Neuntes Kapitel
»Also gut, was haben wir bis jetzt herausgefunden?«, fragte Dystran, als er mit seinen Archivaren und den Dimensionsforschern am Esstisch saß. Ranyl war sicher schon unterwegs, doch da er seit einiger Zeit starke Schmerzen hatte, würde er noch eine Weile brauchen.
Ein alter Dimensionsmagier, der links neben Dystran saß, wollte das Wort ergreifen, doch der Herr vom Berge hob die Hand und gebot ihm Schweigen.
»Meine letzte Frage könnte den Eindruck erwecken, ich sei lediglich an den neuesten Meldungen über den Stand unserer Forschungen interessiert. Nichts läge mir ferner.
Falls es Eurer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte, wir führen einen Krieg. Tausende Angreifer vor unseren Mauern brennen darauf, mich ans Tor meines Turms zu nageln, am besten gleich kopfüber. Unlängst konnten wir einen Sieg erringen, doch wir haben immer noch einen schweren Stand. Unser Volk fürchtet eine Invasion, jeden Tag wollen hunderte fliehen.
In diesem Krieg muss Xetesk triumphieren, weil wir sonst zu einem bloßen Schatten unser selbst verkommen und nie wieder die uns gebührende Stellung einnehmen können. Damit Ersteres und nicht Letzteres eintritt – und ich will Euch versichern, wenn es Letzteres ist, dann wird Euch Euer Schicksal lange vor mir ereilen –, müssen wir gewisse Dinge tun, und wir dürfen dabei keinen Fehler machen. Dazu brauche ich eure unbedingte Aufmerksamkeit und Eure Unterstützung.«
Er hielt inne und sah von einem zum anderen. Acht Männer zwischen dreißig und achtzig saßen am Tisch und hatten jedes Interesse an der Gemüsesuppe und dem Brot verloren. Wein und Wasser wurden in den Gläsern schal.
»Wir wollen mit dem Einfachsten beginnen. Wurde gestern in Lystern die Eine Magie gewirkt?«
»Ja.« Richtig, sein Name war Kestys – Dystran hatte einfach kein gutes Namensgedächtnis, auch wenn er die Gesichter nicht vergaß. Diesen unauffälligen Mann mit dem geröteten Gesicht kannte er jedenfalls recht gut.
»Und wer hat sie gewirkt?«
»Das konnten wir noch nicht bestimmen.« Kestys sah sich Hilfe suchend um, doch niemand sprang ihm bei.
»Ich verstehe.« Dystran atmete langsam und tief durch. »Unterbrecht mich, falls ich mich irre: Unsere Protektoren sind auf Herendeneth stationiert, und das bedeutet, dass wir dort Macht haben und Informationen austauschen können, richtig? Gut. Wahrscheinlich habt Ihr bereits verfügt, dass die Al-Drechar zur Identität des geheimnisvollen Trägers der Einen Magie befragt werden?«
»Selbstverständlich, Mylord.« Kestys rutschte auf dem Stuhl hin und her, auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. »Allerdings ist dabei nichts herausgekommen.«
Dystran hob die Hände. »Auf dieser Insel haben unsere Leute es mit einem Drachen ohne Feuer, einer Frau und einem Kind, einem halben Dutzend Elfendienern und zwei alten Magierinnen zu tun. Wie ist es möglich, dass dort nichts herauskommt?«
»Die Al-Drechar besitzen immer noch eine beachtliche Macht.«
Dystran lächelte humorlos. »In der Tat. Außerdem sind sie sehr, sehr alt, sie liegen im Sterben. Sie haben sich verausgabt, als sie das Nachtkind vor seiner eigenen Macht beschützten, und davon haben sie sich nicht wieder erholt. Zwei von ihnen sind sogar gestorben. Setzt sie weiter unter Druck. Wenn sie sich weigern, bedroht jemand anders. Beispielsweise das Kind … oder gibt es dort etwa unbekannte Gefahren, die fünf xeteskianische Magier in Angst und Schrecken versetzen könnten?«
»Mylord.«
Hinter ihm wurde eine Tür geöffnet. Dystran drehte sich um und sah Ranyl hereinschlurfen. Der vom Krebs gezeichnete Greis stützte sich schwer auf zwei Stöcke, schlug aber immer noch die Hilfe der Magier aus, die ihn stützen wollten. Alle im Raum richteten die Aufmerksamkeit auf ihn, während er sich zum Stuhl neben Dystran schleppte und sich schwer darauf fallen ließ. Die Gehstöcke lehnte er an den Tisch. Man sah ihm an, dass er Schmerzen hatte, doch seine Augen verrieten auch seine ungebrochene Entschlossenheit.
