28
Im Büro herrschte Totenstille, als Cooper später am Nachmittag wieder in der West Street ankam. Nur Diane Fry war in der Einsatzzentrale und arbeitete einen Stapel von Gutachten ab, die sie vernachlässigt hatte. Eines der Gutachten wartete auf Cooper auf seinem Schreibtisch. Es handelte sich um einen vorläufigen kriminaltechnischen Befund zu eingeäscherten Überresten. Keine Übereinstimmungen.
»Mich würde interessieren, ob Vernon dem alten Mann jemals erzählt hat, wie schlecht Melvyn Hudson ihn behandelt«, sagte Cooper, als Fry ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte.
»Warum?«
»Manche Menschen schämen sich dafür, wenn sie regelmäßig schikaniert werden, und erzählen es niemandem. Das ist besonders bei Kindern in der Schule ein Problem. Und Vernon scheint in gewisser Weise immer noch ein Kind zu sein. Es wäre durchaus möglich, dass er sich nicht dazu durchringen kann, vor seinem Großvater zuzugeben, dass er Angst hat, sich zu wehren.«
»Vor allem deshalb, weil er jetzt die Rolle des Fürsorgenden übernommen hat?«, fragte Fry.
»Ganz genau. Vernon weiß bestimmt, dass Abraham einen starken Menschen in ihm sehen möchte. Abgesehen davon, was könnte der alte Mann schon machen, außer sich mit Hudson zu streiten?«
»Ob Vernon es sich wohl leisten könnte, seinen Job in der Firma aufzugeben?«
»Das hängt davon ab, wie viel Geld ihm sein Vater hinterlassen hat. Ihm gehört das Haus, aber das ist nichts wert, solange er es nicht verkauft. Vielleicht hat er kein anderes Einkommen.«
»Der alte Mann hat bestimmt einiges auf der hohen Kante, wenn man bedenkt, dass ihm die Hälfte der Firma gehört.«
»Glaubst du, dass Vernon darauf hofft, auch noch den alten Mann zu beerben?«
Cooper sah sie an. »Was meinst du?«
»Die beiden sind auf jeden Fall ein seltsames Paar. Irgendwas verbindet sie miteinander.«
»Sie sind miteinander verwandt. Das genügt den meisten Leuten.«
Doch Cooper dachte an seinen letzten Hausbesuch bei Vivien Gill und an ihre im Wohnzimmer versammelten Verwandten. Wenn Menschen von solchen Banden zusammengehalten wurden, war das für andere nicht immer von Vorteil.
»Oh, natürlich«, sagte Fry. »Sie sind miteinander verwandt.« Irgendwo ein paar Zimmer weiter klingelte ein Telefon, doch niemand hob ab. Cooper fühlte sich seltsam isoliert, als sei das gesamte Gebäude evakuiert worden, bis auf ihn und Fry.
»Diane, Vernon Slack hatte rote Striemen an den Händen, als ich bei ihm war. Es hat so ausgesehen, als wären seine Unterarme auch gerötet gewesen. Die Flecken waren so schlimm, dass ich zuerst gedacht habe, es wären Verbrennungen, aber er hat behauptet, er hätte einen allergischen Ausschlag.«
»Und?«
»Ich frage mich, ob das vielleicht Formaldehyd-Verbrennungen waren.«
»Von einem Arbeitsunfall?«
»Möglicherweise. Aber warum hat er es dann nicht gesagt? Und warum hat er so verängstigt gewirkt? Er hat sich auch ganz steif bewegt, als hätte er sich Prellungen zugezogen.«
»Denkst du, dass ihn jemand verprügelt und ihm die Hände in Formaldehyd getaucht hat – als Warnung oder so? ›Siehst du, Vernon, das wird mit dir passieren, wenn du nicht den Mund hältst.‹«
»Irgendwas in der Richtung.«
»Aber wer sollte so was tun?«
