Dreiundzwanzigstes Kapitel
Denser hatte sich bereits vom Seelenverband und vom erschöpften Kestys abgewandt und gerade rechtzeitig die Tür erreicht, um Erienne zu sehen, die seinen Namen rief und zusammenbrach.
Die triumphierenden Worte blieben ihm im Hals stecken, und als er zu ihr wollte, raste ein Mana-Sturm durch die Katakomben.
Eine unkontrollierte Kraft ging von Eriennes Bewusstsein aus, erfasste alles, was ihr in den Weg kam, und verstärkte sich unaufhaltsam dank des scharf gebündelten xeteskianischen Mana. Denser hielt sich am Türrahmen fest. Die anderen hatten weniger Glück.
Erienne lag reglos am Boden. Die Al-Arynaar, die den Kraftkegel gewirkt hatten, waren im Verteiler zusammengebrochen. Auums Tai-Zelle reagierte mit der üblichen Geschwindigkeit, verteilte sich im Gang und arbeitete sich langsam vor. Hirad, Rebraal, Darrick und der Unbekannte waren gestürzt und versuchten, sich aneinander festzuhalten. Sian’erei wurde vom Boden gehoben und gegen Dystran geschleudert.
Den Xeteskianern erging es nicht besser. Der Sturm traf sie mit voller Kraft und wehte den Kreis der Sieben und ihre verwirrten Protektoren auseinander wie Spreu im Wind. Denser hörte Metall auf Stein klappern. Auch die Soldaten und Magier, die er nicht sehen konnte, wurden erfasst.
Mühsam drehte er sich um und konnte Porrack und Jaruul erkennen, die sich ähnlich wie er an Vorsprüngen festhielten. Marack und Harroc wurden gegen die Wand gepresst und konnten sich kaum noch bewegen.
Denser hatte keine Wahl. Er ließ sich auf Hände und Knie sinken, stützte sich an einer Wand ab und kroch zu seiner Frau, ins Zentrum des Sturmes hinein, in dessen Auge sie hilflos am Boden lag. Ihr Bewusstsein wurde mit jedem Herzschlag weiter zerstört. Hinter ihr tobte das Chaos. Die Rabenkrieger waren ins Zentrum des Verteilers geweht worden und lagen dort, hilflos der Gewalt des übersinnlichen Windes ausgeliefert. Kriechend versuchten sie, die Distanz zwischen sich und dem Feind zu vergrößern. Auum und seine Tai schlugen sich tapfer, was ein entscheidender Vorteil sein konnte.
Handbreit um Handbreit kämpfte Denser sich weiter und musste aufpassen, nicht in den Gang zurückgeweht zu werden. Er durfte nicht scheitern. Der Rabe brauchte ihn, und ganz besonders brauchte ihn Erienne. Die letzten paar Schritte kroch er flach auf dem Bauch durch den heulenden Wind. Erienne lag im Zentrum und im Brennpunkt der Energien.
Als er sie erreicht hatte, wurde es still. Er lag dicht neben ihr, hörte ihren stoßweisen Atem und sah das Blut aus Ohren und Nase rinnen, den Speichelfaden vor ihrem Mund und die Augen, die panisch unter den Lidern zuckten. Sie bebte am ganzen Körper, alle Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, ihr Nervensystem war in Aufruhr. Ihr war heiß, mit dieser hohen Körpertemperatur konnte sie nicht lange überleben. Gesicht und Hände waren von einem Schweißfilm überzogen.
»Halte durch, Liebste«, sagte er und schob für den Augenblick seine Emotionen zur Seite. »Ich bin da, halte nur durch.«
Er wusste, was er zu tun hatte. Er konnte sie vor dem xeteskianischen Mana abschirmen und dem Einen seinen Brennstoff nehmen. Aus diesem Grund war der Kreis der Sieben gekommen. In ihrer typischen überheblichen Art hatten sie geglaubt, sie könnten Erienne damit schützen, bis sie die Kräfte in ihr verstanden und sie wieder wecken konnten. Es war eine lächerliche Dummheit gewesen, und sie hatten Eriennes Leben aufs Spiel gesetzt.
