Zwölftes Kapitel
Es war früh am Abend, und am Himmel zogen Wolken auf. Glückerweise sollte es eine dunkle Nacht werden. Der Unbekannte Krieger, Izack, Darrick und Baron Blackthorne saßen am Lagerfeuer. Letzterer hatte eine widerstrebende, aber willkommene Verstärkung für die Belagerungsarmee mitgebracht. Sein ohnehin schon strenges, dunkles Gesicht wirkte nach der erzwungenen Entscheidung noch düsterer als sonst.
Ringsum summte das Elfenlager vor Aktivität. Die Al-Arynaar bereiteten sich vor, die TaiGethen beteten, und einige Krallenjägerpaare hielten Wache, während andere Gefährten bereits bis Xetesk vorstießen und mögliche Zugänge erkundeten.
Auch die Rabenkrieger machten sich bereit, schnürten die Riemen ihrer Rüstungen und steckten schweigend die Schwerter in die Scheiden. Tuchstreifen wurden um Schnallen und Gurte gelegt, Waffengriffe festgebunden, Scheiden mit Polstern umwickelt, Kettenglieder gefettet und mit dunkler Farbe eingerieben.
»Es war noch nie leicht, sich auszurechnen, was Xetesk plant«, meinte Blackthorne, während er mit einer Hand seinen makellos getrimmten, grau durchwirkten Bart glättete.
»Das ist wahr, aber wir haben keine andere Möglichkeit als anzunehmen, dass ein erfolgreicher Überfall in dieser Nacht sie bewegen wird, schneller als geplant einen Ausbruchsversuch zu unternehmen«, sagte der Unbekannte.
»Wie weit mögen ihre Vorbereitungen gediehen sein?«, fragte Darrick.
»Unserer Ansicht nach können sie zuschlagen, wann immer sie wollen«, sagte Izack. »Die TaiGethen dringen seit zehn Tagen jede Nacht nach Xetesk ein. Sie haben gesehen, wie Soldaten und Magier einander reihum ablösen, und wie frische Einheiten in den Straßen üben. Sie haben berichtet, dass die Schmieden mit Hochdruck neue Waffen herstellen, die möglicherweise zum Angriff auf die Belagerer benutzt werden können, und Xetesk hortet Vorräte. Verdammt will ich sein, wenn ich wüsste, woher der Proviant kommt, aber irgendwie schaffen sie ihn hinein. Noch wichtiger ist, dass wir vor allem nach dem Versagen des julatsanischen Mana verstärkte Aktivitäten beobachtet haben.«
»Also nehmen wir an, dass sie die Belagerung durchbrechen werden, sobald wir mit den Schriften geflohen sind?«, fragte der Unbekannte.
»Ich bewundere Eure Zuversicht«, warf Blackthorne ein.
»Bisher haben wir uns noch nie geirrt«, erwiderte der Unbekannte.
»Ich glaube, Dystran wird sehr bald schon seine Truppen mobilisieren«, sagte Darrick. »Wir wissen, dass er zuerst Julatsa zerstören will. Dies zu verhindern, war ja der Hauptgrund, mit der Belagerung zu beginnen. Zweitens weiß er, dass die Elfen hier nicht weggehen werden, solange sie nicht ihre heiligen Schriften zurückgeholt haben. Drittens ist ihm bekannt, dass wir die Elfenmagier brauchen, um das Herz von Julatsa zu bergen. Deshalb hat er überhaupt nichts gegen eine ausgedehnte Belagerung. Wir werden ihn unter Zugzwang setzen, und er wird uns verfolgen, da bin ich ganz sicher. Sobald wir nach Julatsa eilen, wird er versuchen, uns zu schlagen, bevor wir eine Verteidigung aufgebaut haben. Das schafft er aber nicht, wenn er erst zwei Tage nach uns kommt. Falls die TaiGethen richtig liegen, haben wir aber vielleicht nur ein paar Stunden Vorsprung, wenn wir nach Norden gehen.«
»Dann bekommen die verbündeten Streitkräfte ein Problem.« Blackthorne streckte die Beine aus.