»Da fallen mir zwei Leute ein. Zum einen glaube ich nicht, dass Melvyn Hudson überhaupt nicht gemerkt hat, was vor sich gegangen ist. Allerdings scheint er mir nicht der Typ zu sein, der jemanden so direkt einschüchtert. Er ist zwar zweifellos ein Tyrann, aber er tyrannisiert andere Leute eher psychologisch als physisch. Er wäre durchaus imstande,Vernon Angst einzujagen, ohne ihn mit Formaldehyd zu übergießen.«
»Da stimme ich dir zu.«
»Aber dann wäre da noch Billy McGowan.«
Fry blätterte die Akten der Belegschaft von Hudson und Slack durch. »Ja, ich erinnere mich an ihn. Ein ziemlich fieser Bursche – ich würde nicht wollen, dass er sich um meinen verstorbenen Angehörigen kümmert. Allerdings sollte man keine vorschnellen Schlüsse daraus ziehen, wie jemand aussieht, nicht wahr? Mr. McGowan könnte ein promovierter Nuklearphysiker sein, der sich nur die Zeit zwischen zwei Nobelpreisen vertreibt.«
»Schon möglich.«
»Hm. Dem Police National Computer zufolge wurde er schon mehrmals wegen tätlichen Angriffs und Körperverletzung verurteilt. Alles Bewährungsstrafen, deshalb war er noch nie wirklich hinter Gittern. Laut Geheimdienst hatte er auch schon bei organisiertem Diebstahl aus Fabriken die Finger im Spiel, aber nur als Handlanger bei großen Sachen. Nur niedere Dienste, Ben.«
»Tja, ich hatte auch nicht angenommen, dass er der Kopf der Sache war.«
»Denkst du, er erledigt die Drecksarbeit im Auftrag von Hudson?«
»Na ja, dafür wird er doch im Grunde genommen bei Hudson und Slack bezahlt, oder? Wie groß ist der Schritt von dem, was er mit Toten macht, zu dem, wozu er bei Lebenden in der Lage wäre?«
Fry schien ihn nicht gehört zu haben, während sie umblätterte. »Und keine nennenswerte Ausbildung. Also hat er vermutlich doch keinen Nobelpreis gewonnen.«
»Ich würde McGowan gern ein bisschen genauer auf den Zahn fühlen, Diane.«
»Okay, tu das.«
Sie schwieg einen Moment lang, tief in Gedanken versunken. »Apropos Nobelpreis«, sagte sie schließlich, »dein Professor Robertson – wie wurde der eigentlich in den Fall miteinbezogen?«
»Er kennt ein Mitglied des Polizeikomitees, das ihn empfohlen hat, wenn ich mich recht erinnere. Ich bin ziemlich sicher, dass Mr. Hitchens das gesagt hat.«
»Ja, aber wurde Robertson gebeten zu helfen? Oder hat er sich freiwillig zur Verfügung gestellt?«
»Soll heißen, Diane?«
»Sieh mal, wir wissen doch alle, dass es einen bestimmten Typ von Widerling gibt, der einen Mord begeht und dann vor nichts zurückschreckt, um in die Ermittlungen verwickelt zu werden. Auf diese Weise kann er beobachten, was vor sich geht, und uns auslachen, wenn wir auf der falschen Fährte sind. In der Regel ist das der Typ von Widerling, der sich für viel schlauer als alle anderen hält.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Du kannst Freddy Robertson einfach nicht leiden, weil er bei dir angeeckt ist, als ihr euch das erste Mal begegnet seid.«
»Aber du kannst nicht abstreiten, dass er genau ins Profil passt, Ben«, sagte Fry. »Machen wir uns doch nichts vor – wenn es um selbstgefällige, arrogante Widerlinge geht, kann ihm keiner das Wasser reichen.«
»Das ist eben seine Art.«
»Okay. Dann hältst du es also für Zufall, dass er ein Experte auf all den Gebieten ist, die unseren Mörder interessieren?«
»Professor Robertson ist ein Fachmann für Thanatologie. Das ist der Punkt. Deshalb wurde er hinzugezogen.«
»Ich habe den Anthropologen von der Universität Sheffield angerufen«, sagte Fry. »Er hat behauptet, dass nichts davon erwiesen ist.«
»Wovon?«