Der Herr vom Berge schenkte ihm einen Becher kühles Wasser ein. Ranyl trank einen großen Schluck.
»Danke, Mylord.«
»Keine Ursache«, erwiderte Dystran. »Wenn Ihr bereit seid, wollen wir fortfahren.«
Ranyl lächelte. »Ich brauche keine bevorzugte Behandlung, Mylord. Ich bin da, und ich kann Euch folgen.«
Einige anwesende Magier kicherten; Ranyl genoss bei allen Magiern in Xetesk nach wie vor großes Ansehen, doch jetzt kam noch ein Faktor hinzu. Jeder Seniormagier im Kolleg wusste genau, dass Dystran Ranyls Wunsch, was seine Nachfolge im Kreis der Sieben anging, entsprechen würde.
»Dann wollen wir uns nicht länger aufhalten als unbedingt nötig und uns zunächst mit unseren Fortschritten bei der Untersuchung der Elfenschriften befassen. Trifft es zu, dass es einen Durchbruch gab?«
»Klein, aber sehr bedeutsam«, erwiderte Gylac, der leitende Archivar und der einzige Mann, der wirklich fähig war, die alten Elfenschriften zu entziffern. Wieder jemand, von dem Dystran fürchtete, er werde sterben, bevor die Arbeit vollendet war. »Ich habe in allen Textfragmenten, die wir aus Calaius bekommen haben, einen roten Faden entdeckt. Immer geht es darum, das gesamte Elfenvolk in einen Mantel der Magie zu hüllen, der sie bei den Werken schützt, die sie im Auftrag ihrer Götter zu vollbringen haben.«
»Ist das der Schlüssel zu ihrer Langlebigkeit?«
»Jedenfalls ist es eng damit verknüpft, Mylord«, erklärte Gylac. »Interessant finde ich die Tatsache, dass die Ausdrucksweise bei allen, zugegebenermaßen vagen Hinweisen auf den Elfenfluch stets sehr ähnlich war.«
»Ach, wirklich?«
Gylac wandte sich an Ranyl. »Lord Ranyl hat sich mit der Theorie dieses Themas viel ausführlicher befasst als ich. Ich konzentriere mich auf die Übersetzung.«
»Gylac ist zu bescheiden«, erwiderte Ranyl und neigte höflich den Kopf. »Es ist ein nicht zu unterschätzender Durchbruch. Wenn wir richtig liegen und die Wechselwirkung zwischen den Elfen und dem Mana aufdecken, dann sollten wir fähig sein, einen Spruch zu wirken, der den schützenden Mantel zerreißt. Ein künstlicher Elfenfluch, könnte man sagen. Die Mana-Konstruktion ist bereits zur Hälfte entwickelt, doch es gibt momentan noch zu viele Unbekannte, um sie zu vollenden.«
Dystrans Herz schlug schneller. Das war mehr, als er in diesem Augenblick erhofft hatte. »Wie lange noch?«
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte Ranyl. »Gylacs Gruppe arbeitet unermüdlich, doch einige Wendungen dieser Sprache sind derart fremdartig, dass sie sich einfach nicht übersetzen lassen. Ich schlage vor, wir verstärken unsere Bemühungen, ein oder zwei Elfen zu fangen, die uns helfen können.«
Dystran nickte. »Ich treffe mich bald mit unseren militärischen Kommandanten und werde dies mit ihnen besprechen. Vielen Dank. Ich danke Euch allen. Das sind gute Neuigkeiten, aber es ist noch nicht genug. Wir brauchen neue Waffen, weil wir sonst früher oder später diesen Krieg verlieren werden.« Er hielt inne. »Nun zu unseren Dimensionsexperimenten.«
»Sie sind abgeschlossen«, berichtete Ranyl. »Wir haben den vollen Kontakt zur Dämonendimension hergestellt. Die Informationen der Al-Drechar haben es uns erlaubt, die Karte des interdimensionalen Raumes neu zu zeichnen und die Annäherungspunkte der Dimensionen neu zu berechnen. Wenn es so weit ist, werden wir unsere Dimensionsmagie in vollem Umfang einsetzen können, solange der Kontakt anhält. Wir sind bereit, wir haben wieder die Kontrolle.«
Abermals lächelte Dystran. »Die Informationen über die Annäherung sollen an die Armee gegeben werden, damit wir dies in unsere Angriffspläne einbeziehen können. Wann wird der erste hilfreiche Zeitpunkt kommen?«
»In drei Tagen«, sagte Ranyl.