»Welches denn?«
»Wir sind unterschiedlicher Meinung, was die Positionen angeht, an denen wir Xetesks Angriff erwarten sollen.«
»Was gibt es denn da für Meinungsverschiedenheiten? Wir sind doch gut aufgestellt, oder nicht?« Darrick ließ die Schultern sinken. »Erklärt Euch.«
»Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass sich der Baron den lysternischen Kräften angeschlossen hat«, sagte Izack. »Wir debattieren jetzt seit Tagen mit dem dordovanischen Oberkommando, ohne ein Ergebnis zu erzielen. Es hängt alles davon ab, wo Xetesk durchbrechen will.«
»Vermutlich am Nordtor«, sagte der Unbekannte.
»Genau. Es wird, genau wie das Westtor, von den Dordovanern gedeckt. Bisher ist dort übrigens wenig passiert – keine Vorstöße zur Erkundung, keine Versuche, Späher nach draußen zu bringen. Die Dordovaner glauben, ihre Kräfte am Nordtor würden schwer dezimiert oder gar aufgerieben, wenn Xetesk nach Julatsa aufbrechen will, und in diesem Punkt kann man ihnen kaum widersprechen.«
»Was schlagen sie denn vor?«, fragte Darrick müde.
»Sie wollen die Belagerung aufheben und sich nördlich von Xetesk auf eine Schlacht vorbereiten. Dort sollen wir uns alle gemeinsam gegen sie stellen.«
Darrick schüttelte den Kopf. »Wann?«
»General?«, fragte Izack, der unwillkürlich wieder mit Darrick sprach, als sei er noch sein Vorgesetzter.
»Wann wollen sie die Lager abbrechen und ihre Kräfte auf dieses Schlachtfeld verlegen? Vielleicht würden mir sogar ein paar Stellen einfallen, an denen wir unsere möglicherweise – und ich sage ausdrücklich möglicherweise – überlegenen Kräfte vorteilhaft einsetzen können.«
Izack rutschte unbehaglich hin und her. »Sobald wir ihnen mitteilen, dass die Elfen hineingehen und mit dem Überfall beginnen.«
»Bei den brennenden Göttern, die sind noch dümmer, als ich dachte«, sagte Darrick.
»Am Nordtor könnten sie tatsächlich abgeschlachtet werden«, wandte Izack ein.
»Na und?«, fauchte Darrick. »Dies ist ein Krieg, und wenn man seine Ziele erreichen will, muss man manchmal etwas opfern. Wir dürfen nicht riskieren, dass Julatsa untergeht. Wenn wir Julatsa verlieren, ist das Gleichgewicht endgültig zerstört. Begreifen sie das denn nicht?«
»Sie sehen nur, dass sie an vorderster Front stehen«, sagte Blackthorne. »Sie sind auch nur Menschen.«
»Im Krieg ist niemand einfach nur ein Mensch«, widersprach Darrick. »Jeder kann größer sein, als er es sich je erträumte, oder er kann zum passiven Opfer des Konflikts werden.« Er legte dem Unbekannten eine Hand auf den Arm. »Du verstehst das.«
»Und ob«, erwiderte der Unbekannte. »Allerdings haben wir es hier nicht mit erfahrenen Berufssoldaten zu tun, sondern mit blutigen Anfängern.«
»Das ist mir klar.«
»Wirklich, Darrick?« Der Unbekannte zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube nicht, dass du es verstehst. Den meisten Männern da draußen wurden die Spaten, Harken und Besen weggenommen, und man hat ihnen dafür Schwerter in die Hand gedrückt. Sie sind keine Soldaten. Sie werden kämpfen, aber sie werden sich fürchten. Sie sind nicht wie wir. Wir sind für den Kampf geboren. Diese Männer werden morgen wieder dein Brot backen. Siehst du das nicht?«
»Ich sehe, dass sie ihre Freiheit verteidigen.«
»Ihr müsst begreifen, dass sie es mit anderen Augen betrachten als Ihr«, wandte Blackthorne ein. »Ihr könnt über sie urteilen, wie Ihr wollt, aber einer von zwei Männern, die es da draußen am Nordtor mit Höllenfeuer und Protektoren zu tun bekommen, war vor einer Jahreszeit noch kein Soldat.«
Darrick schwieg eine Weile. Unter den Strähnen und Locken legte er das Gesicht in Falten und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es war klar, dass er mit sich rang.