»All das Zeug über Sarkophage. Er sagt, dass Archäologen bislang noch keine klaren Beweise für Bestattungsriten in dieser Zeit liefern konnten. Exkarnation war offenbar nur eine Variante. An manchen Grabstätten hat man Skelette gefunden, deren kleine Knochen entfernt und separat aufbewahrt worden waren. Aber wie wir wissen, sind das die Knochen, die am leichtesten verloren gehen, wenn ein Leichnam nach der Skelettierung bewegt wird. Der Rest ist Mutmaßung.«
»Tja, Experten sind manchmal unterschiedlicher Meinung«, sagte Cooper. »Professor Robertson scheint jedenfalls über alle Details Bescheid zu wissen.«
»Du weißt doch, wie diese Enthusiasten sind: Sie entwickeln aus selektiven Fakten ihre eigenen Theorien, und dann besteht keine Hoffnung mehr, dass man sie widerlegen kann. Sie reiten ihr Steckenpferd weiter, ganz egal, wie oft man es ihnen unter dem Hintern wegschießt.«
»Würdest du Freddy Robertson als Enthusiasten bezeichnen?«
»Wahrscheinlich. Wenn auch nur, um einer Verleumdungsklage aus dem Weg zu gehen.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, die Grenzen sind doch fließend, oder? Die Grenzen zwischen Enthusiasmus und Fanatismus.«
»Und du denkst, Robertson könnte diese Grenze überschritten haben?«
Fry zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht immer ganz so einfach zu beurteilen. Vielleicht hat er sich auch nur einen Scherz mit uns erlaubt.«
»Einen Scherz
»Da ist noch eine Sache, über die ich im Zusammenhang mit unserem Anrufer nachgedacht habe. Was seine schulische Bildung betrifft.«
»Um Krematoriumstechniker zu werden, braucht man keine Qualifikationen. Und man braucht auch kein Abitur, um einen Sarg zu tragen oder einen Leichenwagen zu fahren.«
»Genau.Wir suchen aber nach einem gebildeten Menschen, habe ich recht?«
»Tun wir das?«
»Du hast die Tonbandaufnahmen doch gehört. Eros und Thanatos. Der Lebenstrieb und der Todestrieb. Auch abgesehen von den Anspielungen auf Freud, spricht er wie ein gebildeter Mann. Wie jemand, der das Bedürfnis hat, mit seiner Bildung zu prahlen, genauer gesagt. Ich glaube, wir haben es mit einem Mann zu tun, der es genießt, sich allen anderen überlegen zu fühlen.«
»Und wer kommt deiner Definition nach in Frage?«, erkundigte sich Cooper widerwillig.
Fry ließ eine Akte auf den Schreibtisch fallen. »Melvyn Hudson hat einen Hochschulabschluss. Er hat an der Hallam University in Sheffield studiert.«
»Welches Fach?«
»Medienwissenschaften.«
»Ach, wirklich? Noch ein verhinderter Fernsehmoderator? Irgendwie kann ich ihn mir nicht als Talkshow-Gastgeber vorstellen.«
»Ich mir auch nicht.« Fry blickte auf. »Glaubst du, dass man in Medienwissenschaften Sigmund Freud durchnimmt?«
»Ich habe keine Ahnung, Diane. Aber der Ton der Botschaften ist auf jeden Fall hochgestochen genug, um zu einigen der Medienwissenschaftsstudenten zu passen, die ich kennengelernt habe.«
»Das ist doch alles Teil eines ausgeklügelten Schauspiels, oder nicht? Der Anrufer zieht eine Show ab – und wir sind sein Publikum.«
»Das könnte man so sagen. Und auf den ersten Blick ist Hudson dafür in der idealen Position.«
Fry setzte sich auf die Kante von Gavin Murfins Schreibtisch. Das war offenbar einer ihrer Lieblingsplätze, da sie von dort auf Cooper in seinem Stuhl hinabblicken konnte. Sie war ihm nahe, ohne ihm zu nahe zu sein. Sicher wusste sie, dass ihm das unangenehm war.