Natürlich waren sie im Vorteil. Sie waren sechs mächtige Magier, die den Spruch unendlich lange aufrechterhalten konnten. Er war nur einer, und er war jetzt schon erschöpft. Er schaute auf und sah Auum. »Macht euch bereit«, hauchte er, aber er war nicht einmal sicher, ob der Elf es verstanden hatte. Dann machte er sich ans Werk.
Er teilte seine Aufmerksamkeit und stimmte sich einerseits aufs Mana-Spektrum ein, um eine ovale Form zu erschaffen, die voller pulsierender Mana-Energie war. Das war ein Teil. Dann musste er die Konstruktion in eine Drehbewegung versetzen und dafür sorgen, dass sie das Mana aus der Umgebung an sich zog. Gleichzeitig suchte er das Zentrum des Sturms. Was er sah, erschreckte ihn so sehr, dass er beinahe die Konzentration verloren hätte. In diese dunkle Grube, die Eriennes Bewusstsein jetzt war, wurde das Mana gezogen wie das Wasser in einen Abgrund.
Aus dem Zentrum dieses Lochs wurde zugleich die Kraft wieder ausgestoßen. Dunkelbraun verfärbt, sprudelte die xeteskianische Energie wieder aus ihr heraus und breitete sich überallhin aus. Sie hätte aber nicht mehr die xeteskianische Farbe haben sollen. In seiner Ausbildung hatte er gelernt, dass das Mana, das in ein dordovanisches Bewusstsein eindrang, zwangsläufig als lebhaftes Orange wieder zum Vorschein kam, weil Erienne nach ihrer Ausbildung gar nichts anderes hervorbringen konnte.
Er holte tief Luft und schob die ovale Konstruktion nach vorn, gegen den Druck der ausbrechenden Energie, mitten durch den Tumult hindurch. Er musste alle seine Erfahrungen aufbieten, die er durch Dawnthief gewonnen hatte, und arbeitete sich langsam weiter vor. Eriennes Bewusstsein konnte er nicht mehr sehen, doch er wusste, wo es sich befand. Er bremste die Rotation des Spruchs, öffnete ihn an einer Seite, stieß ihn in den Abgrund und versiegelte den Abgrund.
Die Wirkung war ringsherum sofort zu spüren. Er hatte nicht mehr genug Kraft, um sich sofort wieder zu erheben, konnte aber wenigstens die Augen öffnen und sich umsehen. Auum, Duele und Evunn hatten als Erste reagiert und kamen in den Verteiler gerannt. Mit gezogenen Schwertern griffen sie die Soldaten auf der linken Seite an, die gerade erst wieder zu sich kamen und sich orientierten. Die Hälfte war tot oder lag im Sterben, bevor sie auch nur an Verteidigung denken konnten.
Blutlachen breiteten sich auf dem Boden aus.
Auum zerfetzte einem Mann die Kehle, schlug einem zweiten die Klinge in die Brust und versetzte einem dritten einen Faustschlag auf die Luftröhre. Duele war nicht zu sehen, aber dort, wo er sein musste, bemerkte Denser einen stürzenden Xeteskianer. Evunn setzte elegant über ihn hinweg, bevor er seinem ersten Gegner einen Fußtritt in den Bauch verpasste.
Mitten im Raum löste sich Sian’erei von Dystran und knallte ihm die Faust auf die Nase, dann eilte sie auf Hirads Befehl wieder in den Gang zurück und begann, einen Spruch zu wirken. Der Unbekannte zog blitzschnell seine Klinge und tippte mit der Spitze auf den Boden.
