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Zwanzigstes Kapitel

Nyam sah sich um, während sich seine Lippen lautlos bewegten. Da waren alle Beweise, die er brauchte. Ob er aber etwas unternehmen sollte, war eine ganz andere Frage.

Links lag Cleress in tiefem Schlaf, die jüngsten Ereignisse hatten sie nicht gestört. Vor ihm saß Myriell kerzengerade auf dem Stuhl, ein Kissen hinter dem Kopf und versorgt von einem Elfen der Gilde. Sie hatte die Augen geschlossen, schlief aber nicht. Er konnte sehen, wie sich die Pupillen unter den Lidern bewegten. Gelegentlich machte sie eine kleine Geste, und auch ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt, doch dies war ein Ausdruck der Konzentration und nicht der Verwirrung.

Er hatte Diera völlig falsch eingeschätzt. Die Frau war viel stärker, als er angenommen hatte, und dies hatte zu der Pattsituation geführt, in der er sich jetzt befand. In dem Augenblick, als er ihr Leben bedroht hatte, hatte sie ihr Kind an sich gerissen und um Hilfe gerufen. Die Elfen der Gilde waren ins Zimmer gestürmt, und sofort hatten sich Protektoren an den Wachen vorbeigeschoben.

Jetzt umringten Protektoren den Eingang zu den Gemächern und hielten die Gilde-Elfen auf Abstand, während Nyam die Al-Drechar beobachtete. Weitere Protektoren bewachten jedoch Dieras Schlafzimmer und zeigten Nyam, dass ihre Loyalität keinesfalls eindeutig war und dass der Magier sich auf dünnem Eis bewegte. Seine Kollegen, bemerkte er, waren entweder nicht bereit oder nicht fähig, zu ihm zu stoßen. Vielleicht dachten sie über diesen Morgen nach und überlegten, wie sie ihr eigenes armseliges Leben retten konnten, wenn Sha-Kaan kam, um Vergeltung zu üben, wie es unweigerlich geschehen musste.

»Warum habt Ihr das getan?«, fragte Nerane, die Elfenfrau, die Myriells Stirn abtupfte. »Wir haben Euch in jeder Weise geholfen, so gut wir konnten. Wir haben Eure Fragen beantwortet.«

»Nicht alle«, erwiderte Nyam. »Und jetzt habe ich die Antwort, die meine Herren in Xetesk haben wollen. Ihr hättet uns nicht verheimlichen dürfen, dass noch ein anderer Magier des Einen am Leben ist und unter Eurem Schutz steht. Wir wollen den Orden erhalten und dazu beitragen, dass er wieder wächst.«

»Ihr wollt ihn für Euch selbst übernehmen.« Myriells Stimme klang gebrochen und erschöpft. »Das werden wir nicht zulassen.«

Nyam sah die alte Elfenfrau an, die ihre Augen öffnete und ihn mit unverhohlener Abscheu betrachtete.

»Damit unterstellt Ihr, dass Ihr überhaupt eine Wahl habt«, sagte Nyam.

»Wir haben immer die Wahl.«

»Beschützt Ihr sie jetzt?«

»Ich tue, was ich tun muss. Durch Euer Eindringen gefährdet Ihr, was Euch wichtig ist.« Myriell schloss die Augen wieder.

»Ihr müsst uns erlauben, Euch zu helfen.«

»Wir werden niemals erlauben, dass unsere Geheimnisse einem Kolleg in die Hände fallen«, erwiderte sie mit schwacher Stimme. »Hinaus.«

Nyam sah sich zwischen seinem Respekt vor den Al-Drechar und dem Bedürfnis, seine Autorität unter Beweis zu stellen, hin und her gerissen. Drohungen fruchteten hier wohl nichts. Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Es war ein Protektor.

»Ihr müsst mich anhören, mein Magier«, sagte er. »Ich stehe in Verbindung mit Myx.«

Myx. Dystrans persönlicher Protektor.

»Sprich.«

Nyam lauschte, und sein Herz begann zu rasen.