Sie legte eine zweite Akte auf die erste. »Und was ist mit Christopher Lloyd? Er hat einen Open-University-Abschluss in englischer Literatur.«
»Du machst Scherze.«
»Das ist mein völliger Ernst.«
»Die Menschen sind voller Überraschungen.«
In Coopers Gedanken wurde die Erinnerung an eine Stimme wach, die vor ein paarTagen in einem Kirchhof Shakespeare zitiert hatte. O schmölze doch dies allzu feste Fleisch. Hamlet, natürlich. Doch es war nicht Christopher Lloyd gewesen, der ihn zitiert hatte.
»Einiges davon trifft auch auf Christopher Lloyd zu«, sagte er. »Ich gehe davon aus, dass er die Hudsons kennt.«
»Ganz bestimmt. Sie müssen beruflich oft miteinander zu tun gehabt haben. Mich würde interessieren, ob sie auch privaten Kontakt haben. Tja, das wäre eine Sache, die wir weiterverfolgen könnten«, sagte Fry. Sie deckte die beiden Akten auf dem Schreibtisch mit einer dritten Akte zu. »Und dann wäre da noch Barbara Hudson.«
Cooper schüttelte den Kopf. »Der Anrufer war ein Mann. Daran besteht kein Zweifel.«
»Ben, als Liz Petty uns den Stimmenwandler vorgeführt hat, hat sie zu meiner Genugtuung und zur Genugtuung des Detective Inspectors bewiesen, dass die Stimme ebenso gut einer Frau gehören könnte.«
»Das stimmt, aber es ist unwahrscheinlich. Und Barbara Hudson...«
»... hat in Soziologie promoviert. Das Thema ihrer Dissertation war die Untersuchung gesellschaftlicher Einflüsse auf unterschiedliche Arten moralischer Argumentation.«
»Tatsächlich? Woher weißt du das, Diane? Hast du sie gefragt?«
»Nein, ich habe bei ihrer ehemaligen Universität in Nottingham nachgefragt.«
»Sie hat promoviert?«, sagte Cooper. »Dann ist sie also eigentlich Dr. Hudson. Sie verwendet ihren Titel aber nicht.«
»Das tun nur sehr wenige Leute. Zumindest hierzulande. Sie wissen nämlich, dass sie sonst alle für Mediziner halten und ihnen bei jeder Gelegenheit von ihren chronischen Hämorrhoiden erzählen würden.«
»Okay. Noch jemand?«
Cooper brauchte nicht lange zu überlegen. Er wusste ganz genau, dass noch eine Person in Frage kam, und sah die Akte in Frys Hand. Wortlos legte sie sie mit der Vorderseite nach oben auf den Tisch, damit Cooper die Beschriftung selbst lesen konnte.
»Tja, was für eine Überraschung«, sagte er. »Professor Freddy Robertson.«
»Du hast ja selbst Nachforschungen über ihn angestellt«, merkte Fry an.
»Ich war neugierig.« Cooper blätterte die Seiten in seinem Notizbuch zurück. »Also, er engagiert sich sehr für den Rotary Club, für das Eden-Valley-Hospiz und für die Krebsforschung.«
»Und? Öffentliche Wohltätigkeit und private Gräueltaten?«
Cooper sah von seinem Notizbuch auf. Er war sich nicht sicher, ob Fry jemanden zitierte oder nicht. Doch aufgrund der Zeit, die er mit Robertson verbrachte, war er langsam daran gewöhnt, also machte er sich nicht die Mühe, sie zu fragen.
»Seit er im Ruhestand ist, hat er ein Interesse für Thanatologie entwickelt.«
»Ja, aber...«
»Soll ich ihn anrufen?«, fragte Fry.
Cooper bekam mit, dass Freddy Robertson beinahe sofort abhob. Vielleicht verbrachte er seine Zeit damit, gespannt in der Nähe des Telefons darauf zu warten, dass ihn jemand anrief und um Rat fragte. Er freute sich über jede Gelegenheit, sein Wissen weitervermitteln zu können.
 
 
»Oh, Sergeant«, sagte Robertson, als er ein wenig später seine Haustür öffnete. »Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen schon wieder vergessen.«
»Detective Sergeant Fry, Sir.«
Der Professor lächelte. »Detective Sergeant Fry, ja.«
Fry stand im Hausflur und betrachtete die Garderobe, während sie Robertsons Geschwätz über seine edwardianische Residenz lauschte, ohne ihm dabei wirklich zuzuhören. Robertson selbst war es, was sie interessierte. Und seine Stimme. Vor allem seiner Stimme wollte sie lauschen.
