Zweiundzwanzigstes Kapitel
Mit lautem Knallen, regelmäßig und unerbittlich, gingen die Sprüche auf den Kraftkegel nieder, den die Al-Arynaar-Magierin am Ende des Ganges gesetzt hatte.
»Ich brauche hier noch einen Magier«, rief Hirad. »Rebraal, schick einen rüber. Sian schafft das nicht allein.«
Ein Ruf in der Elfensprache, und dann tappten eilige Füße vorbei. Der Unbekannte hob kaum eine Augenbraue. Er war am Ziel. Ein schmuckloser Raum, dessen Wände mit dunkelblauen Vorhängen bedeckt waren. Kein Muster durchbrach die dunklen Flächen, nur ein sanftes blaues Licht erhellte sie. Es war kaum mehr als eine Zelle, an jeder Seite fünfzehn Fuß lang mit einem hüfthohen Podest aus Stein in der Mitte. Auf diesem Podest befand sich ein mit Gravuren verzierter Steinblock, der höchstens zwei Handspannen hoch und doppelt so lang war. Äußerlich unscheinbar, doch die alte xeteskianische Schrift und die kreischenden Gesichter, die in die Oberfläche geritzt waren, verrieten dem Wissenden, was er barg.
Es war der Seelenverband. Der Behälter für die Seelen hatte keinen Deckel, und der Hohlraum im Innern wurde von den Dämonen beherrscht. Ihre Abmachung mit Xetesk verlangte, dass sie jede Seele mit dem Körper des betreffenden Protektors verbanden, und als Gegenleistung für die Kontrolle, die sie im Namen Xetesks ausübten, labten sie sich an der Lebensenergie der Seelen, die ihnen ausgeliefert waren. Der Unbekannte spürte die Macht und die böse Kraft, die von diesem unscheinbaren Objekt ausgingen. Es war ein Gefängnis ohne Fenster und Luft. Ein Gefängnis, in dem viele Xeteskianer ihr Leben von der Jugend bis zum Tod verbrachten. Er war als Einziger entkommen.
Bis heute Abend. Der Unbekannte legte die Hand auf die Oberfläche. Er konnte die Stimmen der Protektoren jetzt sehr laut im Kopf hören. Sie organisierten sich selbst, um die Aufgaben zu erfüllen, die ihre Herren ihnen übertragen hatten, und waren beunruhigt, weil sie wussten, wo die Rabenkrieger waren. Und sie spürten, dass eine Veränderung bevorstand. Der Unbekannte wollte dafür sorgen, dass die Veränderung vollzogen wurde, oder beim Versuch sterben.
Er wandte sich an Kestys. Der Magier, dem nun Denser einen Dolch an die Kehle hielt, war kreidebleich. Er schauderte und sah mit großen, verängstigten Augen den mächtigen Krieger an.
»Ihr wisst, wer ich bin«, sagte der Unbekannte.
Kestys nickte mühsam. »Ihr seid Sol.«
»Dann wisst Ihr auch, was ich will.«
Kestys atmete zitternd ein und schluckte schwer. »Ich kann das nicht tun. Bitte. Verlangt das nicht von mir.«
Denser stieß den hilflosen Magier gegen eine Wand und brachte dadurch das hängende blaue Tuch in Wallung. »Ihr werdet es tun, Kestys. Diese Abscheulichkeit muss aufhören, und zwar sofort.«
»Ich kann nicht …«
»Doch, Ihr könnt!«, fauchte Denser. »Haltet Ihr mich für so beschränkt? Ich habe gesehen, woran Ihr arbeitet. Ich weiß, dass Ihr die Dimensionen ausrichten könnt, und ich weiß, dass Ihr den Spruch auflösen und das Abkommen mit den Dämonen über die Protektoren aufheben könnt. Ich war auf Herendeneth, Kestys, und ich weiß, welches Wissen Ihr erworben habt.«
»Es ist nicht so einfach«, protestierte Kestys.