Die Magier aus dem Kreis der Sieben, immer schnell, wenn es um ihre persönliche Sicherheit ging, waren wieder auf den Beinen und gingen hinter den Protektoren in Deckung. Diese standen stumm wie Statuen da oder flohen Hals über Kopf in andere Gänge und die Treppe hinauf. Denser konnte beobachten, wie Dystran sich mit erschüttertem Gesicht umdrehte und floh. Ein weiterer Magier aus dem Kreis der Sieben folgte seinem Beispiel, dann waren sie alle aus der unmittelbaren Umgebung verschwunden.
Hirad knurrte und schlug nach einem Magier, der sich jetzt erst aufrappelte. Die Klinge spaltete ihm den Schädel, und ein blutiger Brei ergoss sich auf die Steinplatten. Darrick rang einen Moment mit einem Soldaten, dann zog er dem Gegner die Klinge quer über den Bauch und wich rasch zurück, als die Eingeweide durch die zerstörte Rüstung quollen.
Es war ein entsetzliches Blutbad, das die maskierten Männer, die früheren Elitekämpfer von Xetesk, teilnahmslos beobachteten. Nach einigen Augenblicken war alles vorbei.
»Zurück, zurück«, sagte der Unbekannte. »Auum, lasst die Protektoren in Ruhe. Sian, halte den Schild aufrecht. Rebraal, sorge dafür, dass sie es verstehen.«
Hinter Denser stieß jemand einen aufgeregten Ruf aus. Rebraal antwortete, und die TaiGethen wichen in den Gang zurück. Die Protektoren sahen ihnen hinterher, die Waffen locker in den gesenkten Fäusten.
»Wie geht es ihr, Denser?«, unterbrach der Unbekannte die plötzliche unbehagliche Stille.
»Was sollen wir jetzt tun, Unbekannter?« Denser hatte das Gefühl, die ganze Welt sei rings um ihn zusammengebrochen. »Was sollen wir nur tun, verdammt?«
Brüllend riss Sha-Kaan ein Loch ins Dach, das groß genug für seinen Kopf war. Er tauchte hinein, schnappte einen Protektor, brach ihm alle Knochen und spuckte ihn wieder aus. Irgendwo kreischte eine Frau. Er sah sich um. Ein Magier wich zurück. Nyam.
Er drehte den Kopf hin und her und sah sich um. Eine Al-Drechar war tot. Die andere lag in tiefem Schlaf und hatte anscheinend nichts mitbekommen.
Weitere Protektoren standen im Raum, doch keiner bewegte sich. Irgendetwas an ihnen hatte sich verändert. Keiner unternahm auch nur den Versuch, den Magier zu decken. Alle drei standen vor Diera, die herbeigeeilt war, weil sie im letzten Moment gespürt hatte, dass etwas im Gange war. Sie war zu spät gekommen, war aber wenigstens selbst in Sicherheit. Sie war es auch, die geschrien hatte. Das Kind auf ihren Armen war zu verstört, um zu weinen.
Er wandte sich wieder an Nyam und senkte den Kopf, bis der sich wenige Handbreit vor dem Gesicht des Magiers befand.
»Sprich«, befahl er und warf mit seinem Atem den Mann gegen die Wand. »Erkläre dich. Dein Leben hängt am seidenen Faden.«
»Wir können nicht hier bleiben«, sagte der Unbekannte. »Denser, kannst du aufstehen?«
Denser nickte und rappelte sich auf. »Seid vorsichtig mit ihr. Ich schirme sie ab, aber das schaffe ich nicht mehr lange, und es schützt nicht sie selbst, sondern nur uns.«
»In Ordnung, Denser, in Ordnung. Also lasst uns verschwinden«, sagte der Unbekannte. Er half dem Magier hoch. »Verlier nur nicht die Konzentration. Thraun, du trägst Erienne. Sei vorsichtig.«
Thraun nickte, lief hinüber und strich Erienne die Haare aus dem Gesicht, ehe er sie aufnahm. Ihr Kopf ruhte in seiner Armbeuge, die Knie über dem anderen Arm.