»Thanatologie«, sagte sie, als er fertig war. »Was genau versteht man darunter?«
»Der Begriff geht auf Thanatos zurück, die Personifikation des Todes. In der griechischen Mythologie ist er der Sohn von Nyx, der Göttin der Nacht. Sein römisches Pendant ist Mors.«
»Oh? Inspektor Mors?«
»Nein, die lateinische Mors, die römische Todesgöttin, auf die Wörter wie Mortalität oder mortal zurückgehen.«
»Ich habe nur einen Scherz gemacht«, sagte Fry.
Robertson neigte den Kopf. »Verzeihen Sie, Sergeant, aber ich kann mit dem Humor anderer Menschen nicht immer etwas anfangen. Haben Sie vielleicht eine Anspielung auf eine bekannte Fernsehsendung gemacht?«
»Ja.«
»Solche Anspielungen gehen fast immer an mir vorüber, fürchte ich. Was die populäre Kultur betrifft, bin ich eher unbedarft.«
Er ging voraus ins Haus. Fry warf Cooper einen Blick zu. »Hat er sich gerade entschuldigt?«
»Ich glaube schon, Diane.«
»Warum kommt es mir dann so vor, als hätte er mich beleidigt?«
Die Atmosphäre im Arbeitszimmer des Professors war unterkühlt. Keine Getränke-Angebote, keine Höflichkeiten, keine Einladung, sich den bequemsten Platz auszusuchen. Fry zog einen Stuhl nahe an Robertsons Schreibtisch heran und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf, womit sie den Professor zwang, sich zurückzulehnen, um nicht allzu angriffslustig zu wirken.
»Bei Ihren Gesprächen mit Detective Constable Cooper waren Sie in den letzten Tagen sehr hilfsbereit, Sir«, sagte sie.
»Ich bin erfreut, das zu hören. Ich gebe mein bescheidenes Bestes.«
Er warf Cooper einen Blick zu, und ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Doch Fry ließ nicht zu, dass seine Aufmerksamkeit abschweifte oder dass die Stimmung sich entspannte.
»Unter Umständen können Sie uns sogar noch mehr helfen, Sir.«
»Oh?«
»Wenn man die Fakten betrachtet, die wir bislang bei unseren Ermittlungen zusammengetragen haben, erscheint es ziemlich merkwürdig, dass Sie bei fast jedem Aspekt eine Antwort parat hatten.«
»Merkwürdig? Was ist daran merkwürdig? Das ist schließlich mein Spezialgebiet, Sergeant. Es ist meine Aufgabe, bei Bedarf Antworten parat zu haben.«
Er versuchte, locker zu klingen, aber Fry merkte, dass sie ihn verärgert hatte.
»Ja, Sir. Ich finde es allerdings besonders interessant, dass es Ihnen mehrmals gelungen ist, Ihre Antwort parat zu haben, bevor Ihnen die entsprechende Frage gestellt wurde.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Der Sarkophag zum Beispiel. Der ›Fleischverzehrer‹. Sie waren sehr darauf erpicht, uns alles darüber zu erzählen. So erpicht sogar, dass Sie es Detective Constable Cooper gegenüber erwähnt haben, bevor er überhaupt wusste, dass es relevant ist.«
Robertson versuchte erneut, ein verschwörerisches Lächeln mit Cooper zu tauschen, doch das funktionierte nicht. Cooper hielt sich ausnahmsweise einmal an die Instruktionen, die sie ihm gegeben hatte, und verhielt sich distanziert.
»Das Gleiche gilt für einige andere Anspielungen in den Botschaften«, sagte Fry.
»Ah, die Botschaften.«
Fry spürte Verwunderung und Erregung in sich aufwallen. »Sie geben zu, dass Sie von den Botschaften wissen?«
»Ich weiß gar nichts über irgendwelche Botschaften«, erwiderte Robertson. »Außer dass Ihr Kollege Sie gestern mir gegenüber erwähnt hat.«
Und jetzt lächelte der Professor. Fry hörte Leder knirschen und merkte, wie Cooper unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Sie wusste also, dass es stimmte. Doch sie musste weiterbohren.