Der Unbekannte klatschte die Hand auf den Seelenverband. Er schob Denser zur Seite und legte Kestys eine Hand um die Kehle. »Ich habe keine Zeit, darüber zu diskutieren. Denser könnte es sich auch selbst zusammenreimen, aber das will ich nicht riskieren, weil ich nicht weiß, wie lange meine Freunde da draußen Euren widerwärtigen Herrn noch aufhalten können. Eins will ich Euch versichern: Wenn er durchbricht, werdet Ihr noch vor mir sterben.« Er ignorierte die keuchenden Laute des Magiers und packte sogar noch etwas fester zu, um ihn hochzuheben. »Ich höre sie in meinem Kopf. Sie alle. Versteht Ihr das nicht?« Er deutete hinter sich zum Seelenverband. »Ich fühle sie. Ich fühle ihre Schmerzen und kenne ihre Sehnsucht, frei zu sei. Aber ich kann ihnen nicht sagen, dass ich es weiß, weil sie mich nicht hören können. Ihr aber, Kestys, Ihr werdet sie befreien. Ihr werdet die Sklaverei aufheben und ihnen erlauben, die Masken abzunehmen und als Menschen zu leben.
Verpasst nicht diese Gelegenheit, ein einziges Mal in Eurem armseligen Leben etwas Wertvolles zu tun. Denn glaubt mir, wenn Ihr es nicht tut, werdet Ihr keine Gelegenheit mehr bekommen, irgendetwas anderes zu tun. Die Entscheidung liegt bei Euch. Gebt meinen Brüdern ihr Leben zurück, oder ertrinkt in Eurem eigenen Blut.
Wie lautet Eure Entscheidung?«
Auum und Thraun standen hinter dem Kraftkegel für den Fall bereit, dass er versagte, denn dann wäre Erienne im Kartenraum ungeschützt gewesen. Sie versuchte gerade, ihre Gedanken zu sammeln, damit sie im Kampf, falls es dazu kommen sollte, etwas ausrichten konnte. Doch es war so schwer. Sie hatte das Gefühl, eine Axt sei an ihren Hals gesetzt worden. Bei den Göttern, sie konnte schon die harte, scharfe Schneide spüren.
Das Eine nährte sich von ihrer Angst. Auch das konnte sie spüren. Die geistige Macht, die sie mit aller Kraft zu unterdrücken suchte, kämpfte gegen sie und Myriell an. Diese Macht wollte sie überwältigen und sich befreien. Erienne musste sich eingestehen, dass sie auf einer sehr grundlegenden Ebene das Eine überhaupt nicht verstand – denn anscheinend war es bereit, seinen Wirt zu zerstören, wodurch es auch selbst untergehen würde. Sie musste sich immer wieder vor Augen führen, dass es kein bewusstes Wesen war.
Sie schüttelte den Kopf, doch die Kampfgeräusche ließen ihr keine Ruhe. Draußen trieb Hirad die Elfenmagier zu größeren Anstrengungen an, um das Trommelfeuer der xeteskianischen Magier abzuwehren. Im Mana-Spektrum spürte sie die Wucht der Angriffe, die auf sie niedergingen. Eigentlich sollten sie und Denser zu ihnen gehen und helfen, doch im Augenblick hätte sie noch nicht einmal eine Kerzenflamme heraufbeschwören können, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Außerdem war Denser beim Unbekannten. Sie hörte beide rufen. Bei den ertrinkenden Göttern, alles fiel auseinander.
