnappen, der meinen
Hund erschossen hat.«
Cooper blickte zum Wald hinüber. »Wir statten dem
Alder-Hall-Anwesen heute Nachmittag einen Besuch ab, um zu sehen,
was dort vor sich geht.«
»Verdammt, endlich tut sich was. Tja, ich hätte
noch ein paar Balken übrig – soll ich anfangen, einen Galgen zu
zimmern?«