»Sie wird schwächer«, sagte er.
»Pass gut auf sie auf«, wiederholte der Unbekannte. »Vorschläge? Darrick?«
»Die Götter wissen, wie viel Zeit wir noch haben«, sagte der ehemalige General. »Jedenfalls nicht sehr lange. Die Magier vom Kreis der Sieben sind geflohen und dürften bald wieder bei Kräften sein. Ich denke, wir sollten möglichst schnell hier verschwinden. Die TaiGethen sind an den Zugangspunkten, aber was wir auch tun, wir müssen schnell sein. Was ist mit denen da, Unbekannter?« Er deutete auf die Protektoren.
Fünfzehn standen im Zentrum des Verteilers inmitten des Blutes und der Leichen, die den Boden bedeckten. Sie hatten die Waffen weggesteckt und warteten in lockerem Kreis, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich glaube, sie brauchen dich, Unbekannter.« Denser löste sich von ihm. »Ich komme schon klar. Geh zu ihnen.«
»Gut«, sagte der Unbekannte. »Rebraal, Hirad, ihr geht mit Denser in den Forschungsraum. Nehmt mit, was er braucht. Alles andere wird zerstört, ist das klar? Oh, und sorgt dafür, dass Kestys nicht überlebt. Er weiß viel zu viel über all dies.«
Der Unbekannte betrat den Verteiler. Das Herz war ihm schwer, obwohl es eigentlich singen sollte. Er hatte sie befreit, sie alle. So einfach war es am Ende gewesen, und das machte ihn wütend. Dystran hätte es niemals getan, wie leicht es auch gewesen wäre, und er hätte vielleicht sogar ihre Zahl vergrößert. Erienne lag wegen der Entscheidungen dieses Mannes womöglich im Sterben, und vor ihm standen Männer, von denen er nicht einmal wusste, ob sie ihm dankbar waren, dass ihre Seelen zu ihnen zurückgekehrt waren, auch wenn sie genau davon im Seelenverband geträumt hatten. Vieles änderte sich, wenn man die Bruderschaft verlor.
Der Kreis öffnete sich, als er sich näherte, und ließ ihn ins Zentrum treten. Dann schloss er sich wieder. Er drehte sich langsam um sich selbst und betrachtete sie alle. Keiner hatte die Maske abgenommen, und auch das verstand er.
»Ich weiß, was ich euch genommen habe«, begann er. »Ich weiß, welches Verlustgefühl euch erfüllt. Ich kenne die Stille in euren Köpfen. Es fühlt sich an, als wären die nächsten Angehörigen ermordet worden. Aber ich kenne auch die Gebete des Seelenverbandes. Die Sehnsucht aller Protektoren. Die Legende von den freien Männern. Ich war diese Legende, ich habe überlebt. Ich habe die Liebe einer Frau und die Freude über die Geburt meines Sohnes kennen gelernt.
Ein neues Leben wartet auf euch. Es ist anders als alles, was ihr aus euren Erinnerungen kennt, doch ihr habt euch danach gesehnt, und ihr werdet immer eine Verbundenheit spüren, die so eng ist wie die meine mit dem Raben.« Der Unbekannte hielt einen Moment inne. »Sagt mir, dass ich für euch das Richtige getan habe. Sagt mir, dass ihr mir den Verlust verzeiht, weil ihr so viel gewonnen habt.«
Sie schwiegen. Einen kleinen Augenblick lang sahen ihn alle Protektoren schweigend an.
Dann hoben sie die Hände und lösten die Schnallen. Langsam und mit unsicheren Fingern nahmen sie ihre Masken ab und warfen sie vor dem Unbekannten auf den Boden.
Wieder drehte er sich einmal um sich selbst und betrachtete die jungen Gesichter, die Kraft der erwachsenen Männer und die faltigen, klugen Gesichter der Älteren. Die Gesichter, bleich und mit roten Striemen und Schwellungen bedeckt, wo die Masken die Haut wund gerieben hatten, blickten ihn an und erlebten mit ihm die ersten Augenblicke ihres neuen Lebens. Ihre Augen waren ängstlich, doch auch Hoffnung schimmerte in ihnen. Es war genug.