»Das ändert nichts«, sagte er schließlich. »Sie haben eine Aufgabe zu erfüllen, und diese Aufgabe ist, Xetesk so lange wie möglich daran zu hindern, eine Armee nach Norden zu schicken. Lasst mich noch zwei Dinge erwähnen, bevor Ihr mir widersprecht. Zuerst einmal denke ich nicht, dass die dordovanischen Kommandanten ernstlich glauben, sie könnten ihre Bäckerjungen auf freiem Feld in einer Schlachtreihe von einer Meile Länge besser einsetzen als hier – ob mit oder ohne Unterstützung aus Lystern. Zweitens tun sie in dem Moment, da sie sich von den Mauern zurückziehen, Xetesk gegenüber ihre Absichten laut und deutlich kund. Sie überlassen dem Dunklen Kolleg die Initiative und verurteilen alle, die gerade drinnen sind, zum Tode – wir wollen uns da nichts vormachen. Dystran ist klug und hat gute Berater. Sobald er weiß, was wir vorhaben, ist es mit der Heimlichkeit vorbei. Vergesst auch nicht, dass der Druck an zwei Toren abnimmt, wenn die Soldaten sich zurückziehen. Das erlaubt es Xetesk, die Besatzung an den anderen Toren zu verstärken, was ihnen vermutlich im Osten und Süden den Sieg bescheren und damit unsere Kräfte weiter schwächen wird.«
»Angenommen, wir ziehen uns nicht mit ihnen zurück«, sagte Blackthorne.
Darrick stand auf und schritt unruhig hin und her, ohne ihm zu antworten.
»Was denken die sich eigentlich? Die einzige Möglichkeit ist, Dystran zu zwingen, seine Kräfte aufzusplittern. Die Folgen einer Niederlage auf offenem Feld wären erschreckend. Er hätte auf dem Weg nach Julatsa keinen Gegner mehr vor sich, und das wäre erst der Anfang.«
»Sie denken zuerst an ihr eigenes Wohl«, sagte Blackthorne leise.
»Indem sie die am leichtesten zu haltenden Stellungen aufgeben? Indem sie den Zusammenhalt der Belagerung zerstören? Sie geraten in Panik. Wenn ich in Lystern etwas zu sagen hätte, dann würde ich mich ihnen stellen, ob wir nun in der Unterzahl sind oder nicht.«
»Aber wir sind nicht Lystern«, sagte Blackthorne, »und das ist der springende Punkt.«
»Ich sollte mit ihnen reden«, sagte Darrick. »Sie müssen das doch einsehen.«
»Setz dich, Ry«, sagte der Unbekannte. »Vergiss nicht, dass ein Todesurteil gegen dich verhängt wurde.«
Darrick hielt inne. »Aber sie müssen doch …«
»Nein«, sagte der Unbekannte. »Du bist nicht der Mann, der jetzt verhandeln kann. Du gehörst zum Raben. Setz dich.«
Darrick setzte sich widerstrebend. Er war nicht daran gewöhnt, Befehle zu befolgen, wollte aber auch nicht so weit gehen, die Autorität des Unbekannten infrage zu stellen.
»Wir haben genau die gleichen Argumente vorgetragen«, erklärte Izack. »Die Dordovaner sehen jedoch nur, dass ihre Kräfte am Nordtor überrannt werden könnten, und dass Xetesk danach freie Bahn nach Norden hätte.«
»Was kann man tun?«, fragte Blackthorne. »Es ist keine rein militärische Entscheidung mehr. Es geht hier auch um Politik und die relative Stärke der noch existierenden Streitkräfte der Kollegien. Kein Kolleg will riskieren, in Zukunft vor den eigenen Toren angegriffen zu werden. So weit sollte es sowieso nicht kommen.«
»Ich weiß, ich weiß.« Darrick machte eine resignierte Geste. »Wisst Ihr noch, wie wir alle gemeinsam gegen die Wesmen gekämpft haben? Das sollte das Vorbild sein, zumal wir alle überlebt haben.«
Er dachte angestrengt nach, und die anderen sahen ihm schweigend zu. Es dauerte nicht lange, bis er seine Entscheidung getroffen hatte.