Sie atmete tief ein und hielt mit geschlossenen Augen die Luft an. Beim Ausatmen konzentrierte sie sich mit aller Kraft auf die in der Luft schwebende Karte. Wie das Licht, das die gesamten Katakomben erfüllte, war auch die Karte eine magische Konstruktion, die von der gebündelten Energie des Mana-Stroms nahe am Herzen von Xetesk erhalten wurde. Sie war beeindruckend. Denser sagte, Dystran habe einen Mana-Strahl durch die Gänge und Kammern geschickt, um die erste vollständige Karte der Katakomben zu erstellen. Dieses Modell war eine außergewöhnliche Konstruktion, die jeden Tag ein wenig wuchs. Und sie war riesig.
Die in blauen und roten Schattierungen gehaltene Karte zeigte, dass die Katakomben je nach Standort zwischen einer und sieben Ebenen tief waren. Sie breiteten sich offenbar unter dem ganzen Kolleg und bis in die Stadt aus, möglicherweise sogar noch weiter. Erienne verstand, warum die Wände des Kartenraums mit Zeichnungen kleiner Abschnitte der Mana-Karte bedeckt waren. Es war schwer, bestimmte Punkte wieder zu finden. Erienne hatte keine Ahnung, in welchen Gängen und Räumen sie sich gerade befanden. Ihre einzige Gewissheit war, dass man sich hier unten hoffnungslos verlaufen konnte.
Lächerlich. Ein Tunnelkomplex, dessen Ausmaße niemand wirklich kannte. Sie war nicht einmal sicher, ob Dystran aus diesem Vogelnest voll winziger Mana-Fasern irgendetwas ablesen konnte. Dann runzelte sie die Stirn. Ein winziger Blitz erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie beugte sich vor. Ganz unten auf der Karte, links und weit außerhalb der eigentlichen Katakomben, hatte der Mana-Faden einen neuen Durchgang gefunden. Es waren sogar mehrere, die aus dem Zentrum herausliefen.
Sie sah einen Moment zu und konnte beobachten, wie die Karte um eine Winzigkeit wuchs. Beinahe hätte sie gelächelt, doch ein stechender Kopfschmerz riss sie in die Gegenwart zurück. Sie keuchte erschrocken.
Myriell, bist du da?
Ich bin da, Kind, aber ich habe Angst, das kann ich nicht vor dir verbergen. Die Angst schwächt mich.
Sage mir, was los ist. Ich habe das Gefühl, über mich sei ein Todesurteil verhängt worden.
Ein Hauch Belustigung ging mit den nächsten Gedanken einher. Da sind wir schon zwei. Ich weiß, was sie planen. Sie haben Cleress bereits mit einem Schlafspruch ausgeschaltet. Wenigstens wird ihr dies erspart bleiben.
Du musst sie aufhalten, sendete Erienne verzweifelt.
Das kann ich nicht. Meine Kräfte verwende ich darauf, dein Bewusstsein abzuschirmen. Aber wenigstens ist Sha-Kaan erwacht. Das könnte sie aufhalten, aber ich bin nicht sicher … Erienne, höre zu. Falls ich getötet werde, musst du kämpfen, bis Cleress aufwacht und dir helfen kann. Die Xeteskianer wollen dich abschirmen, aber sie verstehen die Natur des Einen nicht. Sie werden es behandeln, als wäre es die Magie eines Kollegs, aber das ist es nicht.
Oh, Myriell, ich verstehe es auch nicht. Bitte hilf mir.
Dann höre, was ich sage, und bete, dass mir noch genug Zeit bleibt.
Ein weiterer Spruch knallte gegen den Kraftkegel. Rinelle und Vinuun hielten stand, aber es war knapp. Neben Hirad ruhte Sian’erei aus, hatte aber bereits einen Spruchschild vorbereitet, um einzuspringen, falls der Kraftkegel versagte. Vor dem Barbaren hielten sich Auum, Duele und Evunn bereit, um die Xeteskianer anzugreifen, die weiter hinten im Verteiler bereitstanden.