 

Rebraal bezog seine Position in der Deckung der beiden Säulen, die den Eingang zum Kuppelkomplex flankierten. Als der Rabe in der üblichen Kampfformation, dem Fünfstern, mit einem Quartett von Magiern im Schlepptau herausgerannt kam, spannte er wieder den Bogen und verschaffte sich einen Überblick über die Verteidigung des Kollegs.

Vor ihnen öffneten sich die Ziergärten zu einem Hof, dahinter lag das derzeit geschlossene Westtor des Kollegs. Auf beiden Seiten rannten Männer auf der Mauer entlang zum Torhaus. Weitere Kräfte hatten sich im Hof gesammelt. Der Rabe sah sich ungefähr der vierfachen Anzahl an Schwertkämpfern, Magiern und Bogenschützen gegenüber.

Auch rechts, also dort, wohin sie eigentlich laufen wollten, tat sich etwas in den Ställen und Unterkünften. Dort sammelten sich ebenfalls Soldaten. Einige liefen schon in Richtung des Mana-Bades, andere formierten sich, um sich zu den Türmen zu begeben. Also hieß es schnell kämpfen und den Weg für die TaiGethen offen halten, die von links kommen mussten, nachdem sie die Bibliothek durchsucht hatten. Immer vorausgesetzt natürlich, sie stießen auf keine allzu großen Schwierigkeiten.

Sprüche flogen in hohem Bogen und trafen beide Abteilungen, als sie sich näherten. Rebraal suchte unter den Gegnern nach den Magiern, die für die Schilde verantwortlich waren. Funken sprühten, als die Feuerkugeln der Al-Arynaar gegen den xeteskianischen Schild prallten, der unter dem Druck ein wenig nachgab. Denser jagte einen Eiswind hinterher. Eine extrem unterkühlte Luftströmung stieß gegen das Dunkelblau der feindlichen Schilde. Dann antworteten die Xeteskianer, und die Barriere der Al-Arynaar blitzte auf. Auch sie gab nach, ohne zu zerbrechen, und der Rabe war weiterhin geschützt.

Die Kämpfer näherten sich einander, der Rabe stieß mit der gewohnten Kraft vor. Der Unbekannte überwand die Deckung seines Gegners und zerschnitt ihm das Gesicht vom Kinn bis zur Stirn. Ein rascher Hieb seitlich an den Kopf des Gegners warf ihn zur Seite, und der große Krieger hatte wieder genügend Raum zum Kämpfen. Hirad wechselte neben ihm im letzten Moment das Schwert in die andere Hand und verwirrte seinen Gegner, der vergeblich versuchte, nachträglich den Schlag anzupassen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und musste hilflos zusehen, wie Hirad nach links auswich und ihm das Schwert in die ungedeckte linke Seite schlug.

Rebraal spannte den Bogen, als die Xeteskianer aus dem Hof stürmten, um die Flanke anzugreifen. Sie hatten Bogenschützen und Schwertkämpfer dabei, es waren fünf, die in enger Formation kamen. Er ließ den Pfeil fliegen, der ein wenig nach rechts abgelenkt wurde und die Schulter eines Schwertkämpfers traf. Der Mann drehte sich um sich selbst und stürzte. Die anderen achteten nicht auf ihren gefallenen Kameraden, sondern rannten weiter. Hirad würde Schwierigkeiten bekommen.

Der Anführer der Al-Arynaar nahm einen weiteren Pfeil aus seinem schwindenden Vorrat und legte ihn ein, während er schon die Treppe hinunterrannte, um den Barbaren zu unterstützen. Er suchte sein nächstes Ziel aus, spannte die Sehne und schoss im Laufen. Er verfehlte den Schwertkämpfer und verpasste einem Bogenschützen einen leichten Streifschuss an der Wange. So hatte er nichts erreicht, außer die Aufmerksamkeit der Feinde auf sich zu ziehen.