»Eigentlich können wir nur versuchen, die Dordovaner zu beruhigen. Keinesfalls darf Xetesk erfahren, dass wir mit einem Ausbruchsversuch rechnen, aber mit einer Neuformation der Truppen im Norden würden wir es ihnen verraten, und dann werden sie keinen Zweifel mehr haben. Sie werden angreifen und hoffen, es an Ort und Stelle ein für alle Mal zu erledigen. So könnten sie auf einen Streich den Krieg entscheiden. Ich schlage Folgendes vor. Es ist ein Risiko, das einzugehen sich jedoch lohnt. Wir ziehen alle Reserven im Süden und Osten ab und verlegen sie nach Norden, bis hier nur noch ein kleiner Rest von lysternischen Truppen kämpft, der von Baron Blackthornes Männern und den Al-Arynaar unterstützt wird, nachdem sie einen Tag ausruhen konnten. Das können wir leise und im Schutze der Nacht erledigen. Izack, Ihr wisst, wie man so etwas anpackt, deshalb will ich Euch keinen Vortrag halten. Baron, ich glaube, es liegt nun bei Euch, mit den dordovanischen Kommandanten zu reden und Euren Standpunkt zu vertreten. Sie respektieren Euch, und was noch wichtiger ist, wenn Ihr ihnen eine Vorstellung von den Zahlenverhältnissen geben könnt, dann könnt Ihr ihnen damit auch zeigen, dass Lystern und Dordover gemeinsam Xetesk besiegen können. Ihr müsste es ihnen so beschreiben, dass sie es glauben.«
Blackthorne lächelte. »Ich kann sehr überzeugend sein.«
»Wir alle zählen auf Euch«, sagte Darrick. »Unterdessen, je eher wir nach Xetesk hinein- und wieder herauskommen, desto besser stehen unsere Chancen. Ich schlage vor, dass wir keine Zeit verschwenden.«
»Die TaiGethen werden dir sicherlich beipflichten. Also gut, sind wir fertig und bereit?« Der Unbekannte sah sich am Feuer um, und alle nickten. »Baron, Izack, Ihr tut, was Ihr könnt. Darrick, wir brechen auf.«
Die vier erhoben sich und gaben sich die Hände, um sich gegenseitig Glück und Kraft zu wünschen. Der Unbekannte kehrte zu den übrigen Rabenkriegern zurück, die am Rand des Feuerscheins saßen. Alle hatten aufmerksam zugesehen und zugehört.
Hirad stand sofort auf und legte den Schwertgurt an. Das Reden und Ausruhen und der frustrierende Anblick der Schlacht am Tage, all das war jetzt vorbei.
»Jetzt sind wir am Zug«, sagte er.
Der Unbekannte nickte. Den ganzen Tag über hatte er sich gefühlt wie ein Tier im Käfig. Er wollte so schnell wie möglich zu den Mauern hinüber, doch er musste den richtigen Augenblick abwarten, wenn er seine Familie schützen wollte, die sich hunderte Meilen entfernt auf der anderen Seite des Südmeeres auf einer Insel befand.
»Ich hoffe, jedem ist klar, was er zu tun hat«, sagte er.
»Allerdings«, antwortete Denser. »Doch so gut unser Plan auch ist, ich kann nicht oft genug betonen, wie gefährlich es im Kolleg ist. Dystran ist kein Dummkopf. Die Protektoren mögen alle draußen sein, aber er dürfte immer noch über eine beachtliche Verteidigung verfügen.«
Die Gruppe versammelte sich, als die Abenddämmerung in die Nacht überging. Die TaiGethen hatten ausgeruht und den ganzen Tag gebetet. Vier Zellen der Elitekrieger wollten mitkommen, außerdem Rebraal und sechs Magier der Al-Arynaar, die den Überfall mit Schilden und Offensivsprüchen unterstützen sollten. Krallenjägerpaare näherten sich bereits der Stadt, um die Stärke der Besatzung auf den Wällen zu erkunden. Sie nutzten die dunklen Wolken als Deckung, die den Himmel verfinstert hatten. Sie würden die Elfenkrieger zu den Stellen leiten, an denen sie die Wände erklimmen konnten, und sie würden, wenn nötig, für Ablenkung sorgen.