Hirad konnte sie nicht alle sehen, wusste aber, dass es mehr als die sieben Magier und über dreißig Soldaten waren, die er zählen konnte. Wahrscheinlich versuchten sie auch, den Raben zu umgehen und ihnen in den Rücken zu fallen, und das beunruhigte ihn. Die sechs TaiGethen und bewachten die beiden möglichen Zugangspunkte. Thraun war bei ihnen, und sein scharfer Geruchssinn sollte als eine Art Frühwarnsystem dienen, aber dadurch konnten sie höchstens einige Augenblicke gewinnen. Er schien auch irgendwie abwesend. Rebraal unterstützte seine Magier mit ermutigenden Worten. Darrick patrouillierte in den Gängen. Immer der General, immer der Taktiker, auch wenn er nur wenig beisteuern konnte. Sie hatten sich aus einer verzweifelten Situation befreit und waren geradewegs in die nächste hineingeraten.
Der magische Angriff hörte auf. Ein Kraftkegel war ein ausgezeichneter Spruch. Eine einfache Form, die leicht zu erschaffen und glücklicherweise auch leicht zu erhalten war, weitgehend unempfindlich gegen magische Angriffe. Der Angriff eines mächtigen Magiers, oder gar mehrerer zugleich, konnte den Kraftkegel zwar brechen, aber das Problem der Xeteskianer war, dass dieser Kraftkegel nur einen kleinen Bereich abdeckte und besonders eng gebündelt war. Der Rabe konnte nicht zurückschlagen, weil die Sperre in beide Richtungen wirkte, doch die Xeteskianer hatten auch nicht das Geschick oder nicht genügend Kraft, um ihn zu zerstören.
Abrupt wichen die Magier und Soldaten nach links und rechts aus. Weitere Männer kamen die Treppe herunter, Magier dieses Mal. Es waren sechs, fünf davon in lockerem Halbkreis um einen Anführer, der vortrat. Zehn Protektoren folgten ihnen und schwärmten ringsum zu einem Dreiviertelkreis aus. Diese Männer strahlten eine Macht und Stärke aus, die Hirads Herz einen Moment stocken ließ.
»Das sieht übel aus«, murmelte er.
»Allerdings.« Darrick war neben ihn getreten. »Das sind Dystran und der Kreis der Sieben, nur Ranyl fehlt. Mächtigere Magier gibt es hier nicht.«
»Wie schön.« Hirad drehte den Kopf herum. »Unbekannter! Hoffentlich erreichst du da drin bald was. Hier draußen gibt es ein kleines Problem.«
Dystran trat nahe an den Kraftkegel heran. Hirad war sehr in Versuchung, den Al-Arynaar zu befehlen, den Kegel nach vorn zu stoßen und den Herrn vom Berge zu zerquetschen, aber Dystran war natürlich, genau wie die anderen angreifenden Magier, gut geschützt.
»Ihr seid ein Meister der Untertreibung«, sagte der Herr vom Berge. »Hirad Coldheart, nicht wahr? Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Ihr genießt einen außerordentlichen Ruf.« Dystrans Blick wanderte langsam über die Gegner. »Bemerkenswert. Der Rabe, oder wenigstens ein Teil davon. Die außergewöhnlichen TaiGethen, wie sich die Elfen meines Wissens selbst nennen. Und Ihr, General Darrick. Wie fühlt man sich als Ausgestoßener? Ich könnte Euch eine gehobene Position in meinem Stab anbieten. Da Lystern Euren Tod wünscht, seid Ihr doch mein Verbündeter, oder nicht?«
»Eure Logik ist fehlerhaft«, sagte Darrick. »Ich bin so wenig Euer Freund, wie ich ein Feind Lysterns bin. Aber Lystern ist wenigstens nur einem Irrtum aufgesessen.«
Dystran kicherte. »In der Tat. Hinrichten werden sie Euch trotzdem. Ich möchte ihnen nicht nacheifern müssen.« Sein Gesichtsausdruck wurde hart. »Es ist vorbei. Ihr seid sehr tapfer, aber Ihr könnt nicht ewig gegen uns standhalten. Eure Magier werden müde, Euer Kraftkegel wird zerfallen, und wir werden Euch festnehmen.