Es war Zeit zu kämpfen. Er hockte sich hin, legte den Bogen ab und rannte weiter. Als er die Rabenkrieger erreichte, zog er sein Kurzschwert. Hirad hatte die Gefahr noch nicht bemerkt, weil er mit einem geschickten, wendigen Gegner beschäftigt war.

»Hirad, rechts! Pass auf deine rechte Seite auf!«, rief er.

Pfeile flogen, er duckte sich instinktiv. Er musste möglichst schnell unter Eriennes harten Schild kommen. Darrick und Thraun arbeiteten ausgezeichnet zusammen, die rohe Schlagkraft des Gestaltwandlers war eine gute Ergänzung für Darricks geschickten Umgang mit dem Schwert und seine solide Verteidigung.

»Rechte Flanke!«, rief der Unbekannte, der Rebraals Warnung gehört hatte und mit der Klinge auf den Wächter vor ihm einschlug. Der Mann blockte den Schlag zwar ab, taumelte aber unter dem Aufprall. Ein Schlag mit dem Heft des Dolchs schickte ihn endgültig zu Boden.

Hirad zog seine Klinge niedrig und energisch herum, der Gegner wehrte ab, wich aus, traf mit seinem Schwert den linken Arm des Barbaren und schlitzte Leder und Fleisch auf. Hirad knurrte und antwortete mit einer Riposte, die den Schenkel des Gegners traf. Dann wich er einen Schritt zurück, und diese Bewegung rettete ihm das Leben.

Im letzten Augenblick sah er die beiden Schwertkämpfer, die ihn auf der rechten Seite angriffen. Er zog sein Schwert zurück und konnte die erste Klinge abwehren, doch zum zweiten Mal binnen weniger Sekunden ritzte ein Schwert seinen Arm auf, dieses Mal auf der rechten Seite. Er duckte sich unter einem wilden, ausholenden Schlag des zweiten Angreifers hinweg, hatte aber seinem ersten Gegner nichts mehr entgegenzusetzen. Der gewandte Mann setzte zu einem tödlichen Schlag an, sah seine Klinge aber vom Schwert des Unbekannten blockiert. Der große Mann stach ihm den Dolch in die Schläfe.

Rebraal nahm drei Schritte Anlauf und versetzte dem zweiten Angreifer mit beiden Füßen einen Tritt vor die Brust. Er landete auf dem Mann, hörte dessen Rippen knacken und drehte sich um. Der Barbar nickte ihm dankbar zu, bevor sie sich zum letzten noch stehenden Schwertkämpfer umwandten. Einen Herzschlag später war es um ihn geschehen.

Die Bogenschützen zogen sich eilig zurück und nahmen die schützenden Magier bis zum Hof mit. Wie auf ein Stichwort erschien Auum mit seinen Tai an der Ecke der Bibliothek.

»Der Rabe, los jetzt!«, rief der Unbekannte.

Doch von rechts, von der anderen Seite des Kollegs, kamen weitere Feinde. Gleichzeitig schwang das Westtor des Kollegs auf, und auch von dort strömten Männer herbei, die sich direkt in ihre Richtung wandten.

»Oh, ihr guten Götter«, keuchte Hirad. Seine Arme schmerzten, seine Schenkel brannten vor Anstrengung.

Der Vorstoß des Raben kam zum Erliegen, kaum dass er begonnen hatte. Die TaiGethen sammelten sich rings um ihn. Anscheinend kamen jetzt von überall xeteskianische Truppen zu Fuß und sogar zu Pferd herbei. Pfeile und Bolzen prasselten auf Eriennes harten Schild.