»Dann bestimmt dies unseren Zeitplan.« Dystran zielte mit dem Zeigefinger auf Kestys. »Ihr müsst Euch stärker ins Zeug legen. Deckt binnen drei Tagen die Identität des Magiers auf, der die Eine Magie gewirkt hat. Da wir wieder mit dem Rest des Dimensionsraumes in Verbindung stehen, können wir den verdammten Drachen nach Hause schicken. Vielleicht sollten wir ihm eine Abmachung vorschlagen. Eigentlich ist es mir aber auch egal. Wenn ich Euch beim Schlafen erwische, bevor diese Aufgabe erledigt ist, verfüttere ich Euch an die Dämonen.
Und nun beendet Eure Mahlzeit. Die Sitzung ist geschlossen.«
Riasu hatte tatsächlich sofort, nachdem er Devun eingelassen hatte, einen berittenen Boten ins Kernland der Wesmen geschickt. Zu Devuns Empörung hatte er dies dem neuen Anführer der Schwarzen Schwingen jedoch volle zwei Tage verschwiegen. Im Laufe dieser beiden Tage hatte Devun abwechselnd um sein Leben gefürchtet und das Potenzial zu erfassen gesucht, das Seliks Plan barg.
Riasu war kein besonders schwieriger Mensch, aber er war misstrauisch, und er beherrschte die im Osten Balaias gesprochene Sprache nur sehr unzureichend, wenngleich immer noch erheblich besser, als Devun sich in der Sprache der Wesmen-Stämme verständlich machen konnte. Sein Misstrauen war gut begründet und erklärte seine anfängliche Feindseligkeit.
Die Teufel aus dem Osten hatten ihn schon einmal hereingelegt, und das durfte kein zweites Mal passieren. Vor sechs Jahren hatten ein Magier und seine Armee aus wandelnden Toten mit ihren leeren Gesichtern den Wesmen ihre Hilfe dabei angeboten, alle Kollegien außer dem xeteskianischen zu zerstören. Er war, wie alle Männer aus dem Osten, ein Lügner gewesen. Viele tapfere Wesmen-Krieger waren seinetwegen zu den Geistern gegangen.
Nach vielen umständlichen Fragen hatte Devun herausgefunden, dass es sich bei diesem Magier um Styliann gehandelt hatte, den ehemaligen Herrn vom Berge in Xetesk, der von einem Drachen aus einer fremden Dimension getötet worden war.
Dennoch schöpfte Devun ein wenig Hoffnung. Riasu hatte mit großer Freude vernommen, dass Styliann schon lange tot war. Dennoch hatte Devun zwei volle Tage lang seine ganze Überredungskunst aufbieten müssen, bis Riasu bereit war, ihn erstens nicht zu töten und ihn zweitens zu Tessaya zu bringen.
Nun kam endlich Bewegung in die Sache. Devun und seine paar Männer ritten unbewaffnet und von der zehnfachen Zahl Wesmen-Krieger begleitet. Außer Riasu besaß keiner ihrer Gastgeber ein Pferd, doch es schien ihnen nichts auszumachen, sich stundenlang im Dauerlauf zu bewegen, was Devun wider Willen beeindruckte.