»Professor Robertson, ich glaube, Sie wussten bereits zuvor von den Anrufen, die wir im Lauf der vergangenen Woche erhalten haben. Ich glaube sogar, dass Sie mit ihrem genauen Wortlaut vertraut sind. Besitzen Sie ein Gerät, das als Stimmenwandler bezeichnet wird?«
»Sergeant, das ist wirklich eine Unverschämtheit. Als ich eingewilligt habe, der Polizei meine Zeit und Sachkenntnis zur Verfügung zu stellen, habe ich nicht damit gerechnet, so behandelt zu werden.«
»Dürfte ich bitte Ihre Autoschlüssel sehen, Sir?«
Diesmal hatte sie ins Schwarze getroffen. Fry sah, wie die Augen des Professors sich weiteten und seine Nasenflügel sich aufblähten, während sein Gesichtsausdruck erstarrte. Er beugte sich ruckartig in seinem Stuhl nach vorn, als habe sie ihn mit einer spitzen Nadel gestochen.
Während er versuchte, gegen seine Empörung anzukämpfen, öffnete er eine Schublade und warf einen Schlüsselbund zwischen ihnen auf den Tisch. Fry berührte die Schlüssel nicht, sondern trennte sie mit der Spitze ihres Kugelschreibers voneinander, einen nach dem anderen. Robertsons Gesicht wurde tiefrot, als habe sie ihn tödlich beleidigt.
An dem Schlüsselbund befand sich kein Gerät wie jenes, das Liz Petty ihr gezeigt hatte, nichts, was aussah wie eine Garagentor-Fernbedienung, über ein winziges eingebautes Mikrofon verfügte und die Stimme eines Anrufers unkenntlich machte. Doch Fry wurde nicht völlig enttäuscht. Sie schob die Schlüssel zur Seite, sodass der Anhänger frei in der Mitte lag. Es handelte sich dabei um ein etwa fünf Zentimeter langes Stück Elfenbein, aus dem kunstvoll die Form eines menschlichen Skeletts herausgeschnitzt war. Der Schädel und die Rippen waren glatt und glänzten, wo jemandes Finger an ihnen gerieben hatten. Der Schlüsselanhänger würde im Dunkeln zwar nicht leuchten, doch für Fry strahlte er geradezu vor Bedeutung.
»Das ist nun wirklich merkwürdig«, sagte sie. »Auf Schritt und Tritt etwas mit sich herumzutragen, das einen an den Tod erinnert. Was gibt Ihnen das, Professor? Fühlen Sie sich auf diese Weise dem Tod näher? Verstehen Sie ihn dadurch besser?«
»Ich weiß bereits über den Tod Bescheid«, fuhr Robertson sie an. »Ich weiß alles über den Tod.«
»Ja, daran habe ich keinen Zweifel, Sir.«
Die Hand des Professors zitterte, als er einen Blick auf die Whiskyflasche im Regal warf. Doch bevor er nach ihr griff, starrte er Fry hasserfüllt an.
»Letztendlich, Sergeant, ergeht es mir wie allen anderen auch – es ist das Leben, das ich nicht verstehe.«
 
 
Nachdem Melvyn Hudson seine Schutzkleidung angezogen hatte, half ihm Vernon dabei, den Leichnam auf den Tisch aus rostfreiem Stahl zu hieven. Sie zogen ihm Hemd, Jeans, Unterwäsche und Schuhe aus, und Vernon stopfte alles in einen Müllsack. Sie entfernten die Uhr und die Brille und klebten den Ehering ab. Vernon reichte Hudson das Desinfektionsspray, der den Leichnam wusch und in der Leistengegend und in der Umgebung des Gesichts nach Ungezieferbefall Ausschau hielt. Er desinfizierte Mund und Nase mit Wattestäbchen und stellte etwas Flüssigkeit im Rachen fest.
»Hilf mir mal, ihn umzudrehen, Vernon«, sagte er.