»Das schaffen wir nicht«, sagte Darrick. »Wir sitzen in der Falle.«

»Vorschläge?«, fragte der Unbekannte. »Uns läuft die Zeit davon.«

»Es gibt nur einen Ort, den wir verteidigen können«, sagte Denser. Er bewegte sich bereits in Richtung der Türme. »Folgt mir.«

»Zurück zur Kuppel, zurück zur Kuppel!«, rief Hirad. »Rebraal, bring deine Leute mit.«

Die Gefährten drehten sich um, rannten die Treppe hinauf und brachten sich durch die offenen Türen vorübergehend in Sicherheit. Xeteskianische Sprüche kamen geflogen und schlugen hinter der Gruppe ein. Er hörte Gireeth vor Schmerzen schreien, drehte sich um und sah, wie der Schild des Magiers zerstört wurde. Ein Schwall heißer Luft schlug ihm entgegen, hartes, kobaltblaues Licht blitzte, und eine Feuerkugel ging zwischen den TaiGethen nieder.

Brennende und sterbende Elfen wurden auf den Boden geworfen, ihre Schreie verloren sich im Tosen der Flammen, die an den Stufen leckten und sie in die Fersen bissen.

»Schneller!«

Heftig keuchend legte Hirad noch einmal Tempo zu. Die Tür war nur noch wenige Schritte entfernt. Auum führte seine Tai-Zelle hinein, der Rabe folgte danach, dann kamen die Glücklichen, die den Zusammenbruch des Schildes überlebt hatten.

Thraun und der Unbekannte drückten die gut geölten Türen mit den Schultern zu, während draußen die Pfeile ins Holz schlugen.

»Denser, Schutzspruch«, verlangte der Unbekannte.

»Bin schon dabei.«

Es war ein schneller, wirkungsvoller Spruch. Hellblaues Licht spielte knisternd auf dem Schloss und der Maserung des mit Eisenbeschlägen verstärkten Holzes. Rebraal blieb unsicher am Schauplatz des Kampfes stehen, der vor kurzem hier stattgefunden hatte. Dann drehte er sich um und betrachtete sie alle, Elfen und Rabenkrieger gleichermaßen. Drei TaiGethen und zwei Magier der Al-Arynaar hatten es nicht geschafft. Die anderen lebten zwar noch, hatten aber alle den gleichen Gedanken.

Sie saßen mitten im Dunklen Kolleg in der Falle.

 

»Ah, meine Herren, ich freue mich, dass Ihr an diesem so außergewöhnlichen Abend kommen konntet.« Dystran hatte sich in Ranyls Esszimmer im zweiten Stockwerk des Turms niedergelassen und begrüßte die Anwesenden mit schmalem Lächeln.

Der sterbende Herr des Turms lag oben und ruhte, die übrigen Mitglieder des Kreises der Sieben saßen am Tisch.

»Ihr habt sicher schon bemerkt, dass keine Erfrischungen gereicht werden«, fuhr Dystran fort. »Ihr bemerkt sicher auch, dass Hauptmann Suarav trotz meiner Bitte bisher nicht in der Lage war, zu uns zu kommen. Könnte mir jemand erklären, warum dies so ist?«

Er sah sich am Tisch um und betrachtete die Männer, die mindestens doppelt so alt waren wie er. Keiner erwiderte seinen Blick. Es gab doch eine Redensart über Elfenbeintürme  – er musste dafür sorgen, dass diese Magier einen besseren Eindruck von der Welt bekamen, die direkt vor ihrer Nase existierte.

»Der Grund ist, dass dieses Kolleg von ein paar alternden Söldnern und einigen höchst beeindruckenden Elfen angegriffen wird.« Immer noch keine Reaktion. Er knallte die Faust auf den Tisch. »Sie zerlegen mein Kolleg! Ihr habt doch sicherlich den einen oder anderen Ruf gehört oder bemerkt, dass Sprüche Eure hehren Hallen erbeben lassen.«

»Mylord«, sagte einer, doch Dystran achtete nicht auf ihn.

»Myx, sage mir, wo der Rabe und seine Elfenfreunde im Augenblick sind.«

»Sie sind soeben in die Kuppel gerannt, Mylord«, sagte Myx. »Die Türen wurden mit einem Schutzspruch gesichert.«

Einige Gäste am Tisch regten sich.

»Ja, meine Herren. Sie befinden sich nur wenige Schritte unter uns. Glücklicherweise gibt es einen Lichtblick, über den ich Euch unterrichten kann. Auf Herendeneth war ein eifriger junger Magier … wie hieß er noch gleich?« Er schnippte mit den Fingern.