Ich sage es noch einmal: Ihr müsst nicht sterben. Allerdings müsst Ihr Euch ergeben. Ich halte alle Trümpfe in der Hand. Ich werde nicht einmal Sprüche auf Euch verschwenden, ich muss nicht einmal gegen Euch kämpfen. Ich muss einfach nur abwarten.«
»Dann wartet«, sagte Hirad. »Wir haben es nicht eilig.«
»Nur der Rabe könnte unter solchen Umständen noch eine derartige Arroganz an den Tag legen. Ich werde Euch töten, wenn ich muss. Es gibt keinen Ausweg. Stellt meine Geduld nicht auf die Probe. Sie neigt sich dem Ende zu, und jetzt schon besudelt das Blut viel zu vieler Männer und Magier die Steine meines Kollegs. Ich werde das nicht länger hinnehmen.«
»Geduld ist eine Tugend«, sagte Hirad. »Ihr müsst lernen, tugendhafter zu sein. Wir gehen hier nicht weg.«
Dystran nickte, und Hirad sah, wie er vor Wut kochte. »Ja. Ranyl hat mir gesagt, was Ihr hier wollt. Sehr lobenswert. Wir sind aber mit dem Drachen noch nicht fertig, und er bleibt, bis wir fertig sind.«
Hirad zielte mit dem Finger auf Dystran. »Ihr könnt Sha-Kaan nicht kontrollieren. Bei den brennenden Göttern, er ist viel stärker, als Ihr es Euch vorstellen könnt. Und wisst Ihr was, Xeteskianer? Wenn ich mir vorstelle, was gerade Euren kostbaren Männern auf Herendeneth blüht, dann dürftet Ihr bereuen, ihn nicht längst nach Hause geschickt zu haben, glaubt mir.«
»Wirklich, Coldheart? Glaubt Ihr denn, Ihr könnt mir damit drohen? Mit einem einzigen sterbenden Drachen? Dies ist Eure letzte Chance. Lasst den Kraftkegel fallen. Lasst den Spruchschild fallen. Streckt die Waffen. Jetzt sofort.«
»Leck mich«, sagte Hirad.
»Na schön. Dann muss ich zu anderen Mitteln greifen. Ich kann nicht zulassen, dass Ihr meine Forschungen weiter stört.« Er schnippte mit den Fingern, und ein Protektor kam zu ihm. »Es ist an der Zeit, einen von Euch aus dem Spiel zu entfernen. Myx, du kennst den Befehl.«
Der Protektor nickte.
Sol, wir spüren dich. Wir wissen, dass du uns hören kannst.
»Verdammt, aber ihr könnt mich nicht hören«, sagte der Unbekannte. »Oder doch?«
Er stützte sich mit beiden Händen auf den Sockel und hatte die Stirn auf den Seelenverband gelegt. Der Stein war warm, und die Temperatur nahm ständig zu. Neben ihm standen Kestys und Denser, die sich aufs Mana-Spektrum eingestimmt hatten. Kestys schwitzte heftig, seine Konzentration war gefährdet. Denser überwachte die Konstruktion, die Kestys aufbaute, oder besser, die Auflösung der Sprüche, die das Bindeglied zwischen dem Seelenverband und der Dimension der Dämonen schufen.
Die Informationen waren unsicher, und der Unbekannte hatte nicht viel Zeit für Erklärungen gehabt. Er wusste immerhin, dass die Seele jedes Protektors über die Dämonenkette mit seinem Körper verbunden blieb. Diese Verbindung war die Grundlage des Pakts und erlaubte es den Dämonen zugleich, die Lebensenergie der Seelen anzuzapfen. Als Gegenleistung hielten sie die Elitekämpfer unter ihrem Bann und ermöglichten die seelische Kommunikation der Protektoren, die sie zu so wirkungsvollen Kampfmaschinen machte.