»Was ist los?«
»Ein bisschen Ausfluss aus dem Magen. Vielleicht muss ich die Luftröhre und die Speiseröhre abbinden, wenn ich den Hals öffne.«
Hudson massierte die Gliedmaßen und streckte sie aus, sodass die Unterarme über die Tischkante hingen, damit Blut hineinlaufen und die Gefäße ausdehnen konnte. Dann strich er die Innenseite der Finger mit einer dünnen Schicht Sekundenkleber ein und drückte sie aneinander. Anschließend hob er den Kopf an und schob einen Klotz darunter, um ihn über Körperhöhe zu halten. Wenn Blut in den Kopf floss, konnte sich das Gewebe verfärben.
Nachdem Vernon den Eimer mit Bleichmittel gebracht hatte, wusch Hudson den Leichnam noch einmal ab, entfernte Schmutz unter den Fingernägeln und suchte nach Flecken an den Händen und im Gesicht. Er zog in Erwägung, auch an den Augen Sekundenkleber zu verwenden, legte jedoch stattdessen zwei Plastik-Augenkappen darauf und schloss die Lider, die von den kleinen Noppen auf den Kappen zugehalten wurden.
Er blickte zu Vernon auf. »Hat die Polizei heute mit dir gesprochen?«
»Jemand ist zu mir nach Hause gekommen. Detective Constable Cooper.«
»Hat er sich mit Abraham unterhalten?«
»Ja.«
»Worüber, Vernon?«
»Das weiß ich nicht. Er war bereits im Haus, als ich heimgekommen bin.«
Das Gesicht sah etwas angespannt aus. Hudson massierte die Stirn und die Gegend um die Augen, um die toten Muskeln zu lockern, dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete das Resultat. Die oberen Augenlider mussten ungefähr nach zwei Dritteln des Weges von oben nach unten auf die unteren treffen, damit der Gesichtsausdruck des Toten friedlich wirkte. Wenn sie zu weit oben oder unten aufeinandertrafen, entstand der Eindruck, als litte der Verstorbene unter Schmerzen oder als schielte er.
»Vernon, ich weiß, dass du vorsichtig bist«, sagte Hudson. »Aber glaubst du, dein Großvater versteht das?«
»Versteht was?«
»Wie wichtig der äußere Schein ist.«
Hudson stopfte den Hals mit Mullbinden voll, setzte das Gebiss wieder ein und steckte einen Mundformer darauf, dessen Plastiknoppen die Lippen geschlossen hielten. Dann verschloss er den Mund endgültig, indem er die Lippen mit Nadel und Faden zusammennähte, wobei er darauf achtete, dass sie nicht zu fest aufeinandersaßen, bevor er den Faden verknotete. Anschließend drehte er den Kopf leicht nach rechts, sodass der Verstorbene den Trauernden entgegenblicken würde, wenn sie ihn in der Kapelle mit einem letzten Blick bedachten.
»Sieht er gut aus?«, fragte er.
»Ja.«
»Ich finde, er sieht zehn Jahre jünger aus«, sagte Hudson und lachte. Genau das sagten die Hinterbliebenen auch immer.
Zuletzt steckte er in Hohlraumversiegelung getränkte Watte in den Anus und rieb Gesicht, Hals und Hände mit einer dünnen Fettschicht ein.
»Okay«, sagte er. »Jetzt kann der Spaß losgehen.«
Hudson verwendete Bleichmittel, um ein paar Blutergüsse verschwinden zu lassen, verteilte noch mehr Sekundenkleber, um kleine Wunden zu verschließen, und ersetzte fehlendes Gewebe mit Kitt und einer selbsthärtenden Masse. Er erinnerte sich an einen Fall, als er einen geköpften Leichnam präpariert hatte. Er hatte Schienen anbringen müssen, um zu verhindern, dass der Kopf zur Seite kippte, dann hatte er die Haut an der Trennstelle begradigt und den Kopf mit Zahnseide wieder angenäht. Zum Zeitpunkt der Besichtigung war die Naht mit einem hohen Kragen und einer Krawatte verdeckt gewesen.