»Nyam, Mylord«, half Myx aus.

»Nyam konnte mit großer Sicherheit bestätigen, dass die Al-Arynaar einen Magier des Einen abschirmen. Wir Ihr wisst, glauben wir, dass es sich bei diesem Magier um Erienne handelt, die zusammen mit den anderen Rabenkriegern direkt unter uns in der Falle sitzt. Wir werden jetzt Folgendes tun.

Zuerst einmal müssen wir eine Botschaft an einige alte Freunde schicken. Dann will ich den Beweis antreten, dass Erienne tatsächlich die betreffende Magierin ist, und Ihr müsst bereit sein, im Mana-Spektrum zu handeln, sobald der Beweis vorliegt. Wir haben immer gesagt, dass wir fähig sind, einen Magier des Einen vor seinem eigenen Bewusstsein zu beschützen, während die Erweckung vollendet wird, um ihn anschließend in der Kunst zu unterweisen, die in gewissen kostbaren Texten beschrieben wird. Es ist an der Zeit, diese Behauptung wahr zu machen.« Er wandte sich an Myx. »Wann können deine Brüder ihre Positionen vor dem Turmkomplex einnehmen?«

»Bevor die Stunde zu Ende ist, werden sie bereit sein, Mylord.«

»Gut. Dann weise unseren neuen Freund Nyam an, die Al-Drechar, die Erienne derzeit noch abschirmen, zu töten, wenn die Stunde vorbei ist.« Dystran drehte sich wieder zum Tisch um und betrachtete seine Fingerspitzen, ehe er die fassungslosen Gesichter des Kreises der Sieben anstarrte. »Damit sollten wir den Beweis bekommen, nicht wahr?«

 

»Wir können nicht hierbleiben«, sagte Denser.

»Ach, nein?«, fauchte Hirad. Er fuhr sich mit einer blutigen Hand durch die Haare. »Und ich dachte schon, wir richten uns hier häuslich ein und warten ab, bis der Ärger vorbei ist.« Etwas prallte gegen die Tür, die Balken krachten, doch es war ein halbherziger, frustrierter Vorstoß und kein ernsthafter Versuch, den Eingang aufzubrechen. »Bei den Göttern, das ist wie in Lystern, nur dass wir keine Pferde haben, die gesattelt bereitstehen. Außerdem hat diese Stadt hier Mauern.«

»Still, Hirad«, sagte der Unbekannte. »Denser, wir brauchen einen Überblick, und zwar schnell. Was geht dir durch den Kopf?«

»Wir können uns hier nicht verteidigen, auch wenn es anders aussehen mag. Die Kämpfer draußen warten auf Anweisungen vom Kreis der Sieben, der irgendwo über uns tagt. Es sieht böse aus. Unser Fluchtweg ist versperrt. Ich glaube, im Augenblick gibt es keinen Ausgang. Aber hier oder besser in den Katakomben können wir wenigstens noch etwas tun, und dort können wir uns auch noch eine Weile halten.«

»Woran denkst du?«, fragte Hirad.

»Du willst doch deinen Drachen nach Hause schicken, oder? Ich weiß, wo die Forschungen stattfinden. Vielleicht halten wir lange genug durch, um den Spruch zu wirken. Es kommt darauf an, wie kompliziert er ist.«

»Aber du bist dir nicht ganz sicher?«, fragte der Unbekannte.

Denser schüttelte den Kopf.

»Einen besseren Plan haben wir nicht. Rebraal, hast du das gehört?«

Der Elf nickte. »Ich habe es schon den TaiGethen erklärt. Wir wissen, wie gefährlich es war, hierher zu kommen. Wir bleiben bei euch.«

»Und das Aryn Hiil?«, fragte Denser.