Ein Teil des Wissens war in den Jahrhunderten nach der Einrichtung der interdimensionalen Verbindung wieder verloren gegangen. Die Al-Drechar hatten diese Lücken gefüllt.
»Wie lange noch, Denser?«, fragte der Unbekannte.
Der Dunkle Magier hob eine Hand. »Bitte, Unbekannter. Die Dämonen leisten Widerstand. Nicht mehr lange, hoffe ich.«
»Bitte hört mich«, flüsterte der Unbekannte, dessen Lippen jetzt beinahe den Seelenverband küssten. Das Getöse der Stimmen in seinem Kopf wurde lauter, je deutlicher die Seelen den Missklang spürten, der mit der Erwärmung des Gefängnisses einherging. »Fyr, Ahn, Kol, meine Brüder – bitte.« Er umfasste die Seiten des Kastens und mühte sich verzweifelt, zu ihnen durchzudringen, er hoffte wider alle Vernunft, seine körperliche Nähe könnte etwas bewirken.
Es gibt Schwierigkeiten.
Wir sind eins.
Sol ist nahe.
Zwei Quergänge, rechte Katakombe, Position halten.
Ich bin verändert.
Veränderungen.
Alle sind in Unruhe.
Der Befehl ist erteilt. Ark, die Al-Drechar muss sterben.
»Nein!«, zischte der Unbekannte. »Nein. Myx, Ark, bei den Göttern, nein. Ich will euch befreien, tut das nicht.«
Verstanden. Mein Magier wird benachrichtigt.
Wir sind eins.
»Nein, verdammt«, keuchte der Unbekannte. »Nein.«
Er richtete sich auf und rannte in Richtung des Verteilers, wo Hirad und Darrick standen.
»Myx!«, rief er. »Sage ihm, er soll warten! Ark darf es nicht tun, Xetesk versteht es nicht.«
Myx bewegte den Kopf und machte einen unsicheren Schritt. Dystran zog eine Augenbraue hoch.
»Ich … kann nicht. Bitte, Sol.«
»Bei den Göttern, sag es ihm einfach nur, sage es Ark. Niemand wird euch etwas tun. Ihr spürt die Hitze im Tank, oder? Halte ihn auf!« Neben Hirad blieb der Unbekannte stehen. »Ruft Euren Mann zurück, Dystran.«
»Faszinierend«, sagte der Herr vom Berge. »Dass Ihr sie immer noch hören könnt. Wollt Ihr Euch nicht wieder zu ihnen gesellen?«
»Nein, weil es sie in dieser Form nicht mehr geben wird, Bastard. Gebt Ark die Anweisung, ehe es für uns alle zu spät ist.«
»Leck mich«, sagte Dystran und grinste Hirad an.
Pass auf, Erienne. Myriells Stimme kam klar durch, und sie klang sehr verängstigt.
Was ist los?
Sie kommen jetzt.
Nein, Myriell. Lauf weg, LAUF!
Ich kann nicht weglaufen, mein Kind. Bete für mich, wie ich für dich bete.
Myriell, schütze dich. Ein Spruch, benutze einen Spruch. Lass mich allein, rette dich.
Zu spät. Die Stimme der Al-Drechar klang müde und gebrochen. Sei stark.
Erienne rannte los. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, sie stürzte einfach aus dem Kartenraum heraus, sah den Unbekannten und Hirad und eilte zu ihnen.
»Hirad!«, kreischte sie. »Hilf mir!« Dann sah sie Dystran. »Hört auf damit. Ihr versteht es nicht. Ihr tötet mich damit. Bitte.«
»Ich glaube, da können wir Euch helfen«, sagte Dystran ruhig.