»Noch etwas«, sagte Denser, »auch wenn ich bei den TaiGethen auf taube Ohren stoßen werde. Wir haben nicht die Absicht, Xetesk und seine Magier zu vernichten. Wir brauchen sie in der Zukunft, damit das Gleichgewicht weiter existiert.«
»Ich gehe da nicht rein, um ohnmächtig mit den Fäusten herumzufuchteln«, sagte Hirad.
»Davon redet auch niemand«, sagte Denser. »Ich werde niemanden verschonen, der unser Leben bedroht. Ich bitte nur darum, dass wir nicht blindlings um uns schlagen. Xetesk ist immer noch mein Kolleg.«
»Ein Kolleg, das dich im Handumdrehen umbringen würde«, sagte der unbekannte Krieger. »Sie würden uns alle auf der Stelle umbringen.« Sein Gesicht war grimmig im Feuerschein. Erwarte keine Nachsicht von mir.«
Der große Mann überprüfte noch einmal die Schneide seines großen Schwerts und seine Dolche und ging langsam zu Thraun und Erienne, während er die Waffen wieder in die Scheiden steckte. »Erienne? Du bist so still. Sag mir, was los ist.«
»Ich fürchte mich«, sagte sie, und ihre Augen bestätigten es.
»Das kann ich verstehen. Immerhin werden wir ins Dunkle Kolleg eindringen.«
»Nein, das ist es nicht … nun ja, teilweise schon, aber das ist eine Angst, mit der ich leben kann. Ich fürchte das, was in mir ist. Tag für Tag muss ich kämpfen, damit es mich nicht überwältigt, und das ermüdet mich. Es frisst mich auf. Eines Tages könnten meine Kräfte versagen.«
»Aber die Al-Drechar helfen dir doch, oder?«
»Ohne sie würde mich die Kraft überfluten«, gab Erienne zu. »Doch sie sind geschwächt. Nur immer eine kann mir helfen, diese Kraft abzublocken, während die andere ausruht. Was, wenn eine von ihnen stirbt? Oder beide?« Sie schauderte.
Der Unbekannte runzelte die Stirn. »Wird es denn nicht mit der Zeit leichter?«
»Es fällt mir immer schwerer, das zu glauben«, erwiderte Erienne. »Im Moment ist die Eine Magie eine kaum zu bändigende Kraft in einem schlecht ausgebildeten Geist und Körper. Ich muss noch so viel lernen. Dordover hat das Eine viel zu früh in meiner Tochter geweckt, und möglicherweise müssen wir alle den Preis für diese Dummheit bezahlen. Wenn die Al-Drechar mich nicht lehren können, wie ich das Eine allein im Zaum halte, bevor sie sterben, dann müssen wir die Konsequenzen fürchten.«
»Solltest du dann nicht bei ihnen sein? Bei den Al-Drechar?«
Erienne lächelte leicht. »Damit wäre ich weit entfernt von den einzigen Menschen, die meinen Glauben nähren, dass eines Tages alles überstanden sein wird. Hör zu, Unbekannter, die Al-Drechar tun alles, was sie können, bevor ich einschlafe und bevor ich aufwache, und sie sprechen im Traum zu mir. Das reicht, es muss einfach reichen. Außerdem arbeitet der Rabe immer vereint.«
»Das ist Musik in meinen Ohren«, sagte Hirad auf der anderen Seite des Feuers. »Ich bin froh, dass mal jemand auf mich hört.«
»Was bleibt uns übrig?«, sagte Denser. »Mit deiner Stimme könntest du Löcher in Felsen bohren.«
Erienne legte dem Unbekannten eine Hand auf den Arm.
»Schon gut«, sagte sie. »Ich kann das Eine unterdrücken und dordovanische Sprüche wirken. Ich verrate uns nicht.«
»Daran habe ich nicht im Traum gedacht«, beruhigte sie der Unbekannte.
»Sie beobachten«, unterbrach Thraun. »Sie wissen, dass wir kommen.«
»Mit den Elfen rechnen sie, mit dem Raben nicht«, sagte Hirad.