»Es wird nicht wieder in ihre Hände fallen. Vorher würden wir es zerstören.«

»Gut, dann lasst uns gehen«, sagte der Dunkle Magier. »Noch etwas, Unbekannter. Wir glauben zu wissen, wo die Forschung durchgeführt wird und wo sich der leitende Magier aufhält. Es ist in der Nähe des Seelenverbandes. Tut mir leid.«

Der Unbekannte nickte. »Schon gut. Frag mich nur nicht, wie ich mich fühle. Das gilt für euch alle. Ihr wisst es sowieso schon.«

»Dann folgt mir«, sagte Denser. »Ich …«

Ein schrilles Geräusch erfüllte die Kuppel. Es war laut und durchdringend und ließ ihre Schädel beben. Hirad klatschte sich die Hände auf die Ohren und grunzte unwillkürlich. Überall in der Kuppel fielen Schwerter auf den Boden, und die Elfen gingen mit schmerzverzerrten Gesichtern in die Knie.

Abrupt hörte das Geräusch wieder auf, und der Eindruck einer großen Leere entstand. Eine Stimme, durch jede Oberfläche in der Kuppel verstärkt und absolut deutlich, durchbrach die Stille.

»Jetzt habe ich Eure Aufmerksamkeit. Ich habe einen Vorschlag für Euch. Ihr könnt mich doch hören, werte Rabenkrieger und Elfen?«

Die Stimme verhallte. Hirad hob die Klinge und sah sich um, woher sie käme. Thraun keuchte schwer mit geschlossenen Augen und bleichem Gesicht. Den Elfen ging es nicht besser. Der Unbekannte starrte die Decke an, richtete sich drohend auf und hielt sein Schwert fest. Darrick rieb sich die Ohren und zeigte den gereizten Gesichtsausdruck, der in der letzten Zeit öfter zu sehen gewesen war. Erienne stand dicht neben Denser und sah ihn fragend an, worauf er das Wort ergriff.

»Dystran, dieses Gebrüll wäre nun aber wirklich nicht nötig gewesen.«

»Ich dachte, es beeindruckt Euch. Wirklich, es sollte Euch beeindrucken. Ihr habt Euch an einem Ort versammelt, der für solche Darbietungen geeignet ist wie kein zweiter. Vergesst das nicht. Ich kann noch viel, viel lauter werden.«

»Wir sind von Euren Fähigkeiten gebührend beeindruckt«, sagte Denser, doch seine Stimme klang gelangweilt. »Was wollt Ihr?«

»Ich will das Blutvergießen beenden«, sagte Dystran. »Ihr habt Eure Fähigkeiten im Kampf gegen meine Leute bewiesen, aber das ist jetzt vorbei. Ihr sitzt in der Falle, und das wisst Ihr auch. Aber Ihr müsst nicht sterben. Ich habe ein Angebot für Euch. Ergebt Euch, und keinem von Euch wird etwas geschehen. Die Elfen bekommen sicheres Geleit nach Calaius, sobald die Belagerung aufgehoben wird – vorausgesetzt, sie geben uns zurück, was sie aus unserer Bibliothek entwendet haben. Die Rabenkrieger werden als unsere Gäste hier bleiben, bis dieser unschöne Konflikt vorbei ist. General Darrick, da Ihr von Eurem eigenen Kolleg zum Tode verurteilt worden seid, müsstet Ihr dies sogar als glückliche Wendung empfinden. Denser, Ihr könnt Euch wieder mit dem Ort vertraut machen, der Euch zu dem gemacht habt, der Ihr seid. Sol, Ihr könnt sicher sein, dass Eurer Familie nichts geschieht. Sprecht über Eure Protektorenbrüder mit ihnen, wann immer ihr wollt. Erienne … Erienne, mit uns zusammen könnt Ihr Euer Potenzial entwickeln. Ich weiß, es ist verlockend, aber ich will Euch Zeit geben, darüber zu beraten. Ich lasse Euch also eine kleine Weile in Ruhe, und dann öffnet Ihr die Türen. Die andere Möglichkeit verheißt nur Leid und Schmerz, glaubt mir.«

Dystrans Stimme verklang. Hirad wollte etwas sagen, doch Denser legte einen Finger auf die Lippen und deutete nach oben. Dann breitete er die Arme aus und stellte eine wortlose Frage. Alle schüttelten den Kopf. Denser lächelte, legte wieder den Finger an die Lippen und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Er winkte Rebraal zu sich.