»Gut«, sagte der Unbekannte. »Wenn ihr jetzt meinen Rat annehmen wollt, dann legt die Masken ein letztes Mal an und geht unbehelligt zu den Toren des Kollegs. Sucht eure Brüder. Verlasst die Stadt. Bitte. Ihr seid niemandem etwas schuldig.«
»Nein«, sagte einer, den der Unbekannte an der Stimme als Myx erkannte. »Wir werden dich nicht hier allein lassen.«
»Ihr müsst. Wenn ihr euch mit uns verbündet, werdet ihr getötet. Verschwendet nicht diese Gelegenheit. Bitte, ich flehe euch an.« Niemand bewegte sich. »Wenn ihr mich achtet, dann geht. Wir werden uns durchschlagen, wir sind der Rabe. Bitte, nehmt eure Masken und geht.«
»Tut es«, sagte Myx, doch als seine Brüder sich bückten, um die ihre Masken aufzuheben, versetzte er seiner eigenen einen Tritt. Sie zog einen Streifen durch das Blut auf dem Boden. »Ich komme mit dir.«
»Warum?«, fragte der Unbekannte.
»Weil wir alle bei dir sind, wenn einer bei dir ist. Wir sind Brüder. Wir sind eins.«
Der Unbekannte sah ihm in die Augen und erkannte seine Entschlossenheit. Ein Gesicht, das hinter der Maske so viel gesehen hatte. Die ersten Falten des Alters bildeten sich bereits, und an den Schläfen war das erste Grau zu sehen.
»Ich verstehe.«
»Außerdem«, sagte Myx, und ein Schimmer kam in seine Augen, »gibt es noch einen anderen Weg.«
Dunkelblaues Licht flackerte im linken Gang.
»Weg da!«, rief Auum und sprang nach rechts.
Die Protektoren und der Unbekannte stoben auseinander. Duele und Evunn wandten sich zur Gefahr um und sprangen gleichzeitig wie Tänzer zur Seite. Die Feuerkugel fegte in den Verteiler, ließ das Blut verdampfen und verbrannte das Fleisch, bis sie die gegenüberliegende Wand traf und die Wandbehänge in Brand steckte.
»Der Rabe!«, rief der Unbekannte. »Wir verschwinden!«
»Brüder, haltet sie auf«, sagte Myx, der vor ihm war und den Gang zum Seelenverband hinunterlief. Die TaiGethen folgten ihm.
»Los, los!«, rief der Unbekannte. »Folgt Myx. Komm schon, Hirad. Lass alles stehen und liegen und komm mit.«
»Wir haben noch nicht …«
»Keine Zeit. Komm schon.«
Der Rabe, die Al-Arynaar und die TaiGethen rannten tiefer in die Katakomben hinein.
Dystran tupfte immer noch seine blutende Nase ab, als er hinter einem Quartett von Kollegwächtern, darunter Hauptmann Suarav, den Verteiler betrat. Mehr als ein Dutzend Protektoren starrten ihm mit leeren Masken entgegen. Kaum hatte er den Raum betreten, da glitt er auf dem Blut aus, musste sich an Suarav festhalten und auf einen Toten treten, um sich wieder zu fangen. Er seufzte.
»Seht Euch das an. Seht Euch an, was sie getan haben.« Er schüttelte den Kopf. All die Jahre als Herr vom Berge, all die Jahre, in denen fast immer Krieg geherrscht hatte, und er hatte noch nie so viele Tote auf einem Haufen gesehen.