Ein seltsames Funkeln war in Riasus Augen getreten, als er durchblicken ließ, dass Tessaya bereits unterrichtet war und einen Treffpunkt festgesetzt hatte. Devun hatte kräftig mit den Zähnen geknirscht und alle Erinnerungen an Furcht und Unsicherheit in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verbannt. Jetzt kam es nur noch darauf an, dass sie rasche Fortschritte machten. Sollte Riasu sich doch an seinem kleinen Sieg weiden. Allerdings war Devun völlig bewusst, dass Riasu nur ein kleines Hindernis darstellte. Tessaya war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt.
Sie reisten durch eine beeindruckende, wenngleich öde Landschaft. Mächtige Abhänge voller Schieferplatten und Felsen zogen sich nach Norden, während vor ihnen eine Reihe mit Buschwerk bedeckter Hügel für Mann und Reiter schwieriges Fortkommen verhießen.
»Sagt mir, Riasu, hat auch Euer Volk unter den schlimmen Stürmen gelitten?«, fragte Devun. Er sprach bewusst einfach und ließ das Nachtkind und dessen Zerstörungen unerwähnt.
Riasu, der neben ihm ritt, wandte sich mit hartem Gesicht an ihn. Das dunkle, störrische Haar, das sein grobes, faltiges Gesicht einrahmte, war grau durchsetzt. Seine Lippen waren schmal, und seine große Nase sah aus, als hätte er sie in den letzten Jahren zu oft in den Weinkelch gesteckt. Die Augen lagen unter buschigen Brauen tief in den Höhlen.
»Die Krieger sind kampflos gestorben«, sagte er. »Kinderbäuche sind angeschwollen, obwohl kein Essen darin war. Alte ermatteten vor der Zeit und gingen zu den Geistern. Wir leiden heute noch unter den Folgen, doch nichts kann die Wesmen brechen.«
»Ich zeige den Wesmen, wo ihr Feind steht«, versprach Devun.
Er hielt inne und widerstand dem Drang, schnell zu sprechen. Die Unterhaltungen verliefen meist quälend langsam.
»Das sagtet Ihr schon.« Riasu zuckte mit den Achseln.
»Glaubt Ihr mir nicht?«
»Ich glaube Euch, dass Ihr die Magie hasst«, erwiderte Riasu. »Aber könnt Ihr uns die Feinde ausliefern? Sie werden sich hinter ihren Mauern verstecken und ihre bösen Sprüche wirken. Sind sie wirklich am Ende, oder lügt Ihr wie alle von Eurem Volk? Lord Tessaya wird entscheiden.«
Riasu hatte es immer noch nicht richtig verstanden. Fast schien es, als erwartete Riasu, die Schwarzen Schwingen würden die Magier in Ketten aus Xetesk abführen. Devun hatte nicht einmal versucht, den komplizierten Krieg, in den die Kollegien verwickelt waren, in allen Einzelheiten zu beschreiben, und er hatte auch die Unterstützung durch die balaianische Bevölkerung nicht erwähnt. Es wäre sinnlos gewesen. Glücklicherweise war der Mann, zu dem er gebracht wurde, weitaus klüger.
Lord Tessaya war seit drei Jahrhunderten der erste Anführer der Wesmen, dem es gelungen war, die Stämme zu einen. Zuerst war es unter dem Banner der Wytchlords geschehen, und Furcht ebenso wie Achtung hatte die Wesmen bewogen, sich einem gemeinsamen Ziel zu verschreiben. Beinahe hätten sie sogar Erfolg gehabt, und ihr Scheitern war allein dem gemeinsamen Bemühen aller Kollegien, ihrer Magie und dem außerordentlichen Einschreiten des Raben zu verdanken.
Tessayas wahrer Einfluss hatte sich aber erst gezeigt, als er es geschafft hatte, auch nach der Niederlage die Einheit der Stämme zu erhalten. Er war immer noch der Anführer und verkörperte nach wie vor ihre größte Hoffnung auf einen Sieg. Und er war der einzige Mann im ganzen Volk der Wesmen, mit dem zu reden sich lohnte. Man durfte ihn nicht unterschätzen, und deshalb hatte Selik auch geplant, sich mit ihm zu verbünden.
Sie waren den ganzen Tag bis in den Abend gereist und hatten im öden, leeren Land eine recht große Strecke zurückgelegt. Endlos ging es hügelauf und hügelab, doch Devun war immer noch nicht zufrieden. Eine rasche überschlägige Schätzung der Entfernung zwischen dem Kernland der Wesmen und dem Understone-Pass ergab, dass sie mindestens noch drei Tage reiten mussten, ehe sie Tessaya treffen würden.