»Die Eingänge zu den Katakomben sind bewacht. Vielleicht könnte Auum uns die Ehre erweisen«, flüsterte er dem Elf ins Ohr.

Rebraal nickte. »Wir kümmern uns darum.« Er ging zu Auum und übermittelte ihm den Auftrag.

Geführt von den TaiGethen, betrat der Rabe die Katakomben von Xetesk.

 

Pheone ging alleine um den Krater herum, in dem das Herz von Julatsa ruhte. Sie war zwischen Kummer und Hoffnung hin und her gerissen. Ihre Leute hatten den Belagerungsring um Xetesk erreicht und mit den Al-Arynaar Verbindung aufgenommen. Die Kommunion hatte ergeben, was sie zu hören gehofft hatte. Sie würden kommen, hatten aber noch einen Auftrag zu erledigen, ehe sie die eigenen Reihen verließen und nach Norden zogen. Diese Neuigkeit hatte sie mit einer unerwarteten Zuversicht erfüllt. Ebenso schnell war ihr das Herz wieder schwer geworden.

Anscheinend war der Rabe im Spiel, auch wenn sein Aufenthaltsort wegen der Schwierigkeiten mit Lystern und Dordover geheim war. Die Gründe dafür hatten sie kaum interessiert, denn auf ihre Frage nach Ilkar hatte sie von seinem Tod erfahren und die Kommunion sofort abgebrochen. Die Trauer über den Verlust und dann die Leere hatten sie erfasst wie ein Sturm, der nicht mehr enden wollte.

Sie war von ihren Freunden fortgelaufen, die an der gemeinsamen Kommunion beteiligt gewesen waren, und sie waren rücksichtsvoll gewesen und hatten sie sich selbst und ihren Gedanken überlassen.

Lange hatte sie um Ilkar geweint – sein Lächeln, seine Energie, seine Ausstrahlung. Die Berührungen, die sie nie mehr spüren würde. Die Schmerzen, die mit seinem Tod durch den Elfenfluch verbunden gewesen waren. Sie dachte auch an den Raben. Eine so enge Freundschaft, zerstört durch etwas, gegen das sie nicht einmal kämpfen konnten. Hilflosigkeit. Sie wusste genau, wie sich das anfühlte.

Schließlich schob sie die Gedanken an den Elf, den sie geliebt hatte, beiseite, und stimmte sich auf das Mana-Spektrum ein. Der Schatten war da, bedeckte das Herz, dämpfte die Farben und zehrte an seinen Kräften. Auch das Phänomen, das sie vor allem in den letzten Tagen bemerkt hatten, war wieder zu beobachten. Der Schatten schickte dunkle Ausläufer wie Speere in das Spektrum. Sie fragte sich, was dies zu bedeuten hatte. Bisher war ihnen noch nichts eingefallen.

Wenigstens hatte es keine weiteren Ausfälle der julatsanischen Magie mehr gegeben. Allerdings fiel es ihnen viel schwerer als früher, ihre Sprüche zu wirken, und sie waren danach stärker erschöpft, als es hätte der Fall sein dürfen. Diese Schwierigkeiten waren für alle, die ihre Sprüche außerhalb des Kollegs und der Stadt wirkten, noch viel größer.

Pheone blieb stehen, blickte in die tiefe Schwärze hinab, die auch das Mondlicht nicht durchdringen konnte, und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Dunkelheit und der Schatten da unten vertieften sich jeden Tag ein wenig mehr, und mit jedem Tag schwanden ihre Aussichten, das Herz zu bergen, wenn die Elfen endlich kamen.

Sie betete, es möge nicht zu spät sein, aber vor ihr klaffte ein riesiger, gähnender Abgrund.