Es stank. Eingeweide und deren Inhalt waren auf dem Boden verteilt. Die Toten lagen verdreht, wie sie gefallen waren. Blicklose, vorwurfsvolle Augen starrten ihn an. Die Bahn der Feuerkugel war am geschwärzten, rauchenden Blut zu erkennen. Es war jedoch nicht das Blut, das ihn so erschreckte. Wie viele Leute lagen hier? Vielleicht zwanzig oder mehr. Aber wie konnte so viel Blut aus ihnen herauslaufen? Es klebte an den Wänden und der Decke, und auf dem Boden hatte sich eine große Lache gebildet.
»Wir haben keinen Einzigen von ihnen getötet, und sie sind entkommen. Vorerst jedenfalls.« Er wandte sich an den nächsten Protektor. »Und was habt ihr hier getan, hm? Nichts. Ihr habt herumgestanden wie die Ölgötzen, während unsere Männer von Banditen abgeschlachtet wurden. Ich weiß nicht, was sie mit euch gemacht haben, aber ich werde es herausfinden. Hast du etwas zu sagen?«
Schweigen.
»Nein? Das dachte ich mir schon. Suarav, wo seid Ihr?«
»Hier, Mylord.«
»Weitet die Suche aus. Teilt Euch in sechs Gruppen auf, es geht wohl nicht anders. Ein Magier aus dem Kreis der Sieben leitet jede Gruppe. Wer weiß schon, was sie jetzt vorhaben? Außerdem müssen alle Ausgänge gesperrt werden. Ich …« Er klatschte in die Hände. »Die Luftschächte.«
Er ging in Richtung des Seelenverbandes. »Natürlich, wie konnte ich nur so dumm sein. Suarav, ich will Euch im Kartenraum etwas zeigen.« Protektoren standen vor der Mündung des Ganges. »Platz da.«
Die drei Masken drehten sich zu ihm herum. »Es hat sich etwas geändert«, sagte einer von ihnen.
»Verdammt, das weiß ich doch. Aber ich habe immer noch die magische Kraft, euch auszulöschen. Macht Platz. Nein, verschwindet am besten gleich ganz aus den Katakomben.«
Einer von ihnen rührte sich. »Wir wollen über Respekt reden.«
Dystran schloss die Augen. Er musste jetzt sehr vorsichtig sein.
»Wir sind noch in Reichweite, und sie werden uns finden«, sagte Myx.
Er ging schnell und versuchte, einen ordentlichen Vorsprung vor den Verfolgen zu bekommen, doch das konnte ihnen kaum mehr als eine kurze Atempause verschaffen. Der Unbekannte und Hirad waren bei ihm, dahinter folgten Thraun und Denser mit der bewusstlosen Erienne, hinter diesen wiederum Darrick und die Elfen. Denser hatte sie bereits einmal anhalten lassen, um noch mehr Energie in den Spruch zu geben, der Eriennes Bewusstsein abschirmte. Er war müde.
»Wie groß sind die Katakomben?«, fragte Hirad.
»Größer, als du es dir vorstellen kannst. Es sieht fast überall so aus wie hier.« Myx deutete auf die Wände. »Die Verteiler sind durch Tunnel verbunden. Wir waren in Dystrans Verteiler. Im nächsten werden wir langsamer gehen. Er hat … eine gewisse Geschichte.«
Der Unbekannte reagierte nicht auf die Bemerkung.
»Und du weißt dies alles, weil …« Hirad ließ den Satz unvollendet.
»Ich bin … der Herr vom Berge war mein Gebieter. Es gehörte zu meinen Aufgaben, dies alles zu wissen.«
»Ein Glück für uns.«
»Das hoffe ich.«
Der Unbekannte war nur kurze Zeit Protektor gewesen, begriff aber trotzdem, dass der scheinbare Wahnsinn der willkürlich angelegten Katakomben Methode hatte. Er verstand es so gut, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gesehen. Der Kreis der Sieben sah sich ständig bedroht, und nicht selten wurde dem Leben seiner Mitglieder tatsächlich ein vorzeitiges, gewaltsames Ende gesetzt. So hatten sie rings um jeden Verteiler einen chaotischen Irrgarten von vollendeten oder unvollendeten Gängen geschaffen.