Erienne wich in Hirads Arme zurück und schüttelte den Kopf. »Das könnt Ihr nicht. Ihr versteht es nicht.« Sie zitterte heftig, und ihr Herz schlug so laut, dass sie kaum noch ihren keuchenden, schmerzvollen Atem hören konnte. »Bitte, tötet sie nicht.«
Ein schwerer Aufschlag erschütterte das Haus. Sha-Kaan brüllte seine ungehemmte Wut heraus und zerfetzte den Schiefer und die Balken mit Krallen und Maul. Es regnete Putz, ein ohrenbetäubender Lärm entstand. In wenigen Augenblicken wäre er drinnen.
Ark schritt mit erhobener Axt zu den Al-Drechar. Die Befehle hatte er vernommen, aber sein Bewusstsein war voller Nebelschleier. Der Seelenverband war in hellem Aufruhr. Er hörte seine Brüder, doch etwas Fremdes kam zwischen sie. Er fühlte sich fiebrig, als erzeugte sein Körper eine Wärme, die er nicht abstrahlen konnte. Myx hatte ihm die Anweisungen des Herrn vom Berge klar und deutlich übermittelt, und doch bestand kein Zweifel daran, dass er unglücklich war.
Sol hatte ihn angefleht, es nicht zu tun, doch er hatte keine Wahl. Die Dämonenfinger waren kurz davor, seine Seele und die Seelen aller seiner Brüder zu zerquetschen. Wütend waren sie auch. Alles, was er bisher gekannt hatte, geriet aus den Fugen.
Was kann ich tun?
Ark, du hast die gleichen Möglichkeiten, die du immer hattest. Sol will uns befreien, aber die Dämonen sind alarmiert. Wie könnten wir uns weigern?
Ich habe keine Wahl.
Wir sind eins. Wir werden trauern.
Er stand jetzt vor der Al-Drechar. Sie machte keine Anstalten zu fliehen, schaute nur resigniert zu ihm auf und fügte sich in ihr Schicksal. Eigentlich sollten sie doch beschützt werden. Aber wenn der Herr vom Berge sie töten wollte, durfte sich ein Protektor nicht weigern. Er schämte sich, dass ihm überhaupt solche Gedanken kamen, aber seit Sol sie verlassen hatte, waren Zweifel gekeimt.
Helft mir, meine Brüder.
Wir können uns dem Meister nicht widersetzen.
Sol ruft, dass du es nicht tun sollst.
Die Dämonen sind uns allen nahe.
Mögen die Götter mir vergeben.
Ark hob die Axt. »Es tut mir leid.«
Die Al-Drechar nickte nur.
Ark spannte die Muskeln und holte aus, und in diesem Augenblick wäre er beinahe umgefallen. Es war still in seinem Geist, ein Verlustgefühl überkam ihn, und im gleichen Augenblick war er von einer ungeheuren Freude erfüllt, weil seine Seele mit einem Aufschrei zu ihrem angestammten Platz zurückkehrte.
Voller Panik stieß er einen Schrei aus und wollte die Axt von ihrem Ziel ablenken.
Erienne sah die Protektoren schwanken. Einer ging in die Knie, andere taumelten und hielten nur mühsam das Gleichgewicht oder stützten sich an den Wänden ab. Rufe ertönten, erschrockene, verwirrte und ängstliche Rufe.
Sie wandte sich zum Unbekannten Krieger um. Er ballte beide Hände zu Fäusten.
»Ja! Ja, du Bastard, ja!«
»Wir haben es geschafft«, sagte sie erleichtert. »Myriell, wir …«
Myriells Schrei klang in Eriennes Kopf, als sei ein riesiger Glasbehälter explodiert. Eine Kaskade von Schmerzen und ein Aufwallen von Kräften, die sie niemals zurückhalten konnte.
»Nein«, wimmerte sie. »Denser.«
Doch das Letzte, was sie sah, war der entsetzte Blick des Unbekannten, als das Eine durchbrach und ihr Bewusstsein in Stücke riss.