Obwohl Hudson eine Gasmaske trug, gab er sich alle Mühe, nicht den Geruch der Körperflüssigkeiten und des Formaldehyds einzuatmen. Der Präparationsraum war beklemmend eng und schalldicht, damit weder das Geräusch der Pumpe noch das Plätschern von Flüssigkeiten in die öffentlich zugänglichen Räume gelangen konnte.
»Mir sind vorher diese Verbrennungen an deiner Hand aufgefallen«, sagte er.
»Nicht der Rede wert.«
Hudson blickte Vernon über seine Maske hinweg an. »Solange es kein Arbeitsunfall war. Das würde uns gar nicht gefallen.«
»Ich weiß schon«, erwiderte Vernon. »Schlecht fürs Image.«
Dann machte Hudson den ersten Schnitt. Er hatte sich in diesem Fall für arterielles Einbalsamieren entschieden. Diese Entscheidung war ihm leicht gefallen. Für das Einbalsamieren von Körperhöhlen war so wenig Geschick vonnöten, dass es ihm keine Befriedigung verschaffte. Die Bauchstanzer und die Halsaufschneider – es gab für jede Spezialität einen abwertenden Begriff.
Das Skalpell fühlte sich kühl und vertraut in seiner behandschuhten Hand an, als er die Haut über der linken Halsschlagader aufschnitt und ein Stück des umgebenden Gewebes abhob. Er schob vorsichtig eine Kanüle in die Schlagader, dann befestigte er eine Drainage an der Femoralvene in der Leistengegend und ließ den Schlauch über den Tisch in den Abfluss hängen. In einen Leichnam dieser Größe musste er ungefähr vier Liter Formaldehydlösung pumpen, also galt es, vorher einiges abfließen zu lassen. Wenn die Flüssigkeit zirkulierte, verhärteten sich die Muskeln. In ungefähr zehn Stunden würden sie so hart sein, dass er die Stellung des Leichnams nicht mehr würde verändern können.
»Vergiss nicht, Vernon«, sagte er, »dass es hier viele Dinge gibt, die gefährlich sein können, wenn man nicht aufpasst.«
»Ja, Melvyn.«
Hudson griff zur Hohlnadel und stach ihr spitzes Ende mit Schwung in die Bauchdecke. Er war stolz darauf, das zu beherrschen. Viele Balsamierer holten aus und stießen zu, als wollten sie einen Fisch aufspießen. Doch alles, was dazu nötig war, war genug Selbstvertrauen, um die Wand der Bauchhöhle mit einem festen Stoß zu durchdringen und die Hohlnadel an Ort und Stelle zu belassen, wenn sie begann, die Gase und Flüssigkeiten freizusetzen, die sich in den Körperhohlräumen aufgestaut hatten.
Er injizierte durch die Hohlnadel etwa fünfhundert Gramm Konservierungsmittel in den Unterleib und noch einmal dieselbe Menge in den Brustkorb. Anschließend prüfte er, ob die Genitalien ebenfalls einen Stoß mit der Hohlnadel nötig hatten, kam jedoch zu dem Schluss, dass das Formaldehyd aufgrund seiner guten Technik auch sämtliche kleine Blutgefäße erreicht hatte.
Dann widmete er seine Aufmerksamkeit dem Schädel. Wie viel Gas und Flüssigkeit mochte sich unter der Schädeldecke angesammelt haben? Es bestand die Möglichkeit, die Hohlnadel durch die Nasenlöcher und durch den dünnen Knochen oberhalb der Nase in den Schädel zu schieben. Er hätte Hohlraumflüssigkeit injizieren und die Nase mit Watte ausstopfen können, um etwaigem Ausfluss vorzubeugen. Doch als er einen Blick auf seine Armbanduhr warf, beschloss er, dass das nicht nötig war. Stattdessen verschloss er die Löcher, die er bereits gestochen hatte, mit passenden Stöpseln.
Dann bemerkte Hudson, dass Vernon ihn über den Leichnam hinweg besorgt ansah, die Augen über seiner Atemmaske weit geöffnet.
»So, Vernon«, sagte er. »Das wäre erledigt. Stecken wir ihn wieder ins Kühlfach. Dieser Leichnam wird nicht so schnell verwesen.«
Todesstatte
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