Es war eine verdrehte Art von Moral, die hier unten ihren Ausdruck fand. Mord durch Gift oder Klinge war in Xetesk seit jeher eine durchaus anerkannte Methode, um eine Beförderung zu erreichen, doch der Einsatz tödlicher Sperren in den Katakomben galt als unmoralisch. Natürlich war es etwas ganz anderes, uneingeladen einen Raum zu betreten, doch in den unzähligen Gängen, die man mehr oder weniger für neutrales Territorium hielt, kamen solche Fallen nicht infrage.
Der Unbekannte bezweifelte nicht, dass sie viele Alarmsignale und Warnmeldungen ausgelöst hatten, durch die jeder aufgeschreckt wurde, der hier unten arbeitete, doch das war ein Risiko, das sie eingehen mussten. Es wäre geradezu selbstmörderisch gewesen, wenn sie versucht hätten, alle Warnvorrichtungen zu umgehen, denn dann hätten die Verfolger sie im Nu eingeholt.
Auum bewegte sich am Ende der Gruppe in gemächlichem Trab. Seine Glieder waren noch lange nicht müde, doch er war unglücklich. Zum ersten Mal im Leben hatte er das Gefühl, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Tief in der Erde unter einer balaianischen Stadt durch stinkende Gänge zu laufen, das konnte er mit seinen bisherigen Erfahrungen nicht in Einklang bringen. Allerdings vermochte er die Struktur der Hohlräume im Fels zu fühlen. Das war immerhin ein Strohhalm, an den er sich klammern konnte.
Die jüngsten Ereignisse hatten nicht nur ihn, sondern alle Elfen verwirrt, und Rebraals Erklärung hatte kaum geholfen. Er verstand, dass die Frau, die Erienne hieß, alte magische Kräfte der Elfen in sich trug, und dass die Feinde eine Al-Drechar ermordet hatten, um Erienne in ihre Gewalt zu bekommen. Das war die typische menschliche Dummheit. Die TaiGethen würden sich ein andermal darum kümmern.
Er hob die Hand, und seine Tai blieben stehen. Die Schritte der anderen entfernten sich langsam. Marack drehte sich um, doch er winkte ihr, sie solle weitergehen. Es wäre nicht schwer, sie wieder zu finden, dafür sorgte schon der Lärm, den der Rabe machte.
»Wir werden beten und lauschen«, sagte er. Die Tai sanken auf die Knie. »Yniss, erhöre uns. Tual, erhöre uns. Leite unsere Sinne an diesem Ort. Die Luft ist schlecht, hier fliegt kein Vogel, und hier pirscht kein Tier. Kein Baum kann hier überleben, kein Flusswesen kann hier schwimmen. Yniss, wir bitten dich, schau auf uns herab, während wir dein Werk vollbringen und zurückholen, was gestohlen wurde. Wir sind und bleiben deine Diener.«
Sie verharrten kniend und lauschten angestrengt, ob sie etwas wahrnehmen konnten. Auum hörte immer noch die anderen, die sich entfernten. Er prägte sich die Richtung ein, die sich nicht verändert hatte, auch wenn ihre Schritte langsamer geworden waren. Er drehte sich um. Hinter ihnen und links von ihnen näherten sich die Feinde. Anscheinend bewegten sie sich in einem parallelen Gang, auch wenn man es schwer erkennen konnte.
»Hört ihr sie?«, fragte er.
Duele und Evunn nickten.
»Macht eure Bogen bereit. Meiner ist zerbrochen, als wir gegen den Wind ankämpfen mussten.« Er stand auf und winkte seinen Tai, ihm zu folgen. »Ich bin es müde zu rennen. Wir werden jetzt jagen. Tai, es geht los.«
Lesen Sie weiter
in:
JAMES BARCLAY: Zauberkrieg