Mit einiger Überraschung sahen sie am späten Abend einen roten Schein hinter einem Hügel, der sich aus der Nähe als Lager entpuppte, das dem Geruch nach von einem Ring aus Dungfeuern umgeben und zusätzlich mit Kohlenpfannen beleuchtet war. Im Zentrum war ein Prunkzelt aufgeschlagen, ringsum stand an Lagerfeuern ein Dutzend kleinere Rundzelte in Gruppen von jeweils zweien oder dreien. Auf allen Zelten wehten Banner.
Als sie näher kamen, konnte Devun erkennen, dass die Banner identisch waren. Sie zeigten den Bärenkopf und die Krallen der Paleon-Stämme. Fünfzig Schritte vor dem beleuchteten Bereich hielt Riasu im Schatten an.
»Steigt ab«, sagte er. »Niemand darf sich Lord Tessaya auf einem erhöhten Sitz nähern.«
»Was?«, platzte Devun heraus. Riasu sah ihn schräg an und verlangte wortlos eine Erklärung. »Tessaya ist hier?« ergänzte Devun.
Irgendein Militärlager, das konnte er noch verstehen, aber dass der Anführer der Wesmen in der Zwischenzeit bereits hierher gereist war, das war undenkbar. Riasu nickte nur. Devun befahl seinen Männern abzusteigen, während seine Gedanken rasten. Er ging um sein Pferd herum.
»Warum ist er hier? Lebt er denn hier?«
»Nein«, antwortete Riasu, und wieder trat das Funkeln in seine Augen. »Er lebt im Kernland.«
»Aber er ist hier und will mit mir sprechen?«
Wieder ein Nicken. »Ja.«
»Aber wie kann er schon hier sein?« Devun deutete zum Lager. »Ich meine, wie schnell war Euer Reiter?«
»Der Reiter gab Befehl, das Lager zu bauen« sagte Riasu.
»Aber … ist Tessaya geflogen, oder wie hat er das sonst geschafft?«
»Pferd«, erklärte Riasu. Er lachte. »Ihr haltet uns für Wilde. Aber die unter uns, die vom Geist berührt wurden, sind den Göttern näher, als Ihr es je sein werdet.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Devun.
»Nein«, stimmte Riasu zu. »Ihr seid kein Wesmen-Krieger.«
Devun hätte zu gern gewusst, wie diese Kommunikation vor sich gegangen war. Ob ein Vogel schnell genug fliegen konnte? Vermutlich. Ihm war bekannt, dass die Wesmen Vögel einsetzten, doch die Entfernung war groß, und die Methode unzuverlässig. Im Übrigen war völlig klar, dass Riasu sich darin gefiel, das Rätsel vorerst noch nicht aufzulösen.
»Was geschieht jetzt?«, fragte er.
Riasu lächelte über seinen neuerlichen kleinen Triumph. »Eure Männer werden hier bei meinen Kriegern bleiben. Sie dürfen nicht tiefer in unser Land vordringen. Ihr kommt mit mir.«
»Sir?«, fragte Devuns Stellvertreter, der den Wortwechsel verfolgt hatte.
»Wir werden genau das tun, was er sagt. Bleibt ruhig und haltet euch zurück, dann wird euch nichts passieren. Lasst euch nicht provozieren.« Devun deutete auf die leeren Schwertgürtel; ihre Waffen hatten sie am Pass zurückgelassen. »Vergesst nicht, in welcher Lage ihr seid.«
»Ja, Sir.«
Devun wandte sich wieder an Riasu und zog den Mantel eng um sich. Auf einmal kam ihm der Abend empfindlich kalt vor.
»Dann führt mich zu ihm«, sagte er.
»Viel Glück«, wünschte ihm sein Stellvertreter.