»Nein«, knurrte Thraun. »Vorsicht.«
Am Rand des Lagers warteten die TaiGethen auf sie. Zwei Gestalten traten in den Feuerschein.
»Seid ihr bereit?«, fragte Rebraal. »Wir müssen so bald wie möglich aufbrechen. Im Süden reißt die Wolkendecke wieder auf.«
»Müsst ihr wirklich mitkommen?« Auum hatte am Tag mehrfach betont, dass der Rabe seiner Ansicht nach nicht gebraucht werde. Trotz seiner widerwilligen Achtung für die Rabenkrieger war er nicht von seinem Standpunkt abgerückt, sie seien nur eine Last, besonders, wenn es darum ging, über die Mauern zu klettern.
»Ja«, bekräftigte der Unbekannte. »Mit uns seid ihr stärker.«
»Außerdem haben auch wir da drinnen etwas zu erledigen«, ergänzte Hirad.
Denser kicherte. »Ein paar Kleinigkeiten, mehr nicht.«
Darrick räusperte sich. »Ich finde das überhaupt nicht witzig.«
»Da wäre Ilkar anderer Ansicht gewesen«, sagte Hirad.
»Gut möglich.« Darrick lächelte etwas verlegen.
»Der Rabe, los jetzt, es wird Zeit«, mahnte der Unbekannte.
Die Rabenkrieger gesellten sich zu den Elfen, Hirad blieb unterwegs noch einmal vor Blackthorne stehen.
»Schön, dass Ihr mal vorbeigeschaut habt, Baron.«
»Dieser Konflikt bedroht uns alle, Hirad«, sagte er. Seine Augen lagen unter den Brauen in tiefem Schatten. »Neutralität führt in diesem Fall zu nichts. Jetzt nicht mehr. Wer stark genug ist, muss kämpfen, damit Xetesk nicht die Vorherrschaft erringt.«
»Vergesst nicht, dass es mehr als eine Partei gibt, die gegen Xetesk kämpft«, sagte Hirad.
»Falls Ihr auf das beachtliche Lösegeld anspielt, das auf Euren Kopf ausgesetzt ist, so werde ich standhaft bleiben und verzichten.«
Die beiden alten Freunde umarmten sich.
»Alles Gute«, sagte Hirad.
»Seid vorsichtig«, antwortete Blackthorne.
»Hirad, los jetzt«, rief der Unbekannte aus der Dunkelheit herüber.
»Die Pflicht ruft.«
Hirad verließ im Laufschritt das Lager. Vor ihm hatten sich die TaiGethen bereits in Zellen von jeweils drei Kriegern aufgeteilt. Alle bis auf Auums Zelle verschwanden geräuschlos und blitzschnell in der Nacht. Wider Willen war Hirad von ihrer Anmut und Geschwindigkeit beeindruckt. Als er sich wieder zu Auum, Duele und Evunn umdrehte, sah er ihre Augen und erkannte, warum sie so außergewöhnlich waren und selbst unter herausragenden Elfenkriegern wie Rebraal eine bevorzugte Stellung einnahmen.
Ihre schwarz und grün bemalten Gesichter drückten Überzeugung, Kraft und ein unerschütterliches Selbstvertrauen aus. Ihr Glaube an ihre Götter und ihre eigenen Fähigkeiten schlossen jeden Gedanken an ein Scheitern von vornherein aus. Heute Abend waren auch die Al-Arynaar und die Rabenkrieger auf ähnliche Weise maskiert, denn sie alle hatten helle Hautpartien mit dunkler Farbe verdeckt. Doch damit waren die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft.
»Sind Eure Waffen gesichert?«, fragte Auum mit starkem Akzent. Er beherrschte die Sprache Balaias nicht besonders gut.
»Nichts wird klappern«, beruhigte Hirad ihn. »Wir werden so leise sein wie ihr.«
Auum lächelte leicht. »Tut, was wir tun. Kein Wort mehr, bis wir in der Stadt sind.«
Damit drehte er sich um und entfernte sich in leichtfüßigem Laufschritt. Duele und Evunn folgten ihm wie Schatten, etwas langsamer setzte sich auch der Rabe in Bewegung.