»Wenn ich mich auf mein Glück verlassen muss, dann sitzen wir in der Patsche«, sagte Devun mit einem ironischen Lächeln. »Trotzdem danke für die Wünsche.«
Riasu führte ihn zum Lager. An jedem Feuer standen vier Krieger, an jedem Stammeszelt und jedem Feuer waren Männer und Frauen mit Kochen, Essen und dem Überprüfen der Waffen beschäftigt. Vor dem Prunkzelt waren einige Wachen postiert; Tessaya ging offenbar kein Risiko ein. Gleich hinter dem Ring der Feuer hielt Riasu ihn noch einmal auf.
»Wartet, ich muss um Erlaubnis bitten, ehe Ihr eintreten dürft.«
Devun sah ihm nach, wie er stolz und groß zum Zelt marschierte und den Wachen knapp zunickte, die ihm Platz machten und sich gleich wieder umdrehten, um Devun mit unverhohlener Verachtung anzustarren. Er starrte zurück, war sich aber seiner Verletzlichkeit sehr bewusst. Falls etwas schief ging, wäre er blitzschnell tot.
Während er wartete, umwehten ihn die Gerüche des Lagers. Holzrauch und bratendes Fleisch, würzige Kräuter und sogar ein Hauch von Wachs von den Zeltleinwänden. Es war ein sehr gut geordnetes Lager, doch er hatte es nicht anders erwartet. Lord Tessaya war ein beeindruckender Mann, und dies machte sich schon bemerkbar, ehe Devun ihm überhaupt begegnet war. Er war verunsichert wie damals, als er Selik vorgestellt worden war.
Riasu ließ nicht lange auf sich warten. Er kehrte rasch zur Grenze des Lagers zurück und winkte ihn herein.
»Kommt mit«, sagte er.
Devun schritt an den Wächtern vorbei, einer von ihnen murmelte etwas. Die Worte konnte er nicht verstehen, aber der Tonfall und die Bedeutung waren völlig klar. Er blieb stehen und sah dem Wesmen-Krieger, der einen Kopf kleiner war als er, in die Augen.
»Du kannst sagen, was du willst«, sagte er, obwohl es sinnlos war, »aber wir werden Verbündete sein. Eines Tages wirst du mich achten.«
»Devun!«, fauchte Riasu. Dann stieß er einen wütenden Wortschwall in der Sprache der Wesmen aus, und der Wächter zog sich einen Schritt zurück und nahm die Hand vom Schwertgriff. »Keine Spiele.«
Devun ging zu Riasu hinüber, und dann marschierten sie an der sechs Mann starken Wache vorbei zu Tessayas Zelt. Zwischen Zeltleinwänden ging es eine kurze Gasse hinunter, bis ein weiterer Wächter einen dunkelgrünen Vorhang mit Quasten und Goldborte zur Seite zog.
»Begegnet dem Lord Tessaya mit Respekt«, warnte Riasu ihn.
Devun lächelte, und seine Ängste nahmen wieder zu. »Ich würde nicht im Traum daran denken, diesen Rat zu missachten.«
Er betrat den großen Innenraum des Prunkzelts und betrachtete das Himmelbett an der hinteren Wand, den schönen, geschnitzten Tisch, die sechs Stühle zu seiner Rechten und die einfachen Webteppiche, die den Boden vollständig bedeckten. Und er betrachtete die drei niedrigen, dunkelroten Plüschsofas, die rings um einen rechteckigen Tisch arrangiert waren, auf dem ein Krug, zwei Metallbecher und ein Brett mit Fleisch und Brot standen.
Vor dem Tisch erwartete ihn Tessaya, ein breitschultriger Mann, der sein schulterlanges Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hatte. Das verwitterte Gesicht trug die Narben unzähliger Schlachten, doch die Augen strahlten vor Kraft. Er trug locker fallende graue Gewänder, die an der Hüfte von einem dreifarbigen geflochtenen Band gehalten wurden. Mit freundlichem und keineswegs feindseligem Gesicht kam er dem Besucher entgegen, ohne ihm jedoch die Hand zu schütteln.
»Hauptmann Devun von den berüchtigten Schwarzen Schwingen«, sagte er in der Sprache des Ostens, die er hervorragend beherrschte. »Eine Schande, dass weder Selik noch sein Vorgänger Travers so klug waren, sich an mich zu wenden. Ich beglückwünsche Euch zu Eurer Entscheidung. Kommt und esst mit mir, wir haben viel zu